Inhalt

AG München, Endurteil v. 10.06.2021 – 472 C 2064/20
Titel:

Mietvertrag, Sozialwohnung, Wohnberechtigung, Kündigung, nachträgliche Fehlbelegung

Normenketten:
BGB § 278, § 542 Abs. 1, § 543 Abs. 1, Abs. 3 S. 2 Nr. 1, Nr. 2, Abs. 3, § 546 Abs. 1, § 568 Abs. 1, § 569 Abs. 4, § 985
WoBindG § 4, § 25, § 26
II. WoBauG § 25
Leitsätze:
Auch für den Fall einer sog. nachträglich fehlbelegten Wohnung kann eine fristlose Kündigung zulässig sein. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Vermieter einer Sozialwohnung kann kündigen, wenn er die Wohnung einem Mieter überlassen hat, der nicht bzw. nicht mehr zum Kreis der Wohnberechtigten nach den §§ 4 ff. WoBindG, § 25 II. WoBauG gehört, die Behörde deshalb die Kündigung des Mietverhältnisses verlangt und dem Vermieter bei Fortsetzung des Mietverhältnisses Nachteile nach §§ 25, 26 WoBindG drohen. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Mietvertrag, Sozialwohnung, Wohnberechtigung, Kündigung, nachträgliche Fehlbelegung
Fundstellen:
BeckRS 2021, 51051
LSK 2021, 51051
ZMR 2022, 318

Tenor

1. Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, die in der R. Str., München, im 1. Obergeschoss Mitte gelegene Wohnung bestehend aus 2 Zimmer, 1 Küche, 1 Bad mit WC, 1 Flur, 1 Balkon, 1 Kellerraum, 1 Pkw-Stellplatz Nr. 20 zu räumen und an die Klagepartei herauszugeben.
2. Die Beklagten zu 1) und 2) tragen die Kosten des Rechtsstreits als Gesamtschuldner.
3. Das Urteil ist für die Klagepartei vorläufig vollstreckbar. Ziffer 2 des Urteils ist für die Klagepartei gegen Sicherheitsleitung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte zu 1) kann eine Vollstreckung der Klägerin hinsichtlich Ziffer 1 des Urteils durch Sicherheitsleistung in Höhe von € 8.000,- abwenden, wenn nicht die Klagepartei vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
4. Der Beklagten zu 1) wird eine Räumungsfrist bis 31.12.2021 eingeräumt.
5. Der Streitwert wird auf 3.699,72 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Die Parteien streiten über die Räumung und Herausgabe einer vermieteten Wohnung nach erklärter Kündigung der Klagepartei.
2
Zwischen der Beklagten 1) und der Klagepartei bestand seit 1.12.1993 ein Wohnraummietverhältnis über die in der R1. Straße 16, 8. M1., im 1. OG Mitte befindliche Wohnung, bestehend aus 2 Zimmern, 1 Küche, 1 Bad mit WC, 1 Balkon sowie 1 Pkw Stellplatz Nr. 20 (Dauernutzungsvertrag vorgelegt als Anlage K1). Bei der Klagepartei handelte es sich um eine Genossenschaft, die Beklagte zu 1) war Mitglied ebendieser Genossenschaft und die streitgegenständliche Wohnung war mit einem öffentlichen Baudarlehen geförderte und unterlag den Bestimmungen des Bayerischen Wohnungsbindungsgesetzes. Zuletzt schuldete die Beklagte zu 1) eine monatliche Miete von € 269,96 zuzüglich Vorauszahlungen für Heizung und Warmwasser von € 43,78 und für die sonstigen Betriebskosten von € 119,56 und zuzüglich des Pkw-Stellplatzes von € 38,35, mithin eine Bruttogesamtmiete von € 471,65. Der Beklagten zu 1) wurde im Jahr 1993 ein öffentlichrechtliches Wohnrecht an der Wohnung erteilt, eine entsprechende Wohnungsnutzungsbestätigung ausgehändigt und die streitgegenständliche Wohnung der Beklagten zu 1) zur Nutzung zugewiesen.
3
Zur Zeit des Abschlusses des Mietvertrages trug die Beklagte zu 1) den Namen M. K., zwischenzeitlich heißt die Beklagte zu 1) M. L. aufgrund einer Heirat mit Herrn P. L. Mit in der Wohnung wohnte bis zuletzt Frau M2. K3., welche zugleich die Beklagte zu 2) war und die Tochter der Beklagten zu 1) ist.
4
In § 4 Abs. 4 des Mietvertrages ist folgende Vorschrift enthalten:
„Während des Fortbestehens der Mitgliedschaft wird die Genossenschaft von sich aus das Nutzungsverhältnis grundsätzlich nicht auflösen. Sie kann jedoch in besonderen Ausnahmefällen das Nutzungsverhältnis schriftlich unter Einhaltung der gesetzlichen Fristen kündigen, wenn wichtige berechtigte Interessen der Genossenschaft eine Beendigung des Nutzungsverhältnisses notwendig machen. Die fristlose Kündigung richtet sich nach Nr. 8 AVB.
5
Vertragsbestandteil waren auch Allgemeine Vertragsbestimmungen der Klagepartei in der Fassung vom August 1992 (AVB), wo in Nr. 8 „Fristlose Kündigung“ folgende Regelung enthalten war:
"Die Genossenschaft kann das Nutzungsverhältnis ohne Einhaltung einer Frist schriftlich kündigen, wenn
a) Das Mitglied oder diejenigen, welchen das Mitglied den Gebrauch der Wohnung überlassen hat, ungeachtet einer Abmahnung der Genossenschaft einen vertragswidrigen Gebrauch der überlassenen Wohnung fortsetzen, der die Rechte der Genossenschaft in erheblichem Maße verletzt, insbesondere einem Dritten den ihm unbefugt überlassenen Gebrauch belassen oder die überlassene Wohnung durch Vernachlässigung der dem Mitglied obliegenden Sorgfalt erheblich gefährden.
b) Das Mitglied schuldhaft in solchem Maße seine Verpflichtungen verletzt, insbesondere den Hausfrieden so nachhaltig stört, dass der Genossenschaft die Fortsetzung des Nutzungsverhältnisses nicht zugemutet werden kann.
c) Das Mitglied für 2 aufeinanderfolgende Termine mit der Entrichtung der Nutzungsgebühr oder eines Teils der Nutzungsgebühr, der eine Monatsnutzungsgebühr übersteigt, in Verzug ist oder …
6
Mit Schreiben der Landeshauptstadt München vom 2.3.2011 (Anlage K2) an die Klagepartei, teilte die Landeshauptstadt München mit, dass die Beklagte zu 1) seit dem 4.11.2010 nicht mehr in der streitgegenständlichen Wohnung gemeldet sei und ein Kontrolleur der Landeshauptstadt München in der Wohnung einen Herrn S1. K4. angetroffen habe, der mitgeteilt habe, in der Wohnung zu leben und bis 28.2.2011 auszuziehen. Weiter sei eine Frau M3. K4. in der Wohnung gemeldet.
7
Mit Schreiben der Klagepartei vom 9.3.2011 an die Landeshauptstadt München bat die Klagepartei um Einleitung eines öffentlichrechtlichen Räumungsverfahren, da es sich um eine öffentlich geförderte Wohnung handele (Anlage K3). Mit E-Mail der Beklagten zu 1) vom 7.4.2012 (Anlage K4) an die Klagepartei, teilte die Klägerin zu 1) mit, ab 1.8.2012 die streitgegenständliche Wohnung wieder gemeinsam mit ihrer Tochter, der Beklagten zu 2), zu beziehen. Die Landeshauptstadt München antwortete mit E-Mail vom 16.4.2012 (Anlage K5), dass der Wiedereinzug am 1.8.2012 überwacht werde und ggf. ein Räumungsverfahren eingeleitet werde, sofern kein Wiedereinzug erfolgen würde.
8
Mit E-Mail der Beklagten zu 1) vom 15.7.2019 (Anlage K6) an die Klagepartei wurde die Anschrift „... als aktuelle Adresse mitgeteilt. Mit handgeschriebenem Brief der Beklagten zu 1) an die Klagepartei vom 26.9.2019 (Anlage K8), teilte die Beklagte zu 1) unter anderem mit, dass die Beklagte zu 2) die streitgegenständliche Wohnung seit 9 Jahren alleine bewohne und die Beklagte zu 1) mit ihrem Ehemann nach Spanien verzogen sei.
9
Mit Schreiben der Landeshauptstadt München an den Klägervertreter vom 10.1.2018 (Anlage K7) teilte Erstere mit, dass durch Kontrolle zweifelsfrei feststehe, dass die Beklagte zu 1) nach Spanien verzogen sei und die streitgegenständliche Wohnung seitdem alleine von der Beklagten zu 2) genutzt werde, so dass die Wohnnutzungsbestätigung und damit das öffentlichrechtliche Wohnrecht der Beklagten zu 1) erloschen sei. Die Landeshauptstadt München forderte die Klagepartei unter Androhung von Sanktionen für den Fall des Nichtbefolgens sodann dazu auf, das Mietverhältnis mit der Beklagten zu 1) zum nächstmöglichen Termin zu beenden, da ein Verstoß gegen das bayerische Wohnungsbindungsgesetz vorliege.
10
Mit E-Mail der Beklagten zu 1) vom 15.11.2019 (Anlage K10) an die Klagepartei, wies die Beklagte zu 1) darauf hin, dass bei Erstellung der Nebenkostenabrechnung zu beachten sei, dass seit November 2019, zwei Personen in der streitgegenständlichen Wohnung wohnten.
11
Aufgrund von behaupteten Störungen des Hausfriedens durch die Beklagte zu 2) seit 2018 (vgl. Anlage K13), bat die Klagepartei die Landeshauptstadt München mit Schreiben vom 19.7.2019 (Anlage K14) um Einleitung eines öffentlichrechtlichen Räumungsverfahrens.
12
Mit Schreiben des Klägervertreters für die Klagepartei vom 1.9.2019 (Anlage K15) kündigte dieser gegenüber der Beklagten zu 1) das streitgegenständliche Mietverhältnis außerordentlich fristlos zum 31.1.2020 und hilfsweise ordentlich zum 31.7.2020, wobei die Kündigungen mit angeblichen Störungen des Hausfriedens vom 14.7.2019, des Erlöschens der öffentlichrechtlichen Nutzungsberechtigung und mit Verstößen gegen das bayerische Wohnungsbindungsgesetz begründet wurde. Die Kündigung wurde am 7.10.2019 per internationalem Einschreiben/Rückschein zur Post gegeben und der Beklagten zu 1) am 16.10.2019 ausgehändigt (Anlage K16, K17).
13
Die Beklagte zu 2) teilte in einer E-Mail vom 18.2.2020 an die Klagepartei mit, dass sie seit 7.1.2020 nicht mehr in der streitgegenständlichen Wohnung lebe (Anlage K18). Der C. e.V. teilte im Schreiben vom 9.3.2020 an den Klägervertreter mit, dass die Beklagte zu 2) seit 10.2.2020 in ihrer Wohngemeinschaft in der S2.str. 29, 8. M1. wohne und dort auch offiziell gemeldet sei (Anlage K20). Die Beklagte zu 2) teilte in einer weiteren E-Mail an die Klagepartei vom 31.3.2020 mit, dass die Beklagte zu 1) seit 7.1.2020 alleine in der streitgegenständlichen Wohnung lebe (Anlage K21).
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Jedenfalls seit September 2017 lebte die Beklagte zu 1) durchgängig bis zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im November 2019 bei ihrem Ehemann in Spanien, welcher am 11.9.2019 verstarb und nutzte die streitgegenständliche Wohnung nicht. In der Wohnung lebte seit dem Jahr 2010 durchgehend die Tochter der Beklagten zu 1), nämlich die Beklagte zu 2), welche jedenfalls seit September 2017 bis zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im November 2019 alleine in der streitgegenständlichen Wohnung lebte. Am 7.1.2020 zog die Beklagte zu 2) endgültig aus der streitgegenständliche Wohnung aus und die Beklagte zu 1) zog bereits an einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im November 2019 wieder in ebendiese ein. Weder die Beklagte zu 2) noch die Beklagte zu 1) verfügten über die wirtschaftlichen Voraussetzungen zum Bezug einer sozial geförderten Wohnung, was für die Beklagte zu 1) jedenfalls seit dem Tod ihres Mannes am 11.9.2019 galt, da beide über zu hohe Einkommen verfügten.
15
Am Sonntag den 14.7.2019 in den frühen Morgenstunden wurde die Beklagte zu 2) vor der streitgegenständlichen Hauseingangstür sitzend und volltrunken aufgefunden. Diese hatte auf dem Weg in die streitgegenständliche Wohnung ihre Notdurft auf der Treppe vor ihrer Wohnungseingangstür verrichtet, sodass eine beträchtliche Fläche des Treppenhauses mit Kot verschmiert war. Ein weiterer Hausbewohner hatte am frühen Nachmittag die Beklagte zu 2) aufgefordert, den Kot weg zu putzen, die Beklagte zu 2) war jedoch zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage, der Aufforderung Folge zu leisten, da sie in einem volltrunkenen Zustand war. Der Gestank von den Fäkalien der Beklagten zu 2) Im Treppenhaus war unerträglich, die Anwohner waren sehr aufgebracht und forderten die Klägerin auf, dafür zu sorgen, dass diese unerträglichen Belästigungen beendet werden.
16
Die Klagepartei ist der Auffassung, dass die Kündigung vom 1.9.2019 das streitgegenständliche Mietverhältnis beendet habe, da ein Fall der fehlbelegten Sozialwohnung vorliege. Das öffentlichrechtliche Wohnrecht der Beklagten zu 1) sei erloschen. Die Landeshauptstadt München habe der Beklagten zu 1) im September 2019 die Wohnnutzungsbestätigung entzogen. Eine Abmahnung sei entbehrlich, da die Beklagte zu 1) ein einmal erloschenes Wohnrecht nicht wieder aufheben lassen könne. Es liege auch keine nachträgliche Fehlbelegung vor, da die Beklagte zu 1) bei ihrem Wiedereinzug im November 2019 keine Wohnberechtigung mehr gehabt hätte.
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Nach einem gerichtlichen Hinweis vom 17.3.2020 (Bl. 81 d.A.) hat die Klagepartei die Klage hinsichtlich der Beklagten zu 2) privilegiert nach § 269 Abs. 2 S. 3 ZPO zurückgenommen und beantragt, der Beklagten zu 2) die durch die teilweise Klagerücknahme verursachten Kosten aufzuerlegen.
18
Die Parteien beantragen zuletzt,
Die Klagepartei:
1. Die Beklagte zu 1) wird verurteilt, die in der R1. Str. 16, 8. M1., im 1. Obergeschoss Mitte gelegene Wohnung bestehend aus 2 Zimmer, 1 Küche, 1 Bad mit WC, 1 Flur, 1 Balkon, 1 Kelllerraum, 1 Pkw-Stellplatz Nr. 20 zu räumen und an den Kläger herauszugeben.
Die Beklagte zu 1):
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klagepartei
3. Höchst vorsorglich wird die Einräumung einer angemessenen Räumungsfrist beantragt.
19
Die Beklagte zu 1) ist der Auffassung, sie habe gemeinsam mit ihrem am 11. September 2019 verstorbenen Ehemann P. L. im Jahr 2010 eine längere Schiffsreise unternommen zu haben und seitdem aus medizinischpflegerischen Gründen die Sommer im Spanien verbracht habe, die Wohnungsnutzung jedoch nicht ganz aufgegeben habe. Lediglich ca. zwei Jahre vor dem Tod des Ehemannes habe die Beklagte zu 1) ganz bei ihrem Mann in Spanien gelebt. Die Beklagte zu 1) würde keine ständige Gebrauchspflicht treffen, vielmehr seien auch längere Urlaubszeiten vom ordnungsgemäßen Mietgebrauch mitumfasst. Eine Abmahnung sei nicht erfolgt, was die streitgegenständliche Kündigung unwirksam mache. Hilfsweise sei der Beklagten zu 1) eine Räumung aufgrund von Härtefällen nicht möglich, so dass eine Fortsetzung des Mietverhältnisses auf unbestimmte Zeit verlangt werde. Die Beklagte zu 2) habe als Tochter der Beklagten zu 1) ein Recht zur Gebrauchsüberlassung nach § 4 Abs. 7 S. 1 WoBindG gehabt. Ein Kündigungsrecht für eine fehlbelegte Sozialwohnung bestehe nicht, wenn der Mieter im Zeitpunkt der Überlassung der Wohnung wohnberechtigt gewesen sei und erst danach zum Fehlbeleger geworden ist.
20
Das Gericht hat mit den Parteien am 24.6.2020, am 3.3.2021 und am 2.6.2021 zur Güte und anschließend streitig verhandelt. In der mündlichen Verhandlung vom 24.6.2020 wurde im Einverständnis beider Parteien das Ruhen des Verfahrens beschlossen, welches auf Antrag der Klagepartei vom 29.9.2020 wieder fortgesetzt wurde. Zur Vervollständigung des Tatbestandes wird auf die Protokolle der Verhandlungen sowie auf sämtliche Schriftsätze der Parteien einschließlich von Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Der Rechtsstreit ist zur Entscheidung reif, ein Wiedereintritt in die mündliche Verhandlung war nicht erforderlich, § 156 ZPO, da insbesondere eine weitere Beweisaufnahme nicht durchzuführen war. Die zulässige Klage ist begründet, der Beklagten zu 1) war eine soziale Ziehfrist als Räumungsfrist bis 31.12.2021 einzuräumen.
A. Zulässigkeit der Klage
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Die Klage ist zulässig, insbesondere ist das Amtsgericht München sachlich und örtlich zuständig, § 23 Nr. 2a GVG, § 29a Abs. 1 ZPO. Streitgegenständlich ist ein behaupteter Räumungs- und Herausgabeanspruch aus einem Wohnraummietverhältnis in 8. M1.
B. Begründetheit der Klage
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Die Klage ist begründet, da der Klägerin ein Anspruch auf Räumung und Herausgabe der Wohnung nach §§ 546 Abs. 1, 985 BGB zusteht, §§ 542 Abs. 1, 568 Abs. 1, 569 Abs. 4, 543 Abs. 1 S. 1 und S. 2, Abs. 3 S. 2 Nr. 2 BGB in Verbindung mit § 4 Abs. 4 des Mietvertrages und den AVB von 1992, dort Nr. 8. Der Mietvertrag zwischen den Parteien wurde durch die fristlose Kündigung vom 1.9.2019 (Anlage K 15) wirksam beendet. Die fristlose Kündigung ist formell und materiell wirksam.
24
I. Die fristlose Kündigung vom 1.9.2019 ist formell wirksam, insbesondere wurde das Begründungserfordernis und die Schriftform eingehalten, §§ 568 Abs. 1, 569 Abs. 4 BGB. Aus der Kündigung ergibt sich aus Sicht der Beklagten eindeutig, welche Umstände zur Grundlage der fristlosen Kündigung gemacht wurden.
25
II. Die fristlose Kündigung vom 1.9.2019 ist auch materiell wirksam da ein wichtiger Grund vorliegt, § 543 Abs. 1 S. 1, S. 2, Abs. 3 S. 1, S. 2 Nr. 2 BGB in Verbindung mit § 4 Abs. 4 des Mietvertrages und den AVB von 1992, dort Nr. 8. Eine vorherige Abmahnung war wegen offensichtlicher Erfolglosigkeit ausnahmsweise nicht erforderlich.
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Nach § 543 Abs. 1 S. 1 BGB kann jede Vertragspartei das Mietverhältnis aus wichtigem Grund kündigen, wobei nach § 543 Abs. 1 S. 2 BGB ein zur Abgabe einer außerordentlichen fristlosen Kündigung berechtigender Grund dann gegeben ist, wenn dem Kündigenden unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls, insbesondere eines Verschuldens der Vertragsparteien, und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen die Forstsetzung des Mietverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden kann. In § 4 Abs. 4 des Mietvertrages und den AVB von 1992, dort Nr. 8 werden die Anforderungen an eine außerordentliche Kündigung weiter konkretisiert, so dass eine fristlose Kündigung dann möglich sein soll, wenn
„das Mitglied oder diejenigen, welchen das Mitglied den Gebrauch der Wohnung überlassen hat, ungeachtet einer Abmahnung der Genossenschaft einen vertragswidrigen Gebrauch der überlassenen Wohnung fortsetzen, der die Rechte der Genossenschaft in erheblichem Maße verletzt, insbesondere einem Dritten den ihm unbefugt überlassenen Gebrauch belassen oder die überlassene Wohnung durch Vernachlässigung der dem Mitglied obliegenden Sorgfalt erheblich gefährden.“
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Die Kündigung vom 1.9.2019 ist als fristlose Kündigung gemäß § 543 Abs. 1 S. 1, S. 2, Abs. 3 S. 2 Nr. 2 BGB auch ohne vorherige Abmahnung materiell wirksam.
Im Einzelnen:
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1. Zwischen den Parteien war zuletzt unstreitig, dass die Beklagte zu 1) bei ihrem Einzug in die streitgegenständliche Wohnung eine Berechtigung hatte, eine Sozialwohnung zu erhalten und zu beziehen. Dies betrifft das Jahr des Einzugs, nämlich 1993. Die Beklagte zu 1) hat zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt die streitgegenständlichen Wohnung verlassen und ist zu ihrem damaligen Ehemann nach Spanien verzogen, davon ist das Gericht nach der E-Mail der Beklagten zu 1) vom 15.7.2019 (Anlage K6) und dem handgeschriebenen Brief vom 26.9.2019 (Anlage K8) überzeugt. Unstreitig zwischen den Parteien ist jedenfalls, dass die Beklagte zu 1) von September 2017 bis zum November 2019 durchgehend bei ihrem Ehemann in Spanien wohnte, die Beklagte zu 2) jedenfalls während dieses Zeitraums alleine in der streitgegenständlichen Wohnung verblieb, wobei Letztere ebenfalls zu diesem Zeitpunkt aus finanziellen Gründen über keine Berechtigung zum Bewohnen einer sozial geförderten Wohnung mit Bindung unter das bayerische Wohnungsbindungsgesetz verfügte. Weiter ist unstreitig zwischen den Parteien, dass die Beklagte zu 1) an einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt im November 2019 wieder in die streitgegenständlichen Wohnung eingezogen und die Beklagte zu 2) am 07.01.2020 aus der streitgegenständlichen Wohnung ausgezogen ist.
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2. Das Gericht ist daher davon überzeugt, dass sowohl bei Zugang der streitgegenständlichen fristlosen Kündigung vom 01.09.2019 als auch im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vom 02.06.2021 die Beklagte zu 1) keine Berechtigung zum Bewohnen einer sozial geförderten Wohnung nach dem bayerischen Wohnungsbindungsgesetz hatte, da sie nach dem Tod ihres Ehemanns über eine Witwenrente verfügte, die zum Übersteigen der hierfür erforderlichen Einkommensgrenzen geführt hat. Das ist auch zwischen den Parteien unstreitig. Hinzu kommt, dass seitens der Landeshauptstadt München die im Jahr 1993 erlassene Wohnungszuweisung an die Beklagte zu 1) aufgehoben wurde, als bekannt geworden ist, dass die Beklagte zu 1) zwischenzeitlich aus der streitgegenständlichen Wohnung ausgezogen war. Die Art und Weise der verwaltungsrechtlichen Aufhebung ist hierfür im Rahmen des Räumungsrechtsstreits ohne Relevanz.
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3. Das Gericht ist der Auffassung, dass die Tatsache, die zum Gegenstand der streitgegenständlichen fristlosen Kündigung gemacht wurde, nämlich dass die Beklagte zu 1) jedenfalls und spätestens im September 2017 endgültig aus der Wohnung ausgezogen ist und damit das ihr zustehende soziale Wohnungsrecht verloren hat und damit verbunden beim Wiedereinzug der Beklagten zu 1) nach dem Tod von deren Ehemann der Klagepartei im Jahr nicht mitgeteilt zu haben, dass die Beklagte zu 1) ab diesem Zeitpunkt nicht mehr die wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine öffentlich geförderte Wohnung erfüllt, so gravierende für das Dauerschuldverhältnis Miete ist, dass es eine fristlose Kündigung rechtfertigt, die nicht einmal mehr den Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist erfordert.
31
Es ist in Literatur und Rechtsprechung anerkannt, dass der Vermieter einer Sozialwohnung kündigen kann, wenn er die Wohnung einem Mieter überlassen hat, der nicht bzw. nicht mehr zum Kreis der Wohnberechtigten nach den §§ 4 ff. WoBindG, § 25 des II. WoBauG gehört, die Behörde deshalb die Kündigung des Mietverhältnisses verlangt und dem Vermieter bei Fortsetzung des Mietverhältnisses Nachteile nach §§ 25, 26 WoBindG drohen (Schmidt-Futterer/Blank, 14. Auflage 2019, § 573 BGB Rn. 196 m.w.N.). Die Kündigung des Mietverhältnisses setzt nicht voraus, dass die Behörde die Kündigung der öffentlichen Mittel androht, es genügt wenn diese Nachteile tatsächlich eintreten können (BayOblG WuM 1985, 283). Vorliegend hat die zuständige Behörde der Landeshauptstadt München sogar gegenüber der Klagepartei mehrmals schriftlich gefordert, dass diese das Mietverhältnis mit der Beklagten zu 1) beenden soll und für den Fall der nicht klageweisen Verfolgung des Räumungsbegehrens, Ordnungsmittel gegen die Klagepartei angedroht. Es liegt daher genau der Fall vor, dass die zuständige Behörde von der Klagepartei die Beseitigung der Fehlbelegung verlangt hat (LG Berlin, GE 1994, 1059).
32
4. Es handelt sich auch vorliegend nicht um einen sog. Fall der nachträglichen Fehlbelegung, bei dem eine Kündigungsbefugnis jedenfalls im Hinblick auf eine fristlose Kündigung nicht vorliegen soll (vgl. hierzu Schmidt-Futterer/Blank, 14. Auflage 2019, § 573 BGB Rn. 198 m.w.N.). Vorliegend handelt es sich durch die zwischenzeitliche Wohnungsaufgabe der Beklagten zu 1) im Jahr 2017, welche im Hinblick auf die Beklagte zu 2) die einzige legitime und sozial geförderte Wohnungsmieterin dargestellt hat, bei dem sodann im Jahr 2019 erfolgten Wiedereinzug, bei dem sie bereits nicht mehr über die wirtschaftlichen Verhältnisse verfügte, welche die Zuweisung einer öffentlich geförderten Wohnung rechtfertigen würde, wertungsmäßig um einen Fall einer von Anfang an bestehenden Fehlbelegung, für den die fristlose Kündigung durchaus Anwendung findet.
33
Das Gericht geht jedoch auch für den Fal einer sog. nachträglich fehlbelegten Wohnung davon aus, dass eine fristlose Kündigung zulässig sein kann. Entscheidungserheblich ist nämlich nicht, ob die Wohnung von Anfang an einem Nichtberechtigten erlassen wurde, sondern dass im Zeitpunkt des Zugangs der Kündigung und der letzten mündlichen Verhandlung die rechtliche Voraussetzung der Überlassung an einen Nichtberechtigten gegeben ist. Ein nachträglicher, zu einem späteren Zeitpunkt wirksamer Widerruf der Überlassung gegenüber dem Verfügungsberechtigten führt dazu, dass der Verfügungsberechtigte die Wohnung entgegen den öffentlichen Vorschriften erhalten hat (i.E. zu Recht AG Frankfurt a.M., Urt. V. 13.6.2018 - 33 C 3421/17, BeckRS 2018, 46050). Grund hierfür ist, dass letztlich jede Nichtmeldung einer weggefallenen sozialen Förderungsberechtigung durch den ursprünglich berechtigten Mieter, der eine Sozialwohnung aufgrund seiner schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse einst erhalten hat, durchaus in den Bereich eines strafrechtlich relevanten Sozialförderungsbetrugs gemäß § 263 StGB hineinreicht, welcher für das Dauerschuldverhältnis Miete zu einem außerordentlichen Kündigungsgrund berechtigt. Die Beklagte zu 1) hätte nämlich zumindest aus dem Mietverhältnis mit der Klägerin eine Nebenpflicht gehabt, die Klägerin als deren Vermieterin unverzüglich darüber zu informieren, dass sie seit dem Tod ihres Mannes über eine Witwenrente verfügt, die sie in eine wirtschaftliche Lage versetzt, welche die Überlassung einer sozial geförderten Wohnung unmöglich macht. Dies ist offensichtlich nicht geschehen.
34
5. Eine Abmahnung war hier nicht erforderlich, § 543 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 BGB: Insbesondere im Hinblick auf die finanziellen Verhältnisse der Beklagten zu 1), die eine Neuerteilung bzw. ein Wiederaufleben einer Wohnungsberechtigung zum Bezug einer Sozialwohnung unmöglich erscheinen lassen, war eine Abmahnung ausnahmsweise nicht erforderlich, da diese keinen Erfolg hätte zeitigen können. Die wirtschaftlichen Verhältnisse der Beklagten zu 1) hätten sich auch durch eine Abmahnung nicht abändern lassen, so das von vornherein feststeht, dass der Beklagten zu 1) weder eine Wohnungsberechtigung neu hätte erteilt werden können, noch die alte hätte wieder in Kraft gesetzt werden können.
35
§ 543 Abs. 3 BGB findet auch in Ansehung der speziellen mietvertraglichen Regelungen Anwendung, da die Regelung in § 4 Abs. 4 des Mietvertrages in Verbindung mit den allgemeinen Vertragsbestimmungen aus dem Jahr 1992 (AVB), dort Nr. 8, ersichtlich nicht von der gesetzlichen Regelung abweichen soll, nämlich dass in den in § 543 Abs. 3 BGB genannten Ausnahmefällen, keine Abmahnung erforderlich ist. Dies ergibt eine Auslegung der mietvertraglichen Regelung aus dem Empfängerhorizont unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles, §§ 133, 157 BGB.
36
6. Schließlich ist die außerordentliche Kündigung vom 1.9.2019 auch insoweit begründet, als sie auf eine Verkotung des Treppenhauses des streitgegenständlichen Anwesens durch die Tochter der Beklagten zu 1), der Beklagten zu 2) am 14.7.2019 gestützt wurde. Es ist zwischen den Parteien unstreitig geblieben, dass die am 14.7.2019 alleine und ohne öffentlichrechtliche Berechtigung in der streitgegenständlichen Wohnung lebende Beklagte zu 2) am selbigen Tag aus nicht bekannten Gründen das Treppenhaus des streitgegenständlichen Anwesens mit ihrer Notdurft verunreinigt hat, so dass ein Mitbewohner und Nachbar die Situation am 14.7.2019 mit den Worten „alles vollgeschissen“ betitelte. Weder die Beklagte zu 1) noch die Beklagte zu 2) haben diese Verunreinigung in den Tagen nach dem 14.7.2019 entfernt, so dass die fristlose Kündigung auch insoweit begründet ist. Das Verhalten der Beklagten zu 2) muss sich die Beklagte zu 1) zurechnen lassen, entweder über § 278 BGB direkt bzw. zumindest nach dem Rechtsgedanken von § 278 BGB. Eine vorherige Abmahnung der Beklagten zu 1) war insoweit ebenfalls nach § 543 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 BGB nich erforderlich, da die zu dieser Zeit nicht mehr in der Wohnung lebende Beklagte zu 1) nicht über die ehemalige Wohnadresse zu erreichen war und somit eine Abhilfe und eine Einwirkung auf die Beklagte zu 2) schon aufgrund der Ortsabwesenheit der Beklagten zu 1) nicht in Betracht kam.
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7. Auf die von der Beklagten zu 1) erhobenen und klägerseits bestrittenen Härtegründe infolge von Gesundheitsbeeinträchtigungen musste gemäß § 574 Abs. 1 Satz 2 BGB nicht eingegangen werden, da ein Grund vorliegt, der zur außerordentlichen Kündigung berechtigt.
C.
Entscheidung zur Räumungsfrist
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Die Entscheidung beruht auf § 721 ZPO und ist das Ergebnis einer umfassenden Abwägung der beiderseitigen Interessen unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalles. Das Gericht hat hierbei zugunsten der Klagepartei berücksichtigt, dass bereits ein erheblicher Zeitraum seit dem Ablauf der fristlosen Kündigung vergangen ist und die Einräumung einer Räumungsfrist bei einer fristlosen Kündigung nur ausnahmsweise in Betracht kommt. Zugunsten der Beklagten zu 1) wurde bei der Gewährung der Räumungsfrist bis 31.12.2021 gewürdigt, dass diese über gesundheitliche Einschränkungen verfügt, die sie bei der Auffindung einer neuen Wohnung behindern und es das Ziel der Räumungsfrist bis 31.12.2021 ist, eine etwaige Wohnungslosigkeit der Beklagten zu 1) zu verhindern. Letztlich hält das Gericht unter Abwägung aller für und gegen beide Parteien sprechenden Umstände, die Gewährung einer Räumungsfrist bis 31.12.2021 für angemessen.
D. Entscheidung zur Kostentragung, zur vorläufigen Vollstreckbarkeit und zum Streitwert
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 269 Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 91 ZPO (sog. Kostenmischentscheidung) nach erfolgter privilegierter und teilweiser Klagerücknahme bezüglich der Beklagten zu 2). Die Klage war zunächst gegen die Beklagten zu 1) und 2) gerichtet, mithin gegen die Beklagten zu 1) und 2) als Gesamtschuldner, mithin als einfache Streitgenossen. Die Klagepartei hat nach erfolgter privilegierter, teilweiser Klagerücknahme gegenüber der Beklagten zu 2) beantragt, dieser insoweit die angefallenen Kosten des Rechtsstreits aufzuerlegen.
40
Die Beklagte zu 2) hat innerhalb ihres Prozessverhältnisses zur Klagepartei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, da sie zu keiner Zeit mitgeteilt hat, wann Sie eingezogen und vor allem aus der streitgegenständlichen Wohnung wieder ausgezogen ist und hat „hierdurch zur Klageerhebung Veranlassung gegeben hat“ im Sinne von § 93 ZPO. Daher war eine Kostentragung zu Lasten beider Beklagter hinsichtlich der gesamten Kosten des Rechtsstreits auszusprechen.
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Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 709 S. 1, S. 2 ZPO. § 708 Nr. 11 i.V.m. § 711 ZPO war nicht anzuwenden, da die von den Beklagten zu vollstreckenden Gerichtsund Rechtsanwaltskosten über der in § 708 Nr. 11 ZPO genannten Grenze (€ 1.500,-) liegen, ausgehend von einem Gebührenstreitwert von € 3.699,72.
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Der Streitwert einer Räumungsklage entspricht dem Jahresbetrag der Miete ohne Nebenkosten, § 41 Abs. 2, Abs. 1 GKG, vorliegend also 12 * € 269,96 (Nettomiete Wohnung) zuzüglich 12 * € 38,35 (Miete Garage), mithin insgesamt € 3.699,72.