Titel:
Bewilligung, Prozesskostenhilfe, Beschwerde, Prozesskostenhilfeantrag, Gesundheitszustand, Klageverfahren, Verfahren, Anordnungsgrund, Frist, Bewilligungsbescheid, Ablehnung, Ausschlussfrist, Studentenwerk, Wiedereinsetzung, Bewilligung von Prozesskostenhilfe, Bewilligung Prozesskostenhilfe, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Schlagworte:
Bewilligung, Prozesskostenhilfe, Beschwerde, Prozesskostenhilfeantrag, Gesundheitszustand, Klageverfahren, Verfahren, Anordnungsgrund, Frist, Bewilligungsbescheid, Ablehnung, Ausschlussfrist, Studentenwerk, Wiedereinsetzung, Bewilligung von Prozesskostenhilfe, Bewilligung Prozesskostenhilfe, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Fundstelle:
BeckRS 2021, 48125
Tenor
I. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 1.200 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab 24. Juli 2020 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Beklagte trägt 6/7, die Klägerin 1/7 der Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist für die Klägerin gegen Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages und für den Beklagten hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung des Beklagten gegen Sicherheitsleistung in Höhe des beizutreibenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
1
Die Klägerin begehrt Entschädigung wegen überlanger Dauer des Klageverfahrens beim Verwaltungsgericht Regensburg, Az. RN 9 K 17.630 (später RN 9 K 19.1534).
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Die Klägerin ist Studentin und begehrte im verwaltungsgerichtlichen Verfahren mit ihrer am 19. April 2017 erhobenen Klage Ausbildungsförderung von dem dort beklagten Studentenwerk, das mit Bescheid vom 20. März 2017 ihren Weiterförderungsantrag über die (verdoppelte) Förderungshöchstdauer hinaus abgelehnt hatte. Gleichzeitig hat sie Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe mit Anwaltsbeiordnung gestellt.
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Mit Schreiben vom 23. September 2017 erhob die Klägerin Verzögerungsrüge gemäß § 198 Abs. 3 GVG bezüglich ihres Prozesskostenhilfeantrags. Das Studentenwerk erwiderte auf die Klage mit Schreiben vom 14. Februar 2018. Am 19. September 2018 erledigte das Verwaltungsgericht die Streitsache wegen einer Beschwerde der Klägerin zum Bayerischen Verwaltungsgerichtshof gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe in einem vorausgehenden Klageverfahren, das Ausbildungsförderung für einen vorhergehenden Zeitraum betraf, statistisch. Mit Schreiben vom 12. November 2018 wies die Klägerin auf die ausstehende Entscheidung hin, aktualisierte ihren Prozesskostenhilfeantrag und schilderte ihren Studienverlauf sowie ihren Gesundheitszustand. Mit Schreiben vom 16. Februar 2019 teilte die Klägerin dem Verwaltungsgericht mit, das streitgegenständliche Verfahren solle auch nach dem Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 15. Januar 2019 im anderweitige Klageverfahren fortgesetzt werden. Sie müsse nunmehr seit April 2017 ihr Studium ohne jede BAföG-Förderung bestreiten. Sie bitte erneut um zeitnahe Entscheidung. Mit Schreiben vom 17. April 2019 mahnte die Klägerin erneut eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts an; unter dem 23. April 2019 wiederholte sie die Verzögerungsrüge hinsichtlich der Verfahrensdauer.
4
Das Verwaltungsgericht wies das Studentenwerk mit Schreiben vom 16. Mai 2019 darauf hin, dass die Klage in Anlehnung an das Urteil des Verwaltungsgerichts Hamburg vom 4. Februar 2014 (Az. 2 K 3204/12) als begründet erscheine und bat um Abhilfe. Mit Schreiben vom 29. Mai 2019 kündigte das Studentenwerk eine Abhilfe an. Mit Bescheid vom 18. Juli 2019, nach Widerspruchseinlegung der Klägerin geändert mit Bescheid vom 26. August 2019, wurde der Klägerin Ausbildungsförderung für den Bewilligungszeitraum von April 2017 bis März 2018 in Höhe von 169 Euro für den Zeitraum ab April 2017 sowie in Höhe von 291 Euro ab September 2017 bewilligt. Mit Schreiben vom 22. August 2019 erklärte die Klägerin die Hauptsache für erledigt. Das Studentenwerk hatte der Erledigungserklärung vorab zugestimmt. Mit Beschluss vom 28. August 2019 stellte das Verwaltungsgericht das Verfahren unter dem Aktenzeichen RN 9 K 19.1534 ein. Der Klägerin wurde Prozesskostenhilfe bewilligt und die von der Klägerin benannte Rechtsanwältin beigeordnet.
5
Mit Beschluss vom 14. Juli 2020 (Az. 98 F 19.2483) bewilligte der Senat der Klägerin auf ihrem Antrag vom 17. Dezember 2019 hin Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Klage auf Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer hinsichtlich des Verfahrens beim Bayerischen Verwaltungsgericht Regensburg (Az. RN 9 K 17.630, später RN 9 K 19.1534) bis zu einem Betrag von 1.200 Euro für einen Nachteil, der nicht Vermögensnachteil ist.
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Am 24. Juli 2020 erhob die Klägerin Klage zum Bayerischen Verwaltungsgerichtshof und beantragte,
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den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin eine Entschädigung in Höhe von 1.200 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 20. Dezember 2019 zu zahlen.
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Zur Begründung verwies der Bevollmächtigte der Klägerin zunächst auf die Ausführungen des Senats im Beschluss vom 14. Juli 2020.
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Mit Schriftsatz vom 28. August 2020 änderte die Klägerin ihren Klageantrag und beantragt nunmehr,
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den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin eine Entschädigung in Höhe von mindestens 1.200 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 20. Dezember 2019 zu zahlen.
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Zur Begründung trug sie vor, dass verwaltungsgerichtliche Verfahren habe 28 Monate gedauert. Einen Monat nach Stellungnahme des dortigen Beklagten im Februar 2018 sei die Streitsache entscheidungsreif gewesen. Das Verfahren habe für die Klägerin erhebliche Bedeutung gehabt. Es sei in finanzieller Hinsicht nicht nur um die Förderung im streitgegenständlichen Bewilligungszeitraum vom April 2017 bis März 2018 gegangen, sondern auch um den Förderanspruch für alle nachfolgenden Semester. Es habe keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass der Bedarf der Klägerin anderweitig gedeckt gewesen sei. Die Erhöhung des Unterhalts von ihrem Vater von 150 Euro auf 370 Euro habe die Klägerin erst gerichtlich erstreiten müssen. Ihren Vorausleistungsantrag insoweit habe das Studentenwerk abgelehnt. Das tatsächliche Vermögen der Klägerin habe zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Weiterförderung bei 2.200 Euro gelegen. In beruflicher Hinsicht habe die Verfahrensverzögerung erhebliche Auswirkungen gehabt. Angesichts der schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen sei es für ihren Einstieg in das Berufsleben notwendig, dass sie ihr Masterstudium erfolgreich absolviere. Schließlich habe das Klageverfahren auch in emotionaler Hinsicht eine hohe Bedeutung für die Klägerin gehabt. Sie sei durch das gerichtliche Verfahren vor dem Verwaltungsgericht und auch durch den Unterhaltsprozess gegen ihren Vater zusätzlich belastet gewesen. Da ihr keine Prozesskostenhilfe vorab gewährt worden sei, habe sie das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht selbst führen müssen.
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Der Beklagte nahm mit Schriftsatz vom 26. Oktober 2020 wie folgt Stellung: Eine Erhöhung des gesetzlichen Pauschbetrags von 100 Euro für jeden Monat ungerechtfertigter Verzögerung sei hier nicht veranlasst. Dabei könne es nur um atypische Sonderfälle gehen, wie auch aus der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 17/3802 S. 20) hervorgehe. Ein solcher liege nicht vor. Die Bedeutung des Verfahrens auch in finanzieller und beruflicher Hinsicht sowie die emotionalen Belastungen der Klägerin durch die Verfahrensdauer würden bereits in die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer einfließen. Gerade den psychischen Beeinträchtigungen werde durch die Zuerkennung der pauschalen Entschädigung von 1.200 Euro jährlich Rechnung getragen.
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Mit Schriftsatz vom 17. Dezember 2020 ergänzte die Klägerin, sie habe nach juristischer Beratung von der Stellung eines Eilantrags im verwaltungsgerichtlichen Verfahren abgesehen und stattdessen im Klageverfahren mehrfach auf die Dringlichkeit hingewiesen und auch darauf, dass es vor allem auch um die Gewährung von Unterhaltsersatzleistungen (Vorausleistungen) gehe. Da über den Prozesskostenhilfeantrag nicht entschieden worden sei, habe sie im Laufe des Verfahrens keine weitere juristische Beratung abrufen können. Auch habe die Klägerin im verwaltungsgerichtlichen Verfahren mehrfach auf ihren Gesundheitszustand hingewiesen. Die Belastungen aus diesem Verfahren hätten zu einem erheblichen Teil die heute notwendige Behandlung erst erforderlich gemacht. Die Klägerin lebe seit dem Jahr 2017 in permanenter Existenzangst. Durch die Verzögerung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens habe das Studentenwerk ihren Weiterförderungsantrag ab April 2018 überhaupt erst bearbeitet, nachdem das Klageverfahren beendet gewesen sei. So sei der Bewilligungsbescheid für das Sommersemester 2018 und das Wintersemester 2018/2019 erst am 4. Dezember 2019 ergangen. Dem Verfahren sei daher eine erhebliche Präjudizwirkung für die grundsätzliche Förderung und auch für die Vorausleistungen zugekommen, zumal die Klägerin seit April 2019 von ihrem Vater keinen Unterhalt mehr erhalten habe. Nach dem Verfahrensablauf liege eine Untätigkeit des Verwaltungsgerichts Regensburg von mindestens 14 Monaten vor, für die es keine rechtfertigenden Gründe im Sinne eines Gestaltungsspielraums gebe. Die faktische Verbindung des früheren Klageverfahrens mit dem streitgegenständlichen habe das Verwaltungsgericht gegenüber der Klägerin auch nicht kommuniziert.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten auch des Ausgangsverfahrens verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 101 Abs. 2 VwGO), hat weit überwiegend Erfolg.
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Der Senat legt den mit Schriftsatz vom 28. August 2020 geänderten Klageantrag entsprechend der mit Schriftsatz vom 17. Dezember 2020 vorgetragenen Begründung dahingehend aus, dass die Klägerin eine Entschädigung in Höhe von 1.400 Euro verlangt.
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1. Die Entschädigungsklage ist zulässig. Sie wurde nach Ablauf der sechsmonatigen Wartefrist nach Erhebung der Verzögerungsrüge (§ 198 Abs. 5 Satz 1 GVG) erhoben. Auch die Ausschlussfrist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG ist gewahrt. Zwar hat die Klägerin die Klage nicht innerhalb von sechs Monaten nach Rechtskraft der Entscheidung des Verwaltungsgerichts, die das Verfahren beendet hat, erhoben (§ 198 Abs. 5 Satz 2 GVG). Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 60 Abs. 1 VwGO scheidet aus, weil es sich bei der Frist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG um eine materiellrechtliche Ausschlussfrist handelt; jedoch ist diese unter Heranziehung des Rechtsgedankens des § 204 Abs. 1 Nr. 14 BGB (Hemmung der Verjährung durch Rechtsverfolgung) gewahrt, wenn innerhalb dieser Frist ein vollständiger Prozesskostenhilfeantrag gestellt wird und die Klage auf Entschädigung unmittelbar bzw. alsbald nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe erhoben wird. Im Einzelnen wird auf die Gründe des Beschlusses des Senats vom 14. Juli 2020 (Az. 98 F 19.2483) verwiesen.
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2. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Entschädigung des immateriellen Nachteils infolge unangemessener Verfahrensdauer in Höhe von 1.200 Euro zuzüglich der Prozesszinsen seit Rechtshängigkeit der Entschädigungsklage. Die Gesamtdauer des Ausgangsverfahrens von 28 Monaten (19.4.2017 bis 22.8.2019) war in einem Umfang von einem Jahr (12 Monate) unangemessen im Sinne von § 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG. Soweit die Klägerin darüber hinaus eine Entschädigung für zwei weitere Monate begehrt, hat ihre Klage in der Sache keinen Erfolg.
19
Einen Anspruch auf Entschädigung für materielle Schäden hat die Klägerin im Prozesskostenhilfeverfahren nicht geltend gemacht. Insoweit wäre daher auch die Ausschlussfrist des § 198 Abs. 5 Satz 2 GVG nicht gewahrt. Der bloße Hinweis auf weitere berufliche Nachteile durch die Verzögerung im hiesigen Klageverfahren reicht im Übrigen auch nicht aus, um Entschädigung für einen materiellen Nachteil zu begründen.
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Nach § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG).
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2.1 Die Dauer des Ausgangsverfahrens war bei der gebotenen Gesamtabwägung im Umfang von 12 Monaten unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG.
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2.1.1 Ob die Dauer eines Gerichtsverfahrens gemäß § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG unangemessen ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles. Maßgeblich zu berücksichtigen sind die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens, das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter (§ 198 Abs. 1 Satz 2 GVG), die Bedeutung der Sache für die Beteiligten und die Prozessförderung durch das Gericht (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 2 WA 1.17 D - NJW 2019, 320 = juris Rn. 26; vgl. auch Karpenstein/Mayer, EMRK, 2. Aufl. 2015, Art. 6 Rn. 78). Die Verfahrensdauer ist unangemessen, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus konventions- und verfassungsrechtlichen Normen (Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 19 Abs. 4, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist. Dabei ist vor allem auch zu prüfen, ob Verzögerungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eingetreten sind, bei Berücksichtigung des den Ausgangsgerichten insoweit zukommenden Gestaltungsspielraums sachlich gerechtfertigt sind (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 - 5 C 1.13 D - NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 18; U.v. 11.7.2013 - 5 C 23.12 D - BVerwGE 147, 146 = juris Rn. 37).
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Bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist nicht von festen Zeitvorgaben oder abstrakten Orientierungs- bzw. Anhaltspunkten auszugehen (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 2 WA 1.17 D - NJW 2019, 320 = juris Rn. 26; U.v. 14.9.2017 - 2 WA 2.17 D - BVerwGE 159, 366 = juris Rn. 13; vgl. auch BVerfG, B.v. 30.8.2016 - 2 BvC 26/14 - Vz 1/16 - KommunalPraxis Wahlen 2018, 58 = juris Rn. 18). Angesichts der Vielgestaltigkeit verwaltungsgerichtlicher Verfahren stießen solche Festlegungen an eine Komplexitätsgrenze. Sie könnten letztlich für die Angemessenheit im Einzelfall nicht aussagekräftig sein. Die Bandbreite der Verwaltungsprozesse reicht von sehr einfach gelagerten Verfahren bis zu äußerst aufwändigen Großverfahren (etwa im Infrastrukturbereich), die allein einen Spruchkörper über eine lange Zeitspanne binden können. Der Versuch, dieser Bandbreite mit Mittel- oder Orientierungswerten Rechnung zu tragen, ginge nicht nur am Einzelfall vorbei, sondern wäre auch mit dem Risiko belastet, die einzelfallbezogenen Maßstäbe des Bundesverfassungsgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu verfehlen.
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Um den verfahrensrechtlichen und inhaltlichen Anforderungen gerecht werden zu können, benötigt das Gericht eine Vorbereitungs- und Bearbeitungszeit, die der Schwierigkeit und Komplexität der Rechtssache angemessen ist. Dabei ist die Verfahrensgestaltung in erster Linie in die Hände des mit der Sache befassten Gerichts gelegt (BVerfG, B.v. 30.7.2009 - 1 BvR 2662/06 - NJW-RR 2010, 207, v. 2.12.2011 - 1 BvR 314/11 - WM 2012, 76). Dieses hat, sofern der Arbeitsanfall die alsbaldige Bearbeitung und Terminierung sämtlicher zur Entscheidung anstehender Fälle nicht zulässt, zwangsläufig eine zeitliche Reihenfolge festzulegen. Es hat dabei die Verfahren untereinander zu gewichten, den Interessen der Beteiligten - insbesondere im Hinblick auf die Gewährung rechtlichen Gehörs und eines fairen Verfahrens - Rechnung zu tragen und darüber zu entscheiden, wann es welches Verfahren mit welchem Aufwand sinnvollerweise fördern kann und welche Verfahrenshandlungen dazu geboten sind. Zur Ausübung seiner verfahrensgestaltenden Befugnisse ist dem Gericht - auch im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit - ein Gestaltungsspielraum zuzubilligen (vgl. BVerfG, B.v. 29.3.2005 - 2 BvR 1610/03 - NJW 2005, 3488, B.v. 1.10.2012 - 1 BvR 170/06 - NVwZ 2013, 789 jeweils m.w.N.). Verfahrenslaufzeiten, die durch die Verfahrensführung des Gerichts bedingt sind, führen nur zu einer unangemessenen Verfahrensdauer, wenn sie - auch bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums - sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind. Art. 6 Abs. 1 EMRK fordert zwar, dass Gerichtsverfahren zügig betrieben werden, betont aber auch den allgemeinen Grundsatz einer geordneten Rechtspflege (EGMR, U.v. 25.2.2000 - Nr. 29357/95, Gast und Popp/Deutschland - NJW 2001, 211 Rn. 75).
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Der ab Eintritt der Entscheidungsreife zuzugestehende Gestaltungszeitraum ist im Einzelfall in Relation zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG benannten Kriterien zu bestimmen. Maßgeblich ist insoweit - genauso wie hinsichtlich der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG aufgeführten Umstände -, wie die Gerichte im Ausgangsverfahren die Lage aus ihrer Ex-ante-Sicht einschätzen durften. Das Ende des gerichtlichen Gestaltungszeitraums wird durch den Zeitpunkt markiert, ab dem ein (weiteres) Zuwarten auf eine verfahrensfördernde Entscheidung bzw. Handlung des Gerichts im Hinblick auf die subjektive Rechtsposition des Betroffenen auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht mehr vertretbar ist, weil sich die (weitere) Verzögerung bei Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles als sachlich nicht mehr gerechtfertigt und damit als unverhältnismäßig darstellt. Es ist nicht mit dem Zeitpunkt gleichzusetzen, bis zu dem in jedem Fall von einer „optimalen Verfahrensführung“ des Gerichts auszugehen ist. Vielmehr setzt der Entschädigungsanspruch aus § 198 Abs. 1 GVG voraus, dass der Beteiligte durch die Länge des Gerichtsverfahrens in seinem Grund- und Menschenrecht auf Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens in angemessener Zeit beeinträchtigt worden ist, was eine gewisse Schwere der Belastung erfordert (vgl. BVerwG, U.v. 11.7.2013 - 5 C 23.12 D - BVerwGE 147, 146 Rn. 39).
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Des Weiteren hat in die Prüfung einzufließen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer weder in den gerichtlichen noch in den Verantwortungsbereich des in Anspruch genommenen Rechtsträgers fällt, sondern den Verfahrensbeteiligten zuzurechnen ist. Verfahrensverzögerungen, die durch das Verhalten der Parteien entstanden sind, sind grundsätzlich ebenfalls nicht dem Gericht anzulasten.
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2.1.2 Gemessen an den Kriterien des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG gilt hier Folgendes:
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Bei dem Ausgangsverfahren handelte es sich trotz grundsätzlicher Rechtsfragen hinsichtlich der Überschreitung der Förderungshöchstdauer wegen Behinderung um einen tatsächlich und rechtlich durchschnittlich schwierigen Fall, wie die spätere Aufforderung des Verwaltungsgerichts an das beklagte Studentenwerk zur Abhilfe im Hinblick auf eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hamburg zeigt, auf die die Klägerin bereits bei Klageerhebung hingewiesen hatte.
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Die Bedeutung des Verfahrens für die Klägerin ist als relativ hoch zu bewerten, weil es um die Sicherstellung ihrer Ausbildung und ihres Lebensunterhalts ging, auch wenn dieser, wie die Höhe der späteren Bewilligung von Ausbildungsförderung zeigt, in erheblichem Umfang bereits anderweitig sichergestellt war und die Klägerin auch die Möglichkeit gehabt hätte, einen einstweiligen Rechtsschutzantrag nach § 123 Abs. 1 VwGO auch im Hinblick auf Vorausleistungen wegen ausbleibenden Unterhalts ihres Vaters zu stellen. Die Begründung der Klägerin, warum sie davon abgesehen hat, solche Anträge zu stellen, ist nicht überzeugend. Über Sozial- und sonstige Förderleistungen, die der Sicherstellung des Lebensunterhalts oder einer Berufsausbildung dienen, die ohne sie nicht gewährleistet wäre, wird üblicherweise im einstweiligen Rechtsschutzverfahren entschieden, da ein rechtskräftiges Urteil in einem Klageverfahren in solchen Fällen nicht rechtzeitig ergehen kann und daher ein Anordnungsgrund für einen einstweiligen Rechtsschutzantrag nach § 123 Abs. 1 VwGO besteht. Ein einstweiliger Rechtsschutzantrag hätte das Verwaltungsgericht gezwungen, sich früher mit einem materiellrechtlichen Anspruch der Klägerin unter Prüfung der von der Klägerin angeführten Entscheidung des Verwaltungsgerichts Hamburg zu befassen. Er wäre daher keineswegs aussichtslos gewesen.
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Das Verhalten Verfahrensbeteiligter oder Dritter hat nicht zu einer Verfahrensverzögerung geführt.
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2.1.3 Entscheidungsreif war die Verwaltungsstreitsache etwa einen Monat nach Eingang der Stellungnahme des Beklagten im Februar 2018. Bereits davor war das Verwaltungsgericht jedoch über einen längeren Zeitraum untätig, da es die Stellungnahme, die binnen eines Monats nach Zustellung der Klage erbeten worden war, nicht angemahnt hat. Der Gesamtzeitraum bis zur Entscheidungsreife, in der eine Untätigkeit des Gerichts nicht maßgeblich ist, ist hier auch aufgrund des späteren weiteren Schriftverkehrs mit etwa vier Monaten anzusetzen. Gründe, das Verfahren faktisch auszusetzen, bis der Bayerische Verwaltungsgerichtshof über die Prozesskostenhilfebeschwerde im Verfahren Az. 12 C 17.2421 entschieden hat, sind nicht erkennbar. Im dortigen Verfahren ging es um die Anrechnung von Vermögen der Klägerin, im hiesigen Verfahren um die Frage der Weiterförderung nach Überschreiten der Förderungshöchstdauer. Dass sich für die Entscheidung dieser Verwaltungsstreitsache ein Präjudiz aus der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs hätte ergeben können, ist nicht ersichtlich.
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Wegen der Bedeutung der Angelegenheit für die Klägerin hätte das Verfahren eher vorgezogen werden müssen. Das Gericht hat seine Pflicht, den Prozess zu fördern und innerhalb eines angemessenen Zeitraums zu entscheiden, aber nicht in den gesamten noch verbleibenden 24 Monaten verletzt. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass die Verfahrensgestaltung in erster Linie dem mit der Sache befassten Gericht obliegt und dass ihm - auch vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich gewährten richterlichen Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) - ein Gestaltungsspielraum zusteht, wann und wie es eine Sache in Abstimmung mit anderen Sachen entscheidet oder sonst fördert. Verfahrenslaufzeiten führen deshalb nur dann zu einer unangemessenen Verfahrensdauer, wenn sie auch bei Berücksichtigung des gerichtlichen Gestaltungsspielraums sachlich nicht mehr zu rechtfertigen sind (vgl. BVerfG, B.v. 1.10.2012 - 1 BvR 170/06 - Vz 1/12 - NVwZ 2013, 789 - juris Rn. 40; BVerwG, U.v. 11.7.2013 - 5 C 23.12 D - BVerwGE 147, 146 - juris Rn. 42). Das Ende des gerichtlichen Gestaltungszeitraums wird durch den Zeitpunkt markiert, ab dem ein (weiteres) Zuwarten auf eine verfahrensfördernde Entscheidung bzw. Handlung des Gerichts im Hinblick auf die subjektive Rechtsposition des Betroffenen auf eine angemessene Verfahrensdauer nicht mehr vertretbar ist, weil sich die (weitere) Verzögerung bei Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles als sachlich nicht mehr gerechtfertigt und damit als unverhältnismäßig darstellt.
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Davon ausgehend, dass etwa vier Monate für die Herstellung der Entscheidungsreife notwendig waren, ist dem erstinstanzlichen Gericht unter Berücksichtigung der tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache und der Bedeutung der Angelegenheit für die Klägerin ein Gestaltungsspielraum von 12 Monaten einzuräumen, in den hier aber auch der Zeitraum des „Abhilfeverfahrens“, beginnend mit dem Schreiben des Verwaltungsgerichts vom 16. Mai 2019 bis zur Erledigungserklärung der Parteien am 22. August 2019 (gut drei Monate) enthalten ist. Die sich danach errechnende, sachlich nicht gerechtfertigte Verzögerung des Klageverfahrens beträgt daher 12 Monate, für den die Klägerin immaterielle Entschädigung beanspruchen kann.
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2.2 Die Klägerin hat durch die überlange Verfahrensdauer einen immateriellen Nachteil im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG erlitten, der nicht auf andere Weise wiedergutgemacht werden kann.
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2.2.1 Dass die Klägerin Nachteile nichtvermögensrechtlicher Art erlitten hat, ergibt sich aus der Vermutung des § 198 Abs. 2 Satz 1 GVG. Danach wird ein immaterieller Nachteil vermutet, wenn ein Gerichtsverfahren - wie hier - unangemessen lange gedauert hat. Diese Vermutung ist vorliegend nicht widerlegt.
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2.2.2 Entschädigung kann nur beansprucht werden, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalles Wiedergutmachung auf andere Weise ausreichend ist (§ 198 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 GVG). Eine Wiedergutmachung auf andere Weise ist nach § 198 Abs. 4 Satz 1 GVG insbesondere möglich durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war. Ob eine solche Feststellung ausreichend ist, beurteilt sich auf der Grundlage einer umfassenden Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalles (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 - 5 C 1.13 D - NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 34 m.w.N.). Eine schlichte Feststellungsentscheidung ist hier mit Blick auf den Umfang der Verzögerung des durchschnittlich schwierigen Falles nicht ausreichend.
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2.2.3 Die Entschädigungssumme für die unangemessene Verfahrensverzögerung von 12 Monaten beträgt 1.200 Euro. Die Bemessung der immateriellen Nachteile richtet sich nach § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG. Danach ist der immaterielle Nachteil in der Regel in Höhe von 1.200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung zu entschädigen.
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2.2.4 Die Festsetzung eines höheren (Monats-)Betrags nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG ist nicht angezeigt; es liegt kein atypischer Sachverhalt vor. Die Entschädigung für den immateriellen Nachteil beinhaltet gerade die Belastung der Klägerin in finanzieller und psychischer Hinsicht. Anhaltspunkte für die Angemessenheit eines niedrigeren Betrags liegen nicht vor.
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3. Soweit der Entschädigungsanspruch begründet ist, hat die Klägerin entsprechend § 291 in Verbindung mit § 288 Abs. 1 Satz 2 BGB ab Eintritt der Rechtshängigkeit Anspruch auf Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz (vgl. BVerwG, U.v. 27.2.2014 - 5 C 1.13 D - NVwZ 2014, 1523 = juris Rn. 46; Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 90 Rn. 14 und 17). Rechtshängigkeit trat hier jedoch erst mit der Klageerhebung am 24. Juli 2020, und nicht bereits mit der Stellung eines Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine noch künftig zu erhebende Klage ein. Daher war die Klage auch insoweit abzuweisen.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 173 Satz 2 VwGO i.V.m. § 201 Abs. 2 GVG und §§ 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.
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5. Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 132 Abs. 2 VwGO nicht vorliegen.
I. Der Streitwert wird auf 1.400 Euro festgesetzt.
II. In Ergänzung des Beschlusses des Senats vom 14. Juli 2020 über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (Az. 98 F 19.2483) wird der Klägerin Rechtsanwalt Dr. S., Neumarkt i.d.Opf., beigeordnet.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 3 Satz 1, § 43 GKG. Wird in einer Entschädigungsklage ein bestimmter Betrag im Klageantrag nicht genannt oder ein Mindestbetrag angegeben, so kommt es darauf an, welchen Betrag der Kläger nach seiner Begründung für angemessen hält. Die Klägerin hat hier eine Entschädigung in Höhe von mindestens 1.200 Euro beantragt und in der Begründung ausgeführt, sie halte eine Entschädigung für eine Verzögerung von 14 Monaten angemessen. Das ergibt ein Betrag von 1.400 Euro, der daher maßgeblich ist.
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Da die Klägerin nunmehr einen Prozessbevollmächtigten benannt hat, war in Ergänzung des Beschlusses des Senats vom 14. Juli 2020 dieser der Klägerin beizuordnen.