Titel:
Zur Abgrenzung von Instandsetzungsarbeiten zu einer Neuerrichtung bei einem in einfacher Bauweise errichteten Gebäude in Bezug auf eine verfügte Baueinstellung
Normenketten:
BauGB § 35
BayBO Art. 75 Abs. 1 S. 1
Leitsatz:
Gerade bei kleineren und in einfacher Bauweise ausgeführten baulichen Anlagen wie dem streitgegenständlichen Gebäude macht der Dachstuhl einen ganz wesentlichen und für die Statik bedeutsamen Gebäudeteil aus, sodass die streitgegenständlich vorgenommenen Umbauarbeiten, insbesondere das vollständige Abtragen des Dachstuhls und dessen Neuerrichtung unter Drehung der Firstrichtung bei der wirtschaftlichen Betrachtung des Vorhabens besonders ins Gewicht fällt (hier: ob es sich bei der Maßnahme – zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer völligen Baueinstellung nach Art. 75 BayBO – lediglich um Instandsetzungsarbeiten oder eine Neuerrichtung handelt). (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Baueinstellung, Aufstockung eines kleineren Nebengebäudes im Außenbereich, Instandsetzung, Neuerrichtung, Gebäude, einfache Bauweise, völlige Baueinstellung, Dachstuhl, Umbau, Umbauarbeiten, wirtschaftliche Betrachtung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 04.04.2022 – 1 ZB 21.3216
Fundstelle:
BeckRS 2021, 51194
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Kläger wenden sich mit dem vorliegenden Klageverfahren gegen eine Baueinstellungsverfügung betreffend Umbauarbeiten an einem kleineren Nebengebäude auf dem in ihrem Eigentum stehenden Grundstück Fl.Nr. ...3 der Gemarkung … (V.grundstück).
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Im Rahmen einer Baukontrolle am 17. Oktober 2017 wurde u.a. festgestellt, dass die Wände des Nebengebäudes nach vollständiger Entfernung des Dachstuhls aufgemauert und ein neues Pultdach errichtet worden sei. Wegen der Einzelheiten wird auf den Baukontrollbericht und die in den Akten befindlichen Lichtbilder Bezug genommen.
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Mit Bescheid vom 20. Oktober 2017 ordnete das Landratsamt S. (im Folgenden: Landratsamt) unter Androhung eines Zwangsgeldes die sofortige Einstellung sämtlicher Arbeiten an dem Nebengebäude an. Zur Begründung des auf Art. 75 BayBO gestützten Bescheids wurde im Wesentlichen ausgeführt, das Nebengebäude sei formell und materiell illegal. Eine nachträgliche Baugenehmigung könne nicht in Aussicht gestellt werden, da das Gebäude im Außenbereich liege und als sonstiges Vorhaben in mehrfacher Hinsicht öffentliche Belange beeinträchtige. Das Vorhaben widerspreche den Festsetzungen des Flächennutzungsplans sowie der Landschaftsschutzverordnung „… … … … … …“ und lasse die Verfestigung bzw. Erweiterung einer Splittersiedlung befürchten. Der Bescheid wurde den Klägern am 24. Oktober 2017 zugestellt.
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Gegen diesen Bescheid haben die Kläger am 14. November 2017 Klage erhoben.
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Die Erteilung einer von den Klägern beantragten nachträglichen Baugenehmigung für die Aufstockung des Nebengebäudes lehnte das Landratsamt mit Bescheid vom 13. August 2019 ab. Wegen der weiteren Einzelheiten wird diesbezüglich auf das Klageverfahren M 11 K 19.4631 und hinsichtlich einer weiter verfügten Baubeseitigungsanordnung vom 17. September 2019 auf das Klageverfahren M 11 K 19.4908 Bezug genommen.
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den Baueinstellungsbescheid vom 20. Oktober 2017 aufzuheben.
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Zur Begründung ließen die Kläger mit Schriftsatz ihrer damalige Prozessbevollmächtigten vom 7. Januar 2020 vortragen, dass es sich um bloße Instandhaltungsmaßnahmen am Dachstuhl gehandelt habe. Die an dem Gebäude verwendeten Baumaterialien hätten aufgrund der wetter- und windbedingten Korrosion sowie den Baustandards zum Zeitpunkt der Errichtung nicht mehr den aktuellen bausicherheitstechnischen Anforderungen entsprochen, auch sei die Bausubstanz nicht mehr vollständig intakt gewesen. Weiter wurde auf einen Bestandsschutz des Gebäudes verwiesen, der dazu berechtige, die zur Erhaltung und zeitgemäßen Nutzung der baulichen Anlage notwendigen Maßnahmen durchzuführen. Sofern daher die Identität der baulichen Anlage erhalten bleibe, seien die durchgeführten baulichen Maßnahmen vom Bestandsschutz gedeckt und unterlägen nicht der Baugenehmigungspflicht. Die lediglich vereinzelten Aufmauerungen seien notwendige Basisarbeiten für die Instandsetzung und Modernisierung des Nebengebäudes gewesen. Zwangsläufig sei mit diesen Instandsetzungsmaßnahmen auch eine Erhöhung der Nutzbarkeit der bereits seit jeher umbauten Fläche einhergegangen. Der erbrachte Aufwand sei jedoch zu keinem Zeitpunkt gleichwertig mit dem Aufwand für einen Neubau an gleicher Stelle und einem vollständigen Austausch der Bausubstanz gewesen, sodass die Identität der baulichen Anlage erhalten geblieben sei. Jedenfalls sei die Baueinstellung ermessensfehlerhaft erfolgt, da sämtliche Bauarbeiten an dem Nebengebäude eingestellt worden seien. Bei dem Anwesen handle es sich um den Betriebsstandort einer Hundeschule, wobei auch das Nebengebäude vor der Baueinstellungsverfügung maßgeblich für den Betrieb der Hundeschule genutzt worden sei. Für den Betrieb der Hundeschule notwendige Baumaßnahmen, wie die Erneuerung der Wasserinstallationsanlage, könnten aufgrund der Einstellungsverfügung nicht mehr durchgeführt werden, obwohl damit keine Veränderung der optischen Gestalt des Gebäudes einhergehe. Verunreinigung des Wassers könnten nicht ausgeschlossen werden. Auch vom Austausch von Fenstern und Türen gehe keine nennenswerte Veränderung oder Verfestigung des Gebäudebestands aus. Schließlich hätten bauliche Sicherungsvorrichtungen von der Einstellungsverfügung ausgenommen werden müssen, um eine Gefährdung von Mensch und Tier durch leicht zugängliche Bauteile auszuschließen.
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Der Beklagte beantragt,
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Hierzu wurde mit Schriftsatz vom 6. Februar 2020 insbesondere ausgeführt, dass es sich bei der vollständigen Entfernung und Neuerrichtung eines um 180° gedrehten Pultdachs nicht mehr nur um eine bloße Instandhaltungsmaßnahme handle. Die Konstruktion und die äußere Gestalt des Gebäudes seien durch das gedrehte Dach wesentlich verändert, ebenso seien die Außenmauern in nicht unwesentlicher Weise geändert und damit auch ein erheblicher Eingriff in die Statik erfolgt, der das gesamte Gebäude berühre und eine statische Neuberechnung erforderlich mache. Das zuvor vorhandene Nebengebäude sei damit in städtebaulich relevanter Weise derart verändert worden, dass es seine ursprüngliche Identität verloren habe. Das Vorhaben sei baugenehmigungspflichtig und nicht mehr vom Bestandsschutz gedeckt. Unter die unerlässlichen Baustellensicherungsarbeiten - welche trotz der Baueinstellung zulässig seien - würden solche Arbeiten fallen, die zur Erhaltung der bereits geschaffenen Substanz erforderlich seien. Die Kläger hätten zu keiner Zeit gegenüber dem Beklagten geltend gemacht, dass derartige Sicherungsmaßnahmen notwendig seien. Eine Nutzung als Hundeschule sei dem Landratsamt bisher nicht bekannt und könne im Rahmen des Verfahrens im Übrigen dahingestellt bleiben.
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Die Kammer hat am 16. September 2021 Beweis über die örtlichen Verhältnisse durch Einnahme eines Augenscheins erhoben und anschließend die mündliche Verhandlung durchgeführt. Wegen der beim Augenschein getroffenen Feststellungen und des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf die Augenscheins- und Sitzungsniederschrift verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegten Behördenakten in diesem Verfahren sowie in den Verfahren M 11 K 19.4631 und M 11 K 19.4908 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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I. Die zulässige Klage ist unbegründet.
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Die angefochtene Baueinstellung vom 20. Oktober 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Nach Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde die Einstellung der Arbeiten anordnen, wenn Anlagen im Widerspruch zu öffentlichrechtlichen Vorschriften errichtet, geändert oder beseitigt werden. Nach allgemeiner Auffassung ist für eine solche Verfügung die formelle Rechtswidrigkeit ausreichend; auf die Frage der materiellen Genehmigungsfähigkeit der beanstandeten Maßnahmen kommt es nicht an (vgl. BayVGH, B.v. 10.4.2017 - 15 ZB 16.672 - juris Rn. 8 f. m.w.N.). Dabei kann die Einstellung von Arbeiten bereits dann angeordnet werden, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Arbeiten gegen die einschlägigen Vorschriften verstoßen (BayVGH, a.a.O, Rn. 10). Ein Verstoß gegen formelles (oder materielles) Baurecht muss nicht verwirklicht sein; vielmehr reichen schon objektive, konkrete Anhaltspunkte dafür aus, dass ein solcher Zustand geschaffen werden kann (BayVGH, B.v. 5.10.2006 - 14 ZB 06.1133 - juris Rn. 2).
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Dies zugrunde gelegt ist die verfügte Baueinstellung nicht zu beanstanden.
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Zunächst lassen sich die durchgeführten, umfangreichen Arbeiten entgegen der Auffassung der Klägerseite nicht mehr als reine Instandhaltungsmaßnahmen qualifizieren. Unter den Begriff der „Instandhaltung“ fallen generell nur die Maßnahmen, die dazu dienen, die Gebrauchsfähigkeit und den Wert von Anlagen unter Belassung von Konstruktion und äußerer Gestalt zu erhalten (vgl. Gesetzesbegründung zur BayBO 1994, LT-Drucksache Nr. 12/13482, S. 39). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kommt es dabei maßgeblich auf die Art und den Umfang einer Baumaßnahme an. Demnach kann eine Anlage ihre Identität nicht nur dann verlieren, wenn ein Eingriff in den vorhandenen Bestand so intensiv ist, dass er die Standfestigkeit des gesamten Bauwerks berührt und eine statische Nachberechnung erforderlich machen würde, sondern erst recht wenn die Bausubstanz ausgetauscht wird oder die Baumaßnahmen praktisch einer Neuerrichtung gleichkommen bzw. der für die Instandsetzung notwendige Arbeitsaufwand seiner Quantität nach den Arbeitsaufwand für einen Neubau erreicht oder gar übersteigt (ständige Rechtsprechung, vgl. etwa BVerwG, B.v. 10.10.2005 - 4 B 60/05 - juris Rn. 4; BVerwG, U.v. 24.10.1980 - IV C 81.77 - juris Rn. 15).
19
Vorliegend haben die Kläger umfangreiche Umbauarbeiten durchgeführt, insbesondere wurde der Dachstuhl vollständig abgetragen und unter Drehung der Firstrichtung neu errichtet. Gerade bei kleineren und in einfacher Bauweise ausgeführten baulichen Anlagen wie dem streitgegenständlichen Gebäude macht der Dachstuhl indes einen ganz wesentlichen und für die Statik bedeutsamen Gebäudeteil aus, was bei der wirtschaftlichen Betrachtung des Vorhabens besonders ins Gewicht fällt. Die Errichtung einer Garage mit einem Satteldach anstelle einer genehmigten Flachdachgarage wurde seitens des Bayerischen Verwaltungsgerichtshof bereits als „aliud“ gewertet (vgl. BayVGH, B.v. 14.1.1998 - 14 B 96.357 - juris). Auch nach den Feststellungen des Augenscheins ist die Kammer davon überzeugt, dass es sich nicht mehr um bloße Instandhaltungsmaßnahmen, sondern vielmehr Umbauarbeiten handelt, die wirtschaftlich im Ergebnis einer Neuerrichtung gleichkommen. Dahinstehen kann vor diesem Hintergrund, ob das Nebengebäude in der Vergangenheit Bestandsschutz genossen hat, da dieser aufgrund der durchgeführten umfangreiche Baumaßnahmen jedenfalls entfallen ist.
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Die Entscheidung ist auch ermessensgerecht. Bei der Befugnisnorm des Art. 75 Abs. 1 Satz 1 BayBO handelt es sich aufgrund des öffentlichen Interesses an der Verhinderung der Fortsetzung unzulässiger Arbeiten um einen Fall intendierten Ermessens, sodass grundsätzlich bereits die Erfüllung des Tatbestands den Erlass einer Einstellungsverfügung rechtfertigt (vgl. BayVGH, B.v. 2.8.2000 - 1 ZB 97.2669 - juris; Decker in Busse/ Kraus, BayBO, Stand Februar 2021, Art. 75, Rn. 83 f.). An die Ermessensausübung sind in diesen Fällen keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Besondere Gründe, warum im Einzelfall eine Baueinstellung nicht gerechtfertigt sein sollte, sind nicht ersichtlich. Insbesondere ist das Vorhaben aufgrund seiner Außenbereichslage materiell nicht genehmigungsfähig. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Ausführungen des Urteils vom 9. September 2021 im Parallelverfahren M 11 K 19.4631 Bezug genommen.
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II. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.