Inhalt

FG München, Urteil v. 10.06.2021 – 13 K 1825/19
Titel:

Auflösung einer für einen veräußerten Mitunternehmeranteil gebildete Rücklage

Normenketten:
EStG § 6b
§ 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 1
Leitsätze:
1. Eine Rücklage nach § 6b III EStG kann auch mit dem Ziel gebildet werden, den beim Ausscheiden eines Gesellschafters (Mitunternehmer) aus einer Personengesellschaft anfallenden Veräußerungsgewinn zu vermeiden. Darüber entscheidet das für die Feststellung des Gewinns der Gesellschaft zuständige Finanzamt, aus der der Gesellschafter ausgeschieden ist (gegen FinMin Schleswig-Holstein, Erlass v. 2.9.2014, VI 306 - S 2139 - 134). Die Bildung einer Rücklage ist auch möglich, wenn wegen der Aufgabe des Betriebs eine Reinvestition nicht mehr in Betracht kommt. (redaktioneller Leitsatz)
2. Die spätere gewinnerhöhende Auflösung der Rücklage führt zu nachträglichen, nicht iSd §§ 16, 34 EStG begünstigten Einkünften. Diese nachträglichen Einkünfte sind nicht mehr Gegenstand des Feststellungsverfahren der Personengesellschaft; die spätere Auflösung der bei einer Veräußerung des ganzen Mitunternehmeranteils gebildeten gebildeten Rücklage nach § 6b EStG liegt vielmehr in der Zuständigkeit und alleinigen Entscheidungskompetenz des für die Einkommensteuer des (ehemaligen) Mitunternehmers zuständigen Finanzamts. (redaktioneller Leitsatz)
3. Hat der vollständig aus einer Personengesellschaft ausgeschiedene Gesellschafter im Einspruchsverfahren gegen die gegenüber der Personengesellschaft für das Jahr des Ausscheidens ergangene einheitliche und gesonderte Feststellung der Einkünfte erreicht, dass für den Gewinn des Gesellschafters im Rahmen der Veräußerung seines vollständigen Mitunternehmeranteils eine Rücklage nach § 6b EStG gebildet wird, so ist das für die Einkommensteuer zuständige Finanzamt bei Ablauf der Reinvestitionsfrist berechtigt, den bereits bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid für das Jahr des Ablaufs der Reinvestitionsfrist nach § 174 IV AO zu ändern, die § 6b EStG-Rücklage gewinnerhöhend aufzulösen und einen Zuschlagsbetrag gem. § 6b VII EStG anzusetzen. (redaktioneller Leitsatz)
Schlagwort:
Bilanzierung
Rechtsmittelinstanzen:
BFH München, Urteil vom 12.07.2023 – X R 14/21
BFH München, Zwischenurteil vom 19.10.2022 – X R 14/21
Fundstellen:
EFG 2022, 1601
BeckRS 2021, 50877
LSK 2021, 50877

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.
3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1
Streitig ist die Änderung des Einkommensteuerbescheids 2010 aufgrund der wegen Ablaufs der Reinvestitionsfrist erforderlichen Auflösung einer Rücklage nach § 6b EStG.
2
Die Kläger wurden im Streitjahr 2010 antragsgemäß vom Beklagten, dem Finanzamt, zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Die Kläger erzielten im Streitjahr jeweils Einkünfte aus Gewerbebetrieb, aus Kapitalvermögen und aus Vermietung und Verpachtung, der Kläger zusätzlich noch sonstige Einkünfte aus Leibrenten.
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Das Finanzamt setzte die Einkommensteuer für das Streitjahr erstmalig mit dem Einkommensteuerbescheid 2010 vom 30. November 2012 fest und erließ am 7. Februar 2013, am 27. Oktober 2015, in dem der Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 164 Abs. 2 AO aufgehoben wurde, und am 8. Oktober 2018 jeweils geänderte Einkommensteuerbescheide. Dem letzten gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Abgabenordnung (AO) geänderten Einkommensteuerbescheid 2010 lag folgender Sachverhalt zugrunde:
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Der Kläger war seit dem 1. Februar 2000 u.a. an der A-KG mit Sitz in ... beteiligt. Zum 30. Juni 2006 veräußerte der Kläger seinen Mitunternehmeranteil und schied aus der A-KG aus. Am 15. September 2009 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der A-KG eröffnet. Das Finanzamt ... erließ erstmals am 27. August 2010 einen Feststellungsbescheid 2006 für die A-KG, der dem Kläger nicht wirksam bekanntgegeben wurde. Daraufhin gab das Finanzamt ... am 29. Oktober 2010 den Feststellungsbescheid 2006, der unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 164 Abs. 2 AO erging, an den Kläger nach § 183 Abs. 2 AO einzeln bekannt. Hinsichtlich des Bescheids wird auf die Kopie der Verfügung in den Akten verwiesen.
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Gegen diesen Bescheid legte der Kläger mit Schreiben vom 17. September 2010, eingegangen beim Finanzamt ... am 12. November 2010, Einspruch ein. Darin machte der Kläger u.a. geltend, dass für einen anderen früheren Mitgesellschafter für dessen Gewinn aus der Veräußerung seines Mitunternehmeranteils eine § 6b EStG Rücklage ausgewiesen worden sei. Ihm dagegen sei diese Möglichkeit verwehrt worden. Außerdem sei der Bescheid unwirksam, da der Bescheid an die Insolvenzmasse gerichtet sei. Da dem Bescheid der Feststellungsteil nach § 15a EStG fehle, sei der Bescheid nicht prüffähig. Das Finanzamt ... half dem Einspruch des Klägers ab und erließ am 24. November 2017 für die A-KG einen geänderten Bescheid für 2006 über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Besteuerungsgrundlagen und des verrechenbaren Verlustes nach § 15a Abs. 4 EStG, in dem es für den Gewinn des Klägers im Rahmen der Veräußerung seines Mitunternehmeranteils eine Rücklage nach § 6b EStG (im Folgenden: § 6b Rücklage) i.H.v. 1.006.814,34 € berücksichtigte (Bl. 127 Klageakte). Dieser Bescheid wurde nach § 164 Abs. 2 AO geändert und dem Kläger gemäß § 183 Abs. 2 AO (Einzelbekanntgabe) bekannt gegeben. Aufgrund der Mitteilung für 2006 vom 24. November 2017 änderte das Wohnsitzfinanzamt am 8. Oktober 2018 den Einkommensteuerbescheid 2006 und forderte davor den Kläger auf, mitzuteilen, wann die gebildete § 6b Rücklage gewinnerhöhend aufgelöst worden ist bzw. wird. Der Kläger teilte dem Beklagten mit, dass der Beklagte als Wohnsitzfinanzamt nicht für die Auflösung der § 6b Rücklage zuständig sei.
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Daraufhin erließ das Wohnsitzfinanzamt am 8. Oktober 2018 den gemäß § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO geänderten Einkommensteuerbescheid 2010, löste die im Feststellungsbescheid 2006 vom 24. November 2017 für den Kläger gebildete Rücklage steuerwirksam gemäß § 6b EStG auf und setzte beim Kläger in der Einkommensteuerbescheid 2010 zusätzlich Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.H.v. 1.248.450 € an.
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Hiergegen und gegen die geänderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags nach § 10d Abs. 4 EStG zum 31.12.2010 legten die Kläger Einspruch ein. Neben der fehlenden Zuständigkeit des Wohnsitzfinanzamts trugen die Kläger vor, dass die Auflösung der Rücklage bereits verjährt sei. Der geänderte Feststellungsbescheid 2006 vom 24. November 2017 sei kein Grundlagenbescheid für die Einkommensteuerveranlagung 2010. Mit Einspruchsentscheidung vom 3. Juli 2019 wies das Finanzamt den Einspruch als unbegründet zurück, wobei sich das Finanzamt auf die Änderungsvorschrift des § 174 Abs. 4 AO berief.
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Mit der gegen den Einkommensteuerbescheid 2010 erhobenen Klage verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Sie machen geltend, dass das Wohnsitzfinanzamt ihren Antrag auf Bildung einer § 6b-Rücklage zehn Jahre ignoriert habe. Erst das Finanzamt ... habe schließlich mit Feststellungsbescheid vom 24. November 2017 eine § 6b-Rücklage anerkannt. Da eine gebildete Rücklage bis zu einer Übertragung auf ein Reinvestitionsobjekt bei dem Betrieb weiterzuführen sei, bei der sie gebildet wurde, sei die Auflösung ausschließlich im Rahmen der gesonderten und einheitlichen Feststellung zu klären. Nur so könne der gesetzlichen Vorgabe Rechnung getragen werden, dass die Bildung und Auflösung einer Rücklage nach § 6b EStG aus der Buchführung nachvollzogen werden könne. Genau dies sei aber mangels Buchführung auf der Ebene der privaten Einkommensteuer denklogisch nicht möglich. Die Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 AO lägen nicht vor, da der Feststellungsbescheid vom 24. November 2017 der erste wirksam an den Kläger bekanntgegebene Bescheid gewesen sei. Somit sei kein geänderter Steuerbescheid, sondern ein Erstbescheid ergangen. Für die A-KG sei am 21. Januar 2010 bereits ein erster Feststellungsbescheid erstellt worden, der dem Kläger nie wirksam bekanntgegeben worden sei.
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Die vom Finanzamt ... übersandte Verfügungskopie mit Datum 29. Oktober 2010 stelle nach den vorliegenden Akten keinen wirksam bekanntgegebenen Erstbescheid dar, denn nach den hierzu ergangenen eigenen Anweisungen der Finanzverwaltung der Oberfinanzdirektion ...hätte der ursprüngliche Bescheid vom 21. Januar 2010 mit unverändertem Inhalt bekanntgegeben werden müssen. Mit seiner Bekanntgabe an einzelne Feststellungsbeteiligte entfalte er nur diesen gegenüber Wirksamkeit. Außerdem sei bei der vorgelegten Verfügung nicht klar, ob es sich um eine inhaltsgleiche Abschrift des an den Kläger übermittelten Schriftstücks handele. Die Seite 3 fehle zumindest vollständig. Der Bescheid hätte darüber hinaus trotz des Insolvenzverfahrens an die Personengesellschaft adressiert werden müssen und aus dem Feststellungsbescheid hätten sich alle Gesellschafter eindeutig als Betroffene aus dem für die Verteilung vorgesehenen Teil des Bescheids ergeben müssen. Dies sei in der vom Finanzamt ... übersandten Verfügung nicht beachtet worden. Der Bescheid richte sich an das Insolvenzvermögen, obwohl die gesonderte Feststellung insolvenzfrei sei, da sie sich an die Gesellschafter und nicht an das Gesellschaftsvermögen richte. Ferner seien weder die betroffenen Gesellschafter noch die Ergebnisverteilung ersichtlich. Für den Kläger sei nicht erkennbar, wer von dem Bescheid noch betroffen sei bzw. an welche Gesellschafter sich der Bescheid noch richte oder wie sich das Ergebnis der Gesellschaft verteile. Im Streitfall sei der Steuerpflichtige nicht mit einer Adresse bezeichnet worden. Die Gesellschaft selbst sei auch nicht benannt, sondern das Vermögen der Gesellschaft. Daneben fehle die erforderliche Bezeichnung des Vertretungsberechtigten der Gesellschaft, an den sich der vermeintliche Bescheid richten solle. Dies wäre mindestens ein zur Vertretung berufener Gesellschafter. Der Kläger sei dies aufgrund seines Ausscheidens nicht. Die Falschbezeichnung könne nur unbeachtlich sein, wenn sich aus dem Feststellungsbescheid alle Inhaltsadressaten eindeutig ergäben (vgl. Bundesfinanzhof-BFH-Urteil vom 26. September 1974 IV R 24/71). Außerdem sei stets gerügt worden, dass aus den übersandten Unterlagen nicht hervorginge, ob Kopien eines bisherigen Bescheids übersandt würden oder tatsächlich ein Bekanntgabewille bestehe. Die Übermittlung von Kopien von Bescheiden erfülle nicht den Bekanntgabezweck, wenn die Kopien lediglich zum Zwecke der Unterrichtung übersandt würden. Aufgrund dieser schwerwiegenden Mängel ergebe sich, dass das Finanzamt ... mit Verfügung vom 29. Oktober 2010 keinen wirksamen Erstbescheid erlassen habe, selbst wenn die Verfügung mit dem Bescheid identisch sein sollte. Erst in der übersandten Bescheidkopie vom 24. November 2017 habe das Finanzamt ... erstmals einen wirksamen Feststellungsbescheid gegenüber dem Kläger erlassen. Statt der Insolvenzmasse sei nunmehr die Personengesellschaft bezeichnet worden, auch wenn deren Liquidationsstatus nicht erwähnt worden sei bzw. diese zum Zeitpunkt der Bekanntgabe vollbeendet gewesen sei.
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Es sei zwar richtig, dass der nicht wirksam bekanntgegebene Bescheid mit Einspruch angefochten worden sei. Dies sei aufgrund des Rechtsscheins des Bescheids auch notwendig gewesen. In diesem Einspruchsverfahren sei u.a. die fehlerhafte Adressierung und die Unwirksamkeit des Bescheids gerügt worden.
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Der Kläger beantragt,
den Einkommensteuerbescheid 2010 vom 30. November 2012, geändert durch Bescheide vom 7. Februar 2013, 27. Oktober 2015 und 8. Oktober 2018 sowie die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 3. Juli 2019, zuletzt geändert mit Bescheid vom 10. Juni 2021 dahingehend zu ändern, dass die Auflösung der Rücklage nach § 6b EStG aus der Beteiligung an der A-KG nicht berücksichtigt wird und die Einkünfte des Klägers aus Gewerbebetrieb um 1.248.449 € herabgesetzt werden,
hilfsweise die Revision zuzulassen.
12
Das Finanzamt beantragt,
die Klage abzuweisen.
13
Das Finanzamt verweist zur Begründung auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung vom 3. Juli 2019. Das Finanzamt trägt weiter vor, dass nach Aktenlage die Kläger die Wirksamkeit des Feststellungsbescheids 2006 für die A-KG bestritten hätten und deshalb die Einzelbekanntgabe beantragt worden sei. Die Einzelbekanntgabe sei durch Bescheid vom 29. Oktober 2010 nachgeholt worden. Gegen diesen Bescheid haben die Kläger mit Schreiben vom „17.09.2010“ auch Einspruch eingelegt.
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Entgegen der Rechtsauffassung des Klägers sehe das Finanzamt in der Bezeichnung der Personengesellschaft in der Verfügung vom 29. Oktober 2010 keine völlig falsche oder so ungenaue Bezeichnung, als dass der Verwaltungsakt wegen inhaltlicher Unbestimmtheit nichtig und damit unwirksam sei. Vielmehr handele es sich lediglich um eine ungenaue Bezeichnung der Rechtsform der Personengesellschaft, ohne dass Zweifel an der Identität bestünden. Der Verwaltungsakt sei somit nicht unwirksam. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass lediglich die Sammelbezeichnung (Personengesellschaft) und nicht der Inhaltsadressat (Kläger) ungenau bezeichnet worden sei. Auch der Umstand, dass in der Verfügung vom 29. Oktober 2010 neben der Personengesellschaft (Sammelbezeichnung) als Betroffener (Inhaltsadressat) lediglich der Kläger angegeben sei, führe nicht zur Nichtigkeit des Verwaltungsakts. Der Kläger habe die Höhe der Einkünfte der Personengesellschaft, die Anzahl der Beteiligten und seinen Anteil an den Einkünften der Personengesellschaft aus dem Bescheid erkennen können. Danach liege eine wirksame Einzelbekanntgabe gemäß § 183 Abs. 2 Satz 2 und 3 AO vor. Hierzu verweist das Finanzamt auch auf den Kommentar Tipke/Kruse, wonach bei einer Einzelbekanntgabe die Mitteilung derjenigen Positionen, die zum Verständnis des Bescheids erforderlich seien und den jeweiligen Beteiligten unmittelbar betreffen, genügten. Nach Auffassung des Finanzamts stelle die Verfügung vom 29. Oktober 2010 einen wirksamen Steuerbescheid i.S.v. § 174 Abs. 4 und 5 AO dar.
15
Am 10. Juni 2021 erließ das Finanzamt einen mit einer Nebenbestimmung hinsichtlich der Höhe des Gewinnzuschlages nach § 6b Abs. 7 EStG geänderten Einkommensteuerbescheid 2010.
16
Wegen des weiteren Sachverhalts und hinsichtlich des weiteren rechtlichen Vortrags wird auf die vom Finanzamt vorgelegten Akten und die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze und Unterlagen Bezug genommen.
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Es fand mündliche Verhandlung statt. Auf die Sitzungsniederschrift vom 10. Juni 2021 wird verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist unbegründet. Das Finanzamt hat zu Recht im Einkommensteuerbescheid 2010 die § 6b EStG Rücklage aufgelöst und einen Zuschlagsbetrag gemäß § 6b Abs. 7 EStG angesetzt.
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1. Die Klage ist zulässig, obwohl die Einkommensteuer 2010 im Bescheid vom 8. Oktober 2018 mit 0 € festgesetzt ist. Denn die Kläger sind im Hinblick auf die gesonderte Verlustfeststellung gemäß § 10d Abs. 4 Satz 4 EStG auch bei einem sog. Nullbescheid beschwert.
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2. Die Änderung des Einkommensteuerbescheids 2010 vom 8. Oktober 2018 gemäß § 174 Abs. 4 AO war zulässig.
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2.1. Ist aufgrund irriger Beurteilung eines bestimmten Sachverhalts ein Steuerbescheid ergangen, der auf Grund eines Rechtsbehelfs oder sonst auf Antrag des Steuerpflichtigen durch die Finanzbehörde zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird, so können aus dem Sachverhalt nachträglich durch Erlass oder Änderung eines Steuerbescheids die richtigen steuerlichen Folgerungen gezogen werden (§ 174 Abs. 4 Satz 1 AO). Gemäß § 174 Abs. 3 AO ist der Ablauf der Festsetzungsfrist unbeachtlich, wenn die steuerlichen Folgerungen innerhalb eines Jahres nach Aufhebung oder Änderung des fehlerhaften Steuerbescheids gezogen werden.
22
Durch § 174 AO soll die Finanzbehörde die Möglichkeit erhalten, in bestimmten Fällen der materiellen Richtigkeit Vorrang einzuräumen, indem vermieden wird, dass Steuerfestsetzungen bestehen bleiben, die inhaltlich zueinander im Widerspruch stehen (vgl. BFH-Urteil vom 28. Januar 2009 X R 27/07, BStBl. II 2009, 620). Die Vorschrift setzt hinsichtlich der verfahrensmäßigen Abfolge voraus, dass ein angefochtener Bescheid als irrig erkannt und deswegen auf Antrag des Steuerpflichtigen zu seinen Gunsten aufgehoben oder geändert wird. Dieser Umstand löst sodann die Rechtsfolge des § 174 Abs. 4 AO aus, nämlich, dass ein anderer Bescheid erlassen oder geändert werden kann. Die Vorschrift zieht somit die verfahrensrechtliche Konsequenz daraus, dass der andere Bescheid nunmehr eine „widerstreitende Steuerfestsetzung“ enthält, wie sie das Gesetz nach der amtlichen Überschrift zu § 174 AO voraussetzt (vgl. BFH-Urteile vom 11. Mai 2010 IX R 25/09, BStBl II 2010, 953 und vom 28. Januar 2009, X R 27/07, BStBl II 2009, 620; Beschluss des Großen Senats des BFH vom 10. November 1997 GrS 1/96, BStBl II 1998, 83).
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Irrige Beurteilung eines Sachverhaltes bedeutet, dass sich die Beurteilung eines bestimmten Sachverhaltes nachträglich als unrichtig erweist (BFH-Urteile vom 19. November 2003 I R 41/02, BFH/NV 2004, 604). Unter einem „bestimmten“ Sachverhalt i.S. des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO ist der einzelne Lebensvorgang zu verstehen, an den das Gesetz steuerliche Folgen knüpft. Der Begriff des bestimmten Sachverhalts ist dabei nicht auf eine einzelne steuererhebliche Tatsache oder ein einzelnes Merkmal beschränkt, sondern erfasst den einheitlichen, für diese Besteuerung maßgeblichen Sachverhaltskomplex. Unerheblich ist, ob der für die rechtsirrige Beurteilung maßgebliche Fehler im Tatsächlichen oder im Rechtlichen gelegen hat (BFH-Urteile vom 19. November 2003 I R 41/02, BFH/NV 2004, 604; vom 18. März 2004 V R 23/02, BStBl II 2004, 763; vom 2. Mai 2001 VIII R 44/00, BStBl II 2001, 562).
24
Die Vorschrift ermöglicht es den Finanzbehörden, im Falle der Aufhebung oder Änderung einer unrichtigen Steuerfestsetzung oder Feststellung von Besteuerungsgrundlagen auf Betreiben des Steuerpflichtigen den nunmehr unberücksichtigten Sachverhalt in dem richtigen Bescheid zu erfassen. Der Steuerpflichtige soll im Falle seines Obsiegens an seiner Auffassung festgehalten werden, soweit derselbe Sachverhalt zu beurteilen ist (BFH-Urteil vom 21. August 2007 I R 74/06, BStBl II 2008, 277). Die der Finanzbehörde durch § 174 Abs. 4 AO eingeräumte Möglichkeit, einen bestandskräftigen Steuerbescheid nachträglich zu ändern, findet ihre Rechtfertigung im fehlenden schutzwürdigen Vertrauen des Steuerpflichtigen. Denn derjenige, der erfolgreich für seine Rechtsansicht gestritten hat, muss auch die damit verbundenen Nachteile hinnehmen (vgl. BFH-Urteile vom 11. Mai 2010 IX R 25/09, BStBl. II 2010, 953; vom 28. Januar 2009 X R 27/07, BStBl. II 2009, 620 und vom 10. März 1999 XI R 28/98, BStBl. II 1999, 475). Die Einheitlichkeit des Lebenssachverhalts und das Interesse an seiner übereinstimmenden steuerrechtlichen Beurteilung erlauben es, unter diesen Voraussetzungen einer zutreffenden Besteuerung den Vorrang vor dem Schutz des Vertrauens auf die Bestandskraft der Steuerfestsetzung zu geben (vgl. BFH-Urteil vom 28. Januar 2009 X R 27/07, BStBl. II 2009, 620).
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2.2. Unter der Berücksichtigung dieser Rechtsgrundsätze durfte das Finanzamt den Einkommensteuerbescheid 2010 vom 27. Oktober 2015 nach § 174 Abs. 4 AO ändern.
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2.2.1. Der Feststellungsbescheid 2006 vom 29. Oktober 2010 war rechtswidrig, aber gleichwohl ein wirksamer Steuerbescheid, der vom Finanzamt ... geändert wurde. Das Finanzamt ... hat den Feststellungsbescheid 2006 vom 29. Oktober 2010 zutreffend - nach dem Wortlaut des Bescheids ausdrücklich - nach § 183 Abs. 2 AO an den Kläger einzeln bekanntgegeben. Mit seiner Bekanntgabe ist der Bescheid dem Kläger gegenüber mit dem bekannt gegebenen Inhalt wirksam.
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2.2.1.1. Fehlen einem Steuerbescheid unverzichtbare wesentliche Bestandteile (§ 157 Abs. 1 Satz 2 AO), die dazu führen, dass dieser inhaltlich nicht hinreichend bestimmt ist (§ 119 Abs. 1 AO), so ist ein solcher Verwaltungsakt gemäß § 125 Abs. 1 AO nichtig und damit unwirksam (§ 124 Abs. 3 AO). Eine Heilung derartiger Fehler ist nicht möglich, vielmehr ist ein neuer Verwaltungsakt zu erlassen (BFH-Urteil vom 17. Juli 1986 V R 96/85, BStBl II 1986, 834).
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2.2.1.2. Inhaltsadressat eines Feststellungsbescheides ist der Feststellungsbeteiligte, gegen den sich die Feststellungen richten (vgl. § 181 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 157 Abs. 1 Satz 2 AO). Der Feststellungsbeteiligte ist regelmäßig identisch mit demjenigen, dem der Gegenstand der Feststellung bei der Besteuerung zuzurechnen ist (vgl. § 179 Abs. 2 Satz 1 AO; BFH-Urteil vom 30. Januar 2018 VIII R 20/14, BStBl II 2018, 487). Im Streitfall ist Inhaltsadressat der Kläger.
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Ein Gewinnfeststellungsbescheid richtet sich inhaltlich nicht an die Gesellschaft, sondern an die einzelnen Gesellschafter als Subjekte der Einkommensteuer (z.B. BFH-Urteil vom 27. Mai 2004 IV R 48/02, BStBl II 2004, 964). Gleichwohl ist ein solcher Bescheid grundsätzlich nach § 183 Abs. 1 AO einem von den Feststellungsbeteiligten bestellten gemeinsamen Empfangsbevollmächtigten mit Wirkung für und gegen alle Feststellungsbeteiligten bekannt zu geben. Ist ein Empfangsbevollmächtigter nach § 183 Abs. 1 Satz 1 AO vorhanden, kann gemäß § 183 Abs. 3 Satz 1 AO ein Feststellungsbescheid auch mit Wirkung gegenüber einem - wie im Streitfall - aus der Gesellschaft ausgeschiedenen Feststellungsbeteiligten bekannt gegeben werden, soweit und solange dieser Beteiligte nicht widersprochen hat. Andernfalls ist nach § 183 Abs. 2 Satz 1 AO gegenüber dem ausgeschiedenen Gesellschafter Einzelbekanntgabe erforderlich. Nach § 183 Abs. 2 Satz 2 AO bedeutet dies, dass dem Feststellungsbeteiligten der Gegenstand der Feststellung, die alle Beteiligten betreffenden Besteuerungsgrundlagen, sein Anteil, die Zahl der Beteiligten und die ihn persönlich betreffenden Besteuerungsgrundlagen bekannt zu geben sind. Der gesamte Inhalt des Feststellungsbescheids ist dem Beteiligten nur bei berechtigtem Interesse bekannt zu geben (§ 183 Abs. 2 Satz 3 AO; vgl. BFH-Urteil vom 19. Juli 2011 IV R 42/10, BStBl II 2011, 878).
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2.2.1.3. Die Einzelbekanntgabe des Bescheids vom 29. Oktober 2010 wird diesen Anforderungen gerecht. Der Kläger hat gegenüber dem Feststellungsfinanzamt ausdrücklich die Einzelbekanntgabe beantragt, da der Kläger zum 30. Juni 2006 aus der Gesellschaft ausgeschieden ist und nach dem Ausscheiden verschiedene Meinungsverschiedenheiten mit den Erwerbern der Gesellschaftsanteile aufgetreten sind (vgl. Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 11. März 2008 Bl. 41 ff. Klageakte).
31
Der Kläger ist als Inhaltsadressat des Feststellungsbescheids vom 29. Oktober 2010 ausdrücklich genannt (sowohl im Anschriftenfeld als auch auf Seite 2 bei Aufteilung der Besteuerungsgrundlagen für den Gesellschafter). Im Streitfall handelt es sich um einen an den Kläger einzeln bekannt gegebenen Bescheid, so dass unzweifelhaft ist, an wen sich der Bescheid richtet. Dass die Gesellschaft, die nicht Inhaltsadressat eines Feststellungsbescheids ist, unter dem Insolvenzverfahren und Insolvenznummer genannt ist, macht den Feststellungsbescheid nicht unwirksam. Denn der Kläger als Inhaltsadressat konnte erkennen, dass sich der Bescheid auf seine Beteiligung an der A-KG bezieht (vgl. BFH-Beschluss vom 17. Juni 2014 IV B 184/13, BFH/NV 2014, 1563).
32
Der Bescheid entspricht inhaltlich den Anforderungen des § 183 Abs. 2 Satz 2 AO, denn er enthält den Gegenstand der Feststellung, die alle Beteiligten betreffenden Besteuerungsgrundlagen (u.a. Einkünfte aus Gewerbebetrieb), die Zahl der Beteiligten, den Anteil des Klägers sowie die ihn persönlich betreffenden Besteuerungsgrundlagen. Die Einkünfte des Klägers aus Gewerbebetrieb sind auch gesondert vor und nach Anwendung des § 15a EStG dargestellt.
33
Das Finanzamt ... erließ den Feststellungsbescheid vom 29. Oktober 2010 gegenüber dem Kläger auch mit Bekanntgabewille. Anhaltspunkte dafür, dass der Feststellungsbescheid vom 29. Oktober 2010 vom Finanzamt ... nicht zu dem Zweck übersendet worden ist, die an eine Bekanntgabe geknüpften Rechtsfolgen herbeizuführen, sondern nur der Information des Empfängers über den Inhalt eines bei den Akten befindlichen Schriftstücks dienen soll (vgl. BFH-Urteil vom 18. März 2014 VIII R 9/10, BStBl II 2014, 748), liegen im Streitfall nicht vor. So ist auf der vom Finanzamt vorgelegten Kopie der Verfügung ausdrücklich das Datum des Bescheids, der Vorbehaltsvermerk und unter Erläuterungen der Änderungsvermerk händisch korrigiert und ein Verfügungsvermerk angebracht. Selbst der Kläger geht in seinem Einspruchsschreiben vom „17. September 2010“ davon aus, dass er Einspruch gegen einen Feststellungsbescheid einlegt (Bl. 56 ff Klageakte: „namens und im Auftrag unseres o.g. Mandanten legen wir Einspruch gegen die o.g. Feststellungsbescheide (Feststellungsbescheide 2005/2006 vom 29. Oktober 2010) ein…“).
34
Dass der Feststellungsbescheid 2006 vom 29. Oktober 2010 nur noch als Verfügung und ohne Seite 3 (Erläuterungen) vom Finanzamt ... vorgelegt werden konnte, führt nicht zur Unwirksamkeit des Bescheids. Selbst wenn dem Bescheid eine Rechtsbehelfsbelehrunggefehlt haben sollte, macht dies den Bescheid nicht unwirksam, sondern verlängert gemäß § 356 Abs. 2 AO die Einspruchsfrist auf ein Jahr. Da der Feststellungsbescheid 2006 vom 29. Oktober 2010 unstreitig an den Kläger ergangen ist, kann in den Akten nur noch ein Entwurf, Abdruck oder sonstige Zweitschrift bzw. Kopie vorhanden sein. Weiter ist unstreitig, dass der Kläger gegen den Feststellungsbescheid 2006 innerhalb der Einspruchsfrist mit Schreiben vom 17. September 2010, eingegangen am 12. November 2010, Einspruch eingelegt hat (Bl. 56 ff. Klageakte). Dass im Feststellungsbescheid 2006 vom 29. Oktober 2010 beim Kläger die Verteilungsquote ab 01.05.2006 mit 0/100 angegeben ist, obwohl der Kläger laut Bescheid erst am 30. Juni 2006 ausgeschieden ist, macht den Bescheid nicht unwirksam.
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2.2.2. Die Änderung des Feststellungsbescheids 2006 erfolgte gemäß § 164 Abs. 2 AO im Rahmen des Einspruchsverfahrens mit Bescheid vom 24. November 2017 aufgrund eines Rechtsbehelfs des Klägers.
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Der Kläger verfolgte mit seinem Einspruch vom 17. September 2010, eingegangen am 12. November 2010, das Ziel der Bildung einer Rücklage gemäß § 6b EStG i.H. des mit der Veräußerung seines KG-Anteils entstandenen Gewinns. Die Nichtberücksichtigung einer § 6b EStG-Rücklage im Feststellungsbescheid vom 29. Oktober 2010 war objektiv unzutreffend, wovon letztlich auch das Finanzamt ... im Einspruchsverfahren ausging.
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Der Beklagte hat aufgrund irriger Beurteilung des Sachverhalts die Auflösung der § 6b EStG-Rücklage bei der Veranlagung des Streitjahres nicht berücksichtigt. Durch die Bildung einer Rücklage gemäß § 6b EStG soll die Versteuerung aufgedeckter stiller Reserven nur hinausgeschoben, aber nicht beseitigt werden. Da laut Feststellungsbescheid 2006 vom 29. Oktober 2010 fehlerhaft keine Rücklage für den Kläger berücksichtigt war, hat das für die Einkommensteuer zuständige Finanzamt irrig nicht die Auflösung der Rücklage berücksichtigt. Dabei handelt es sich bei Bildung der Rücklage und dessen späteren Auflösung um einen Lebenssachverhalt, an den das Gesetz die steuerlichen Folgen knüpft. Der bestimmte Sachverhalt ist nicht periodenbezogen beschränkt (BFH-Urteil vom 14. November 2012 I R 53/11, BFH/NV 2013, 690). Mit der Bildung einer Rücklage ist aber gemäß § 6 Abs. 3 EStG auch immer entweder eine Übertragung auf andere Wirtschaftsgüter oder die Auflösung verbunden.
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2.2.3. Diese „einseitige“ Wirkung der Regelung des § 174 Abs. 4 AO steht letztlich im Einklang mit dem Zweck der Vorschrift, wonach bei einer antragsgemäßen Änderung des Steuerbescheides zu Gunsten des betroffenen Steuerpflichtigen der Finanzverwaltung die Durchsetzung des sich aus demselben Sachverhalt ergebenden materiell-rechtlich richtigen Steueranspruchs ermöglicht werden soll (vgl. BFH-Urteil vom 24. März 1981 VIII R 85/80, BStBl II 1981, 778; vgl. auch BTDrucks VI/1982, 153, 154). Diese ungleiche Berücksichtigung ist Ausfluss des vom Gesetzgeber vorgenommenen Ausgleichs zwischen Bestandskraft und materieller Gerechtigkeit. Der Gesetzgeber hat bei der Abwägung dieser beiden Prinzipien dem Prinzip der materiellen Gerechtigkeit in den Fällen des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO den Vorzug gegeben. Es ist nicht Aufgabe der Gerichte, diese verfassungsrechtlich unbedenkliche Abwägung des Gesetzgebers zu korrigieren (BFH-Urteil vom 14. November 2012 I R 53/11, BFH/NV 2013, 690).
39
2.2.4. Der Einkommensteueränderungsbescheid vom 8. Oktober 2018, zuletzt geändert am 10. Juni 2021, ist selbst bei Angabe einer fehlerhaften Änderungsgrundlage (hier: § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. AO) rechtmäßig, falls er durch den Tatbestand einer anderen Änderungsvorschrift gedeckt ist (vgl. BFH-Beschluss vom 12. August 2013 X B 196/12, BFH/NV 2013, 1761). In der Einspruchsentscheidung hat das Finanzamt auf die Änderungsvorschrift des § 174 Abs. 4 AO verwiesen.
40
3. Da die Voraussetzungen des § 174 Abs. 4 Satz 1 AO vorlagen, durfte das Finanzamt durch Erlass des Änderungsbescheids für das Streitjahr 2010 die zutreffenden steuerlichen Konsequenzen ziehen. Die vom Kläger im Feststellungsbescheid 2006 gebildete Rücklage war nach Ablauf des Vierjahreszeitraums gemäß § 6b Abs. 3 Satz 5 EStG vom Finanzamt zu Recht i.H.v. 1. 006.814,34 € im Streitjahr 2010 gewinnerhöhend aufzulösen und ein Zuschlag i.H.v. 241.635,44 € gemäß § 6b Abs. 7 EStG anzusetzen. Anhaltspunkte für Reinvestitionsmaßnahmen, die zu einer Übertragung der Rücklage nach § 6b Abs. 1 EStG berechtigt oder einer Auflösung im Streitjahr 2010 entgegengestanden hätten, sind weder vorgetragen noch aus den Akten ersichtlich.
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3.1. Nach § 6b Abs. 1 EStG können Gewinne aus der Veräußerung von Grund und Boden u.a. von den Anschaffungskosten des Grund und Bodens, die im Wirtschaftsjahr der Veräußerung oder im vorangegangenen Wirtschaftsjahr entstanden sind, abgezogen werden. Soweit ein Abzug nicht vorgenommen wird, kann nach § 6b Abs. 3 EStG im Wirtschaftsjahr der Veräußerung eine den steuerlichen Gewinn mindernde Rücklage gebildet werden. Bis zur Höhe der Rücklage können sodann die Anschaffungs- oder Herstellungskosten nach § 6b EStG begünstigter Wirtschaftsgüter, die in den folgenden vier Wirtschaftsjahren angeschafft oder hergestellt werden, im Wirtschaftsjahr ihrer Anschaffung oder Herstellung gekürzt werden. In Höhe des Kürzungsbetrags ist die Rücklage aufzulösen. Ist eine Rücklage am Schluss des vierten auf ihre Bildung folgenden Wirtschaftsjahrs noch vorhanden, ist sie nach § 6b Abs. 3 Satz 5 EStG zu diesem Zeitpunkt mit einem Gewinnzuschlag nach § 6b Abs. 7 EStG von 6% für jedes volle Wirtschaftsjahr, in dem die Rücklage bestanden hat, gewinnerhöhend aufzulösen.
42
Die Auflösung einer bei Veräußerung oder Aufgabe des ganzen Gewerbebetriebs gebildeten Rücklage führt zu einkommensteuerpflichtigen nachträglichen gewerblichen Einkünften gemäß § 24 Nr. 2 EStG (BFH-Urteil vom 4. Februar 1982 IV R 150/78, BStBl II 1982, 348).
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3.2. Im Rahmen der Veräußerung seines Gesellschaftsanteils an der A-KG hat der Kläger für den Veräußerungsgewinn eine Rücklage gemäß § 6b EStG gebildet. Diese Rücklage hat das Finanzamt ... schließlich im Feststellungsbescheid 2006 der A-KG vom 24. November 2017 einheitlich und gesondert festgestellt. Dieser Feststellungsbescheid 2006 war Grundlagenbescheid für die Einkommensbesteuerung der Kläger im Jahr 2006.
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3.2.1. Eine Rücklage nach § 6b Abs. 3 EStG kann auch mit dem Ziel gebildet werden, den beim Ausscheiden eines Gesellschafters (Mitunternehmer) aus einer Personengesellschaft anfallenden Veräußerungsgewinn zu vermeiden. Darüber entscheidet das für die Feststellung des Gewinns der Gesellschaft zuständige Finanzamt, aus der der Gesellschafter ausgeschieden ist (BFH-Urteil vom 25. Juli 1979 I R 175/76, BStBl II 1980, 43).
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Rücklagen i.S. des § 6b Abs. 3 EStG sind in der für die Mitunternehmerschaft aufzustellenden Bilanz zu bilden. Das gilt auch für ausgeschiedene Gesellschafter (BFH-Urteil vom 25. Januar 2006 IV R 14/04, BStBl II 2006, 418). Der Ansicht der Finanzverwaltung Schleswig-Holstein, dass bereits die Bildung der § 6b-Rücklage bei Veräußerung eines gesamten Mitunternehmeranteils auf der Ebene des veräußernden Gesellschafters durch Abgabe entsprechender Bilanzen im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung auszuüben ist, kann nicht gefolgt werden (FinMin Schleswig-Holstein vom 2. September 2014 VI 306-S. 2139-134, DStR 2014, 2180).
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Die Bildung einer Rücklage ist auch möglich, wenn wegen der Aufgabe des Betriebs eine Reinvestition nicht mehr in Betracht kommt. Nach der Rechtsprechung des BFH ist bei einer Betriebsveräußerung oder Betriebsaufgabe eine Reinvestitionsabsicht nicht erforderlich. Es genügt, dass die spätere Übertragung der Rücklage auf ein begünstigtes Reinvestitionsobjekt am Bilanzstichtag objektiv möglich ist (BFH-Urteil vom 12. Dezember 2000 VIII R 10/99, BStBl II 2001, 282). Der Steuerpflichtige hat ein Wahlrecht, den Gewinn aus der Veräußerung eines Mitunternehmeranteils entweder im Zeitpunkt der Realisierung tarifbegünstigt zu versteuern oder nach Maßgabe des § 6b EStG unabhängig von einer konkreten Reinvestitionsabsicht durch Rücklagenbildung die Versteuerung zeitlich hinauszuschieben. Allerdings unterliegen im letztgenannten Fall die Einkünfte aus der Auflösung der im Zuge der Veräußerung des Mitunternehmeranteils gebildeten Rücklage nicht mehr der gerade aus dieser Veräußerung abgeleiteten Tarifvergünstigung. Aus der Verzichtbarkeit einer konkreten Reinvestitionsabsicht folgt zugleich, dass es auf die Gewinnerzielungsabsicht des Betriebes, auf dessen Wirtschaftsgüter die stillen Reserven nach Auskunft des Steuerpflichtigen übertragen werden sollen, nicht ankommt (BFH-Urteil vom 7. März 1996 IV R 34/95, BStBl II 1996, 568).
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3.2.2. Das Finanzamt durfte im Einkommensteuerbescheid 2010 vom 8. Oktober 2018 die Einkünfte des Klägers aus Gewerbebetrieb um 1.248.450 € erhöhen.
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3.2.2.1. Maßgeblich für die Bildung und Auflösung der § 6b EStG-Rücklage ist dabei grundsätzlich die Steuer- bzw. Sonderbilanz des „veräußernden“ Betriebs. Denn in diesem Betrieb ist der Veräußerungsgewinn angefallen, der durch die Bildung der Rücklage neutralisiert werden soll. Da die § 6b-Rücklage aber, wie dargelegt, ausschließlich der Neutralisation des Veräußerungsgewinns im Veräußerungsbetrieb dient, kann über das weitere Schicksal der Rücklage während des Reinvestitionszeitraums auch nur durch die Ausübung des Bilanzierungswahlrechts in diesem Betrieb entschieden werden. Für diese Beurteilung spricht auch die Regelung in § 6b Abs. 4 Satz 1 Nr. 5 EStG. Danach muss die Bildung und Auflösung der Rücklage nach § 6b Abs. 3 EStG in der Buchführung verfolgt werden können. Da die Verfolgbarkeit in der Buchführung an die Buchführung im nämlichen Betrieb anknüpft, kommt insoweit nur die Behandlung der Rücklage und damit auch die Ausübung des Wahlrechts zur Auflösung im veräußernden Betrieb in Betracht (BFH-Urteil vom 19. Dezember 2012 IV R 41/09, BStBl II 2013, 313).
49
3.2.2.2. Im Streitfall durfte das Wohnsitzfinanzamt im Einkommensteuerbescheid 2010 vom 8. Oktober 2018 aber die durch die zwangsläufige Auflösung der § 6b-Rücklage entstandenen Einkünfte aus Gewerbebetrieb i.H.v. 1.248.450 € berücksichtigen, da der Kläger seit dem 30. Juni 2006 aus der Mitunternehmerschaft ausgeschieden ist und für die Gesellschaft am 15. September 2009 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde.
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Im Streitfall hat das Finanzamt ... die Rücklage nach § 6b EStG für einen reinvestitionsfähigen, im Veräußerungsgewinn für den Mitunternehmeranteil enthaltenen Gewinn erstmals im Feststellungsbescheid 2006 vom 24. November 2017 gebildet. Die spätere gewinnerhöhende Auflösung der Rücklage führt zu nachträglichen, nicht i.S.d. §§ 16, 34 EStG begünstigten Einkünften (vgl. BFH-Urteil vom 4. Februar 1982 IV R 150/78, BStBl II 1982, 348). Diese nachträglichen Einkünfte sind im Streitfall, anders als für nachträgliche Sondervergütungen ausdrücklich in § 15 Abs. 1 Satz 2 EStG geregelt, nicht mehr Gegenstand des Feststellungsverfahren.
51
Zwar wird die Ansicht vertreten, dass auch nach dem Ausscheiden aus einer Mitunternehmerschaft die § 6b-Rücklage im Rahmen der Gewinnermittlung der Personengesellschaft fortzuführen ist (Schießl in Blümich, EStG, § 6b EStG Rn. 291; Bolk in DStR 2015, 1355). Im Falle der Veräußerung des ganzen Mitunternehmeranteils ist aber die Auflösung der Rücklage durch das Finanzamt des Gesellschafters zulässig (Loschelder in Schmidt, EStG, § 6b EStG Rn. 58; Carle/Strahl in Korn § 6b EStG Rn. 30.2; Neu/Hamacher GmbHR 2016, 1). Denn die nachträglichen Einkünfte nach § 24 Nr. 2 EStG aus der Auflösung der § 6b Rücklage sind nicht mehr einheitlich und gesondert festzustellen. Da der Kläger nicht mehr an der A-KG beteiligt ist, konnte das Finanzamt ... nicht im Rahmen des Feststellungsverfahren durch Feststellungsbescheid über die Fortführung bzw. Auflösung der § 6b-Rücklage des Klägers entscheiden. Zwar ist nach der Rechtsprechung des BFH das Bilanzierungswahlrecht durch entsprechenden Bilanzansatz im „veräußernden“ Betrieb auszuüben, so dass für das Schicksal der Rücklage maßgeblich auf die Bilanz des veräußernden Betriebs abzustellen ist. Da die Verfolgbarkeit in der Buchführung an die Buchführung des nämlichen Betriebs anknüpft, kommt insoweit nur die Behandlung der Rücklage und damit auch die Ausübung des Wahlrechts zur Auflösung im veräußernden Betrieb in Betracht (BFH-Urteil vom 19. Dezember 2012 IV R 41/09 BStBl II 2013, 313). Im Fall des BFH ist aber anders als im Streitfall der Steuerpflichtige weiterhin an der Mitunternehmerschaft beteiligt und übt dadurch sein Bilanzierungswahlrecht in der beim Finanzamt eingereichten Bilanz aus. Im Streitfall dagegen ist der Kläger nach dem Ausscheiden zum 30. Juni 2006 nicht mehr Gesellschafter der A-KG. An den Feststellungsverfahren der Folgejahre war der Kläger nicht mehr als Gesellschafter beteiligt. Außerdem wurde im Streitfall bereits am 15. September 2009 das Insolvenzverfahren über das Vermögen der A-KG eröffnet, die gebildete § 6b-Rücklage aber erst mit Bescheid vom 24. November 2017 einheitlich und gesondert festgestellt. Für die Auflösung durch den Beklagten spricht auch, dass der Kläger im Streitfall gerade nicht sein Wahlrecht zur Übertragung oder Auflösung der Rücklage gegenüber dem Finanzamt ... ausgeübt hat, sondern das Wohnsitzfinanzamt die Rücklage zwangsläufig wegen Fristablaufs auflöste. So ist auch nach Ansicht der Finanzverwaltung bei der Bildung einer Rücklage nach § 6b EStG i.R. der Veräußerung eines ganzen Mitunternehmeranteils das Bilanzierungswahlrecht für die Fortführung und Auflösung der § 6b Rücklage auf der Ebene des veräußernden Mitunternehmers im Rahmen seiner Einkommensteuererklärung auszuüben. Ist die Reinvestitionsfrist abgelaufen und ist keine entsprechende Übertragung oder freiwillige Auflösung erfolgt, muss das Wohnsitzfinanzamt die Rücklage unter Beachtung der Verzinsungsregelung des § 6b Abs. 7 EStG erfolgswirksam auflösen (vgl. Bl. 3 ff. Rechtsbehelfsakte).
52
3.3. Hinsichtlich der Zinshöhe schließt sich der Senat bei der Berechnung der Jahre bis 2010 der Rechtsauffassung des BFH (BFH-Urteil vom 29. April 2020 XI R 39/18, BFH/NV 2020, 1149) an. Dem Rechtsschutzbedürfnis der Kläger ist durch den geänderten Einkommensteuerbescheid 2010 vom 10. Juni 2021 durch den Vorläufigkeitsvermerk bezüglich des Zuschlagsbetrags gemäß § 6b Abs. 7 EStG ausreichend Rechnung getragen.
53
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Revision war nach § 115 Abs. 2 FGO im Hinblick auf das beim BFH anhängige Verfahren IV R 7/19 zuzulassen.