Titel:
Erfolglose Klage auf Befreiung von einer den Standort von Nebenanlagen einschränkenden Bebauungsplanfestsetzung
Normenketten:
BauGB § 31 Abs. 2
VwGO § 113 Abs. 1, 5
BauNVO § 14, § 23 Abs. 5
Leitsätze:
1. Die Beklagte war befugt, über die im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen hinaus eine den Standort von Nebenanlagen einschränkende Regelung zu treffen. Das folgt ohne weiteres aus § 23 Abs. 5 S. 1 BauNVO, wonach Nebenanlagen iSd § 14 BauNVO außerhalb der Baugrenzen zwar zugelassen werden können, aber nur, soweit der Bebauungsplan nichts anderes festsetzt. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit eine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einer Funktionslosigkeit die Rede sein. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
3. Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Weg der (Um-)planung möglich ist. Ob eine Abweichung die Grundzüge der Planung berührt oder von minderem Gewicht ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls, nämlich dem im Bebauungsplan zum Ausdruck gebrachten planerischen Wollen. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Isolierte Befreiung von einer Bebauungsplanfestsetzung, Funktionslosigkeit einer Bebauungsplanfestsetzung, Grundzüge der Planung, wirksame Einschränkung des Standortes von Nebenanlagen, keine isolierte Befreiung von einer Bebauungsplanfestsetzung, keine Funktionslosigkeit der Bebauungsplanfestsetzung, Vorgarten
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 15.03.2022 – 1 ZB 21.2873
Fundstelle:
BeckRS 2021, 49486
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Kläger begehren für die Errichtung eines Nebengebäudes eine Befreiung von einer Bebauungsplanfestsetzung.
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Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks Flurnummer 1618/13 der Gemarkung … (Vorhabengrundstück). Das Grundstück hat einen rechtwinkligen Grundriss und grenzt mit seiner Nordostseite an die A. H1. straße, über die es erschlossen ist. Es liegt im Gebiet des im Jahr 2012 in Kraft getretenen Bebauungsplans Nr. 49/ … der Beklagten, der entlang der öffentlichen Straßen für die Baugrundstücke eine 5 m tiefe Vorgartenzone vorsieht. Der Bebauungsplan enthält dazu in Nr. A.8.4 folgende Festsetzung:
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„Vorgartenzone. Diese darf je Baugrundstück durch eine max. 5 m breite Zufahrt zu Stellplätzen, Garagen und Carports sowie durch einen max. 1,5 m breiten Zugang unterbrochen werden. Offene Stellplätze und Nebenanlagen sind ebenfalls außerhalb der Vorgartenzone zu errichten.“
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Auf dem Vorhabengrundstück sind nach Inkrafttreten des Bebauungsplans ein Wohnhaus und ein daran angebautes Garagengebäude errichtet worden. Im Mai 2018 stellte die Beklagte anlässlich einer Ortsbesichtigung fest, dass in der Vorgartenzone ohne Genehmigung zusätzlich ein Nebengebäude errichtet worden war. Auf dem westlichen Nachbargrundstück Flurnummer 1618/12 ist in der dortigen Vorgartenzone ebenfalls ein gleichartiges Nebengebäude errichtet worden.
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Die Beklagte wandte sich in der Folge an das Landratsamt, das nach Durchführung einer Baukontrolle den Klägern mit Schreiben vom 19. Juni 2018 nahelegte, bei der Beklagten einen Antrag auf Befreiung von der vorgenannten Festsetzung des Bebauungsplans zu stellen. Sofern die Kläger den Antrag nicht stellen sollten oder die Beklagte den Antrag ablehne, müssten die Kläger mit einer Beseitigungsanordnung rechnen.
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Die Kläger stellten daraufhin unter dem 20. Juli 2018, bei der Beklagten eingegangen am 26. September 2018, einen Antrag auf isolierte Befreiung von der Festsetzung Nr. A.8.4 des Bebauungsplans für den „Neubau eines Funktionsgebäudes zur Aufnahme der Wärmepumpe, Mülltonnen, Fahrräder“.
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Der Bauausschuss der Beklagten lehnte in seiner Sitzung vom 8. November 2018 die Erteilung einer Befreiung ab.
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Nach Anhörung der Kläger lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 4. Januar 2019 die Erteilung einer isolierten Befreiung ab. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, das Vorhaben entspreche nicht den Festsetzungen des Bebauungsplans. Im Bebauungsplangebiet seien Nebenanlagen außerhalb der Vorgartenzone zu errichten. Die Planung widerspreche dem städtebaulichen Konzept des Bebauungsplans. Die Prüfung des Antrags habe ergeben, dass die zu gewährende Befreiung städtebaulich nicht vertretbar sei. Das Festhalten am Bebauungsplan führe zu keiner nicht beabsichtigten, grundstücksbezogenen Härte und Gründe des Wohls der Allgemeinheit würden die Befreiung ebenfalls nicht erfordern.
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Mit weiterem Bescheid vom 4. Januar 2019 lehnte die Beklagte auch den Antrag des Eigentümers des Nachbargrundstücks Flurnummer 1618/12 auf Erteilung einer isolierten Befreiung für das auf diesem Grundstück errichtete vergleichbare Nebengebäude ab.
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Die Kläger erhoben am 4. Februar 2019 Klage mit dem Antrag,
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den Bescheid der Gemeinde Gauting vom 4. Januar 2019 über die Ablehnung der Gewährung einer isolierten Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr. 49/ … für die Errichtung eines Gerätehauses in …, A. H1.straße 18, FlNr. 1618/13, Gemarkung …, aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den begehrten Bescheid gemäß dem Antragsschreiben vom 20. Juli 2018 zu erteilen.
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Mit Schriftsatz vom 10. Dezember 2019 wurde die Klage näher begründet. Das Funktionshaus habe eine Grundfläche von 17,15 m². Es beherberge eine Wärmepumpe und drei Müllbehälter und biete Platz für Fahrräder. Ausgangspunkt des Bebauungsplans sei dessen Begründung zufolge eine Nachverdichtung bereits vorhandener, größtenteils aber inhomogener Baufenster und Vorgartenbereiche. Solche mit Nebenanlagen versehenen Vorgartenbereiche befänden sich in der näheren Umgebung des Bebauungsplans bzw. im Umgriff des Bebauungsplans und in der näheren Umgebung. Die Klagebegründung listet insoweit zahlreiche Anwesen explizit auf, auf denen sich nach Ansicht der Kläger Bezugsfälle befänden. Angesichts dieser prägenden Bezugsfälle und wegen des Grundsatzes der Gleichberechtigung sei die Versagung der Erteilung einer Befreiung bzw. die Annahme einer Baurechtswidrigkeit für das streitgegenständliche Funktionshaus nicht zu vertreten. Die Festsetzung von „Vorgartenbereichen“ sei bei in weiten Teilen entlang der G. H1.Straße vorhandener Versiegelung und planabweichender Einfahrtsituationen insbesondere durch offene Stellplätze und Mülltonnenhäuschen abwägungsfehlerhaft getroffen bzw. funktionslos. Zum anderen sei erkennbar, dass Nebenanlagen durchaus die näheren Gevierte mitbestimmen würden bzw. dort vorhanden seien. Jedenfalls sei in weiten Bereichen nicht das vom Bebauungsplan vorgesehene nicht versiegelte, durchlässige „Vorgartengepräge“ vorhanden. Es könne nicht angenommen werden, dass der behauptete Vorgartenbereich durchgängig als Grundzug der Planung angesehen werden könne, da das Geviert im Umgriff des Bebauungsplans in den Vorgartenbereichen zu inhomogen sei. Aufgrund der massiven Abweichung der tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt könne der Bebauungsplan insoweit eine städtebauliche Gestaltungsfunktion nicht erfüllen, sodass von einer Funktionslosigkeit der Vorgartenfestsetzung auszugehen sei. Auch wenn die Überarbeitung des Bebauungsplanes im Jahr 2012 die Festsetzung eines „Vorgartenbereichs“ als Grundzug der Planung intendiert habe, könne diese bei der vorhandenen bestandsgeschützten Bebauung absehbar nicht umgesetzt werden. Letztlich störe das streitgegenständliche Funktionshäuschen als Nebenanlage im Gesamtkonzept des Bebauungsplans nicht nachhaltig und stelle keine ins Gewicht fallende Verschlechterung der Situation dar.
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Die Beklagte beantragt,
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Sie wendet mit Schriftsatz ihrer Bevollmächtigten vom 6. Februar 2020 im Wesentlichen ein, dass sich die in der Klagebegründung unter den Nrn. 1 - 62 angeführten baulichen Anlagen bereits nicht im Umgriff des Bebauungsplans Nr. 49/ … befänden und deshalb für das vorliegende Verfahren nicht von Relevanz seien. Soweit sich die Kläger auf bauliche Anlagen im Umgriff des Bebauungsplans bezögen, sei auf Folgendes hinzuweisen: Bei dem Anwesen G. H1. Straße 15 und 15 ½ handele es sich um eine ehemalige Tankstelle, einen Altbestand, der bereits vor Erlass des Bebauungsplans vorhanden gewesen sei. Auf dem Anwesen G. H1. Straße 19 seien die dort vorhandenen Stellplätze bereits 1988 genehmigt worden, die ebenfalls vorhandene Holzhütte sei ein Schwarzbau. Das Anwesen G. H1.straße 4 gebe es nicht, beim Anwesen G. H1. straße 6 handele es sich nicht um Stellplätze, sondern um den Stauraum vor der Garage. Beim Anwesen K. …-S. H2. Straße 7 handele es sich ebenfalls nicht um Stellplätze, sondern um den Stauraum vor der Garage. Lediglich für einen zusätzlichen Stellplatz im westlichen Grundstücksteil sei im Jahr 2012 eine Befreiung erteilt worden. Der Bebauungsplan sei wirksam und insbesondere nicht funktionslos geworden. Es erschließe sich nicht, inwiefern die Festsetzung der Vorgartenzone abwägungsfehlerhaft erfolgt sein solle. Die wenigen von den Klägern benannten Bezugsfälle seien entweder nicht relevant, weil es sich um Altbestand oder zulässige Garagenstauräume handele, oder hinsichtlich ihrer Quantität und Qualität angesichts der Größe des Plangebiets nicht geeignet, eine Funktionslosigkeit der Bebauungsplanfestsetzung zu begründen. Eine Befreiung von den Festsetzungen des Bebauungsplans könne schon deshalb nicht erteilt werden, weil das Vorhaben die Grundzüge der Planung berühre. Mit der festgesetzten Vorgartenzone und der damit beabsichtigten Einhaltung einheitlicher Vorgartenbereiche hätten Freiraumstrukturen in das städtebauliche Konzept integriert werden sollen. Es handele sich hierbei um eine ausdrückliche städtebauliche Zielsetzung des Bebauungsplanes, wie sich aus den Nummern 3 und 4.3 der Begründung des Bebauungsplans ergebe. Die Beklagte habe damit bewusst eine Regelung getroffen, die die gesetzliche Grundkonzeption des § 23 Abs. 5 Satz 1 BauNVO einschränke. Die Festsetzung gelte nicht nur für einzelne Grundstücke, sondern ausnahmslos für sämtliche in erster Reihe entlang der G. H1. Straße, G. H1. straße, S.straße, A. H1. straße, H. H1. straße und K…-S. H2.Straße befindlichen Grundstücke. Treffe der Plangeber unter Abweichung von der gesetzlichen Grundregelungen für das gesamte Plangebiet solch eine einschränkende Regelung, so handele es sich hierbei auch um einen Grundzug der Planung. Dieser Grundzug der Planung würde auch berührt, wenn für ein einzelnes Grundstück von dieser Festsetzung abgewichen werde, da dieselbe städtebauliche Situation bei sämtlichen vergleichbaren Grundstücken im Plangebiet gegeben sei. Hinzu komme, dass das Funktionshaus eine nicht nur geringfügige Grundfläche von 17,15 m² aufweise.
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Der Eigentümer des Nachbargrundstücks Flurnummer 1618/12 hat gegen den ihn betreffenden Bescheid der Beklagten vom 4. Januar 2019 ebenfalls Versagungsgegenklage erhoben (M 11 K 19.509). Die Kammer hat am 20. Mai 2021 in beiden Verfahren Beweis über die örtlichen Verhältnisse durch Einnahme eines Augenscheins erhoben und anschließend die mündliche Verhandlung durchgeführt. Wegen der beim Augenschein getroffenen Feststellungen und des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf die Augenscheins- und Sitzungsniederschrift verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakten, auch diejenigen des Parallelverfahrens M 11 K 19.509, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist unbegründet.
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I. Die Kläger haben gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Erteilung der begehrten isolierten Befreiung von der Festsetzung Nr. A.8.4 des Bebauungsplans Nr. 49/ …; der streitgegenständliche Versagungsbescheid der Beklagten ist rechtmäßig und verletzt daher keine Rechte der Kläger (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Der von den Klägern geltend gemachte Anspruch besteht nicht, weil das errichtete Nebengebäude der Festsetzung Nr. A.8.4 des Bebauungsplans Nr. 49/ … widerspricht (nachfolgend 1.), diese Festsetzung wirksam ist (nachfolgend 2.) und die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung nicht vorliegen (nachfolgend 3.).
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1. Das streitgegenständliche Gebäude widerspricht der Festsetzung Nr. A.8.4 des Bebauungsplans. Der durchgeführte Augenschein hat bestätigt, dass das Gebäude so errichtet ist, wie dies aus dem eingereichten Bauplan (Bl. 21 d. A.) hervorgeht und durch das Foto auf Bl. 28 d. A. dokumentiert ist. Es liegt daher - was von den Klägern auch nicht bestritten wird - vollständig mit seiner gesamten Grundfläche von 17,15 m² in dem in Nr. A.8.4 als Vorgartenzone bezeichneten Bereich des Bebauungsplans. In diesem Bereich sind nach der textlichen Festsetzung Nr. A.8.4 u.a. Nebenanlagen nicht zulässig, wobei es keine Gründe für die Annahme gibt, dass die Beklagte den Begriff der „Nebenanlage“ in der fraglichen Festsetzung anders verstanden wissen wollte als in § 14 Abs. 1 BauNVO. Da das streitgegenständliche Gebäude ohne weiteres als Nebenanlage i. S. v. § 14 Abs. 1 BauNVO zu qualifizieren ist, widerspricht es daher der Festsetzung Nr. A.8.4 des Bebauungsplans.
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2. Die Festsetzung Nr. A.8.4 des Bebauungsplans ist wirksam.
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a) Die Festsetzung wurde von der Beklagten anfänglich wirksam getroffen.
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Die Beklagte war befugt, über die im Bebauungsplan festgesetzten Baugrenzen hinaus eine den Standort von Nebenanlagen einschränkende Regelung zu treffen. Das folgt ohne weiteres aus § 23 Abs. 5 Satz 1 BauNVO, wonach Nebenanlagen im Sinne des § 14 BauNVO außerhalb der Baugrenzen zwar zugelassen werden können, aber nur, soweit der Bebauungsplan nichts anderes festsetzt.
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Sonstige Rechtsfehler, die zur anfänglichen Unwirksamkeit der Festsetzung führen könnten, bestehen nicht. Insbesondere kann dem Vortrag der Klägerseite nicht gefolgt werden, die Festsetzung zur Vorgartenzone sei von der Beklagten abwägungsfehlerhaft getroffen worden. Der Planzeichnung des Bebauungsplans, in der die Bestandsgebäude dargestellt sind, kann man entnehmen, dass der gesamte als Vorgartenzone festgesetzte Bereich des Bebauungsplans zum Zeitpunkt seiner Aufstellung praktisch frei von jeglichen Gebäuden war. Das ohne weiteres erkennbare und städtebaulich legitime Ziel der Gemeinde, diesen Bereich auch künftig u. a. von Gebäuden freizuhalten, war daher zum Zeitpunkt der Aufstellung des Bebauungsplans umsetzbar. Da die Beklagte auf den Grundstücken Baugrenzen und in Nr. A.7.1 der textlichen Festsetzungen für Garagen und Carports einen Mindestabstand von 5 m zur Straßenbegrenzungslinie festgesetzt hat, hat sie auch hinreichende Regelungen dafür getroffen, dass in der Vorgartenzone keine Gebäude in der Vorgartenzone errichtet werden können, die keine Nebenanlagen im Sinne des § 14 Abs. 1 BauNVO darstellen. Soweit die Festsetzung über die Vorgartenzone auch verbietet, in diesem Bereich offene Stellplätze zu errichten, und je Grundstück in der Vorgartenzone nur eine 5 m breite Zufahrt sowie einen maximal 1,5 m breiten Zugang erlaubt, hat der Augenschein ergeben, dass die Funktion der Vorgartenzone lediglich im westlichen Bereich des Bebauungsplans auf zwei Grundstücken in der G. H1. Straße (Hausnummer 15 ½ und 25) sehr deutlich beeinträchtigt ist. Selbst wenn man davon ausgeht, dass diese Situation auch zum Zeitpunkt der Aufstellung des Bebauungsplans dort schon gegeben war, so gibt es andererseits keinen Grund für die Annahme, dass zum damaligen Zeitpunkt auf einer nicht unwesentlichen Anzahl weiterer Grundstücke im Umgriff des Bebauungsplans eine vergleichbare Situation bestanden hat. Das ist auch nicht substantiiert dargelegt. Insgesamt ist daher festzustellen, dass zum Zeitpunkt der Aufstellung des Bebauungsplans die Festsetzung zur Vorgartenzone nur in untergeordneten Umfang nicht umsetzbar war, wenn man davon ausgeht, dass die vorhandenen Versiegelungen Bestandsschutz genossen. Nach Ansicht der Kammer beeinträchtigt dies die anfängliche Rechtmäßigkeit der getroffenen Festsetzung über die Vorgartenzone nicht. Die Festsetzung stellt auch keine unverhältnismäßige Beeinträchtigung des Eigentums der Kläger dar. Insbesondere erlaubt der Bebauungsplan grundsätzlich, Nebenanlagen auch außerhalb der Baugrenzen zu errichten, nur eben nicht in der Vorgartenzone. Ohne Bedeutung ist schließlich, ob sich außerhalb des Gebietes des Bebauungsplans zum Zeitpunkt seiner Aufstellung in der Umgebung faktisch vergleichbare Vorgartenbereiche befunden haben oder nicht. Die Beklagte war berechtigt, das von ihr verfolgte städtebauliche Ziel im Umgriff des Bebauungsplans auch dann zu verfolgen, wenn in der Umgebung des Bebauungsplans keine vergleichbare Möglichkeit (mehr) bestand. Ob dies stets gilt, insbesondere auch dann, wenn der Umgriff des Bebauungsplans sich nur auf ein einzelnes oder ganz wenige Grundstücke begrenzt, kann dahinstehen. Im vorliegenden Fall ist das Plangebiet jedenfalls ohne weiteres so groß, dass nicht ersichtlich ist, weshalb das von der Beklagten mit der Festsetzung verfolgte Ziel kein städtebaulich legitimes Anliegen (gewesen) sein sollte.
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b) Die Festsetzung ist auch nicht nachträglich funktionslos geworden.
27
Eine bauplanerische Festsetzung tritt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts wegen Funktionslosigkeit außer Kraft, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung auf unabsehbare Zeit ausschließt und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt (grundlegend BVerwG, Urteil vom 29. April 1977 - IV C 39/75 - juris). Ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, ist für jede Festsetzung gesondert zu prüfen. Dabei kommt es nicht auf die Verhältnisse auf einzelnen Grundstücken an. Entscheidend ist vielmehr, ob die jeweilige Festsetzung geeignet ist, zur städtebaulichen Ordnung im Sinne des § 1 Abs. 3 BauGB im Geltungsbereich des Bebauungsplans einen wirksamen Beitrag zu leisten. Die Planungskonzeption, die einer Festsetzung zugrunde liegt, wird nicht schon dann sinnlos, wenn sie nicht mehr überall im Plangebiet umgesetzt werden kann. Erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der Bebauungsplan insoweit eine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, kann von einer Funktionslosigkeit die Rede sein. Das setzt voraus, dass die Festsetzung unabhängig davon, ob sie punktuell durchsetzbar ist, bei einer Gesamtbetrachtung die Fähigkeit verloren hat, die städtebauliche Entwicklung noch in einer bestimmten Richtung zu steuern (BVerwG, Urteil vom 28. April 2004 - 4 C 10/03 - juris Rn. 15).
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Eine solche Situation liegt hier nicht vor. Unerheblich ist insoweit, welche baulichen Anlagen sich in den Vorgärten auf außerhalb des Plangebiets gelegenen Grundstücken befinden. Maßgeblich ist die Vorgartenzone des Bebauungsplans, die nahezu das gesamte Plangebiet „einrahmt“, aus dem Plan mit dem Lineal gemessen eine Länge von jedenfalls mehr als 800 m hat und aktuell nach dem Lageplan etwa 23 selbständige Grundstücke betrifft. An Gebäuden vorgefunden wurden beim Augenschein in der Vorgartenzone des Plangebiets - neben dem streitgegenständlichen Gebäude und dem vergleichbaren Gebäude auf dem Nachbargrundstück Flurnummer 1618/12 - lediglich ein kleineres Funktionshäuschen auf dem Anwesen G. H1. straße 6b und ein größeres Müllhäuschen und Mülltonnen auf dem Anwesen G. H1. Straße 19. Entlang der G. Straße ist die Vorgartenzone teilweise in einem mit der Festsetzung Nr. A.8.4 unvereinbaren Umfang versiegelt. Insgesamt genügen diese wenigen in Widerspruch zur Festsetzung Nr. A.8.4 stehenden Fälle jedoch nicht, um angesichts der Größe des Bebauungsplangebiets, der Gesamtlänge der Vorgartenzone und der Anzahl der von ihr betroffenen Grundstücke annehmen zu können, dass im Bebauungsplangebiet die tatsächliche Entwicklung einen Zustand erreicht hätte, der nach der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einem in die Fortgeltung der Festsetzung Nr. A.8.4 gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nehmen würde. Das gilt unabhängig davon, ob man die Regelung, dass in der Vorgartenzone keine Nebenanlagen errichtet werden dürfen (Nr. A.8.4 Satz 2) und die weitere Regelung, dass die Vorgartenzone je Baugrundstück nur durch eine maximal 5 m breite Zufahrt und einen maximal 1,5 m breiten Zugang unterbrochen werden darf (Nr. A.8.4 Satz 1) als getrennte Festsetzungen im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung betrachtet oder - zusammengenommen - als eine Festsetzung in diesem Sinne. In beiden Fällen ergibt die Gesamtwürdigung unter Berücksichtigung der Größe des Gebiets, der Länge der Vorgartenzone und der Anzahl der betroffenen Grundstücke, dass eine Funktionslosigkeit nicht angenommen werden kann, selbst wenn insbesondere auf den Grundstücken G. H1. Straße 15 ½ und 25 die Festsetzung Nr. 8.A.4 Satz 1 nicht durchsetzbar sein sollte.
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3. Die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Erteilung einer Befreiung von der Festsetzung Nr. A.8.4 liegen nicht vor. Nach § 31 Abs. 2 BauGB ist die Erteilung einer Befreiung ungeachtet weiterer Voraussetzungen nur zulässig, wenn die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Das ist jedoch der Fall.
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a) Die festgesetzte Vorgartenzone ist ein Grundzug der Planung im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB.
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Mit den Grundzügen der Planung umschreibt das Gesetz die planerische Grundkonzeption, die den Festsetzungen eines Bebauungsplans zu Grunde liegt und in ihnen zum Ausdruck kommt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 19. Mai 2004 - 4 B 35/04 - juris). Hierzu gehören die Planungsüberlegungen, die für die Verwirklichung der Hauptziele der Planung sowie den mit den Festsetzungen insoweit verfolgten Interessenausgleich und damit für das Abwägungsergebnis maßgeblich sind (vgl. BayVGH, Urteil vom 30. März 2009 - 1 B 05.616 - BauR 2009, 1414). Davon ausgehend ist nicht zu verneinen, dass die festgesetzte Vorgartenzone einen Grundzug der Planung darstellt. Die Beklagte hat mit einer einzigen Ausnahme - der heutigen Flurnummer 1625/2 - für alle Grundstücke, die an einer der das Plangebiet umgrenzenden öffentliche Straße liegen, einen solchen Vorgartenbereich festgesetzt. Nahezu der gesamte Umgriff des Bebauungsplans wird durch die Vorgartenzone „eingerahmt“. Der Begründung des Bebauungsplans ist auch zu entnehmen, dass die Einhaltung dieser Vorgartenbereiche eine wichtige Zielvorstellung der Gemeinde war (vgl. Nrn. 3 und 4.3 der Begründung).
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b) Die begehrte Befreiung berührt auch im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB diesen Grundzug der Planung.
33
Je tiefer die Befreiung in das Interessengeflecht der Planung eingreift, desto eher liegt der Schluss auf eine Änderung der Planungskonzeption nahe, die nur im Weg der (Um-)planung möglich ist. Ob eine Abweichung die Grundzüge der Planung berührt oder von minderem Gewicht ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls, nämlich dem im Bebauungsplan zum Ausdruck gebrachten planerischen Wollen (vgl. BayVGH Urteil vom. 12. Februar 2015 - 2 B 14.2817 - juris).
34
Daran gemessen berührt die begehrte Befreiung von der Festsetzung Nr. A.8.4 des Bebauungsplans die Grundzüge der Planung. Das streitgegenständliche Nebengebäude besitzt nach den vorliegenden Plänen eine Grundfläche von 17,15 m² und eine Höhe von 2,20 m. Es liegt vollständig in der Vorgartenzone. Es handelt sich nicht um eine bauliche Anlage, die das mit der Festsetzung verfolgte städtebauliche Ziel nicht nennenswert beeinträchtigt. Schon allein nach seiner Größe gehört dieses Gebäude ersichtlich zu denjenigen Nebenanlagen, die die Beklagte nach dem erkennbaren Zweck der Vorgartenzone an dem gewählten Standort gerade nicht zulassen wollte und das für die übrigen im Bebauungsplangebiet liegenden Grundstücke, auf denen ebenfalls eine Vorgartenzone von Bebauung freigehalten werden muss, eine ganz erhebliche negative Vorbildwirkung hat.
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II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V. m. §§ 708 ff. ZPO.