Titel:
Keine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen behaupteter Verfolgung aufgrund Zugehörigkeit/Zurechnung zur PKK – Türkei
Normenketten:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Leitsatz:
In der Türkei besteht eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung insbesondere bei Personen, die in das Visier der Sicherheitsbehörden geraten, weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
türkischer Staatsangehöriger, Türkei, kurdische Volkszugehörigkeit, Flüchtlingseigenschaft, AKP, HDP, Kurdenkonflikt, Stadtratstätigkeit, Delegiertentätigkeit, PKK
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 23.02.2022 – 24 ZB 22.30100
Fundstelle:
BeckRS 2021, 48101
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Kläger sind eine Familie türkischer Staatsangehörigkeit kurdischer Volkszugehörigkeit. Die Kläger zu 1 und zu 2 sind die Eltern dreier minderjähriger Kinder (Kläger 3 bis 5). Ein weiteres Kind ist volljährig und Kläger in dem Verfahren Au 3 K 20.31000. Sie reisten am 1. August 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten einen Asylantrag.
2
Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) trug der Kläger zu 1 im Wesentlichen vor, er habe 15 Jahre lang bis 2014 in der Stadtverwaltung der Stadt ... und danach bis 8. Juni 2015 in der Stadtverwaltung von ... gearbeitet. Dann sei er von der AKP suspendiert worden. Dagegen sei er durch alle Instanzen vorgegangen und habe gewonnen, jedoch seine Arbeitsstelle nicht zurückerhalten. Der Leiter der Personalstelle habe ihn wegen Beleidigung angezeigt, das Verfahren sei durch die Staatsanwaltschaft eingestellt worden. Bei der Stadt ... sei er ... und für die Verwaltung von ... zuständig gewesen. Ein HDP-Abgeordneter habe ans Parlament eine Anfrage gestellt, weshalb er entlassen worden sei. Eine Antwort sei nicht erfolgt. Danach habe er mit seinem Bruder einen ...handel betrieben. Er sei Mitglied bei der HDP gewesen. Er sei (erfolglos) HDP-Parlamentskandidat gewesen, aber dann für die Periode ... bis ... für den Stadtrat bestellt worden. Er sei auch in der Gewerkschaft tätig gewesen. Bei der Kommunalwahl am 31. März 2019 sei er mit seinem Sohn als Wahlhelfer bzw. Wahlbeobachter tätig gewesen. Nach den letzten Kommunalwahlen seien HDP-Mitglieder von AKP-Mitgliedern umgebracht worden. Verwandte eines AKP-Parlamentsabgeordneten hätten zwei HDP-Aktivisten umgebracht. Ca. einen Monat vor der Kommunalwahl seien er und sein Sohn sowie weitere 38 HDP-Mitglieder von Polizisten verhaftet worden. Sie seien vier Tage in Polizeigewahrsam gewesen. Man habe sie bedroht und verlangt, dass sie mit der Tätigkeit bei der HDP aufhören sollten. Er sei Mitglied in der Vereinigung der Stadtverwaltung im ... gewesen. Aktuell sei ein Zwangsverwalter für diese Vereinigung eingesetzt worden. Der ehemalige Vorsitzende sei verhaftet worden. Dieser sei auch der Oberbürgermeister von ... gewesen. Am 27. Juli 2019 sei um 8.00 Uhr morgens ein Schulfreund von ihm, der ... bei der Gendarma gewesen sei, zu ihm nach Hause gekommen und habe ihn vor einer Razzia gewarnt. Deshalb sei er mit seiner Familie nach ... gegangen. Am 24. Juli 2019 habe es tatsächlich eine Razzia gegeben. Dies hätten Nachbarn seinen Eltern erzählt. Eine Anklageschrift gebe es nicht. Er habe zwar einen e-Devlet-Zugang, aber die Daten seien auf seinem Mobiltelefon gespeichert, welches er bei seinen Eltern gelassen habe, damit der türkische Staat nicht rausfinden könne, wo er sich aufhalte. Dieses Mobiltelefon sei von seinem kleinen Neffen zerstört worden. Nach der Razzia habe er sehr große Angst gehabt und sei deshalb mit seiner Familie ausgereist. Er lege verschiedene Unterlagen vor (vgl. Buchstabe A bis Y S. 3 des streitgegenständlichen Bescheids, Bl. 34 der Gerichtsakte).
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Die Klägerin zu 2 trug bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt vor, sie habe dieselben Gründe wie ihr Ehemann. Wenn er in Gefahr sei, dann seien ihre Kinder und sie auch in Gefahr.
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Mit Bescheid vom 7. Juli 2020 lehnte das Bundesamt die Anträge auf Asylanerkennung ab, erkannte weder die Flüchtlingseigenschaft noch subsidiären Schutzstatus zu und stellte fest, dass nationale Abschiebungsverbote nicht vorliegen. Die Abschiebung wurde angedroht und das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Zwar sei der Kläger als Wahlbeobachter tätig gewesen, aber falls er deshalb von einem AKP-Abgeordneten bedroht worden sein sollte, habe er nicht um staatlichen Schutz gesucht. Auch seine politische Betätigung für die HDP könne dem Antrag nicht zum Erfolg verhelfen. Er sei Mitglied der HDP gewesen und habe auch politisch kandidiert und sei in den Stadtrat bestellt worden. HDP-Mitglieder seien nach seiner Ausreise in Gewahrsam genommen worden. Diese seien jedoch teilweise auch wieder entlassen worden. Es würden dem Bundesamt keinerlei offizielle Fahndungen, Anklagen, Haftbefehle oder Urteile gegen den Kläger vorliegen. Es lasse sich nicht erschließen, weshalb ihm Haft drohen sollte. Als er hierzu gefragt worden sei, habe er behauptet, keinen Zugang zu e-Devlet zu haben. Dennoch habe er verschiedene Beweismittel u.a. auch eine online-Abfrage aus UYAP vom 4. Oktober 2019 (Beweismittel H) vorgelegt. Somit hätte er sich auch um weitere Beweismittel wie Anzeigen oder Anklageschriften bemühen können. Soweit er vorgetragen habe, immer wieder von der Polizei mitgenommen worden zu sein, sei er jedenfalls immer wieder freigelassen worden. Die vorgetragene Razzia sei ihm nur mündlich von Dritten zugetragen worden. Offizielle Unterlagen dazu würden fehlen. Eine Bestätigung der Durchsuchung sei nicht vorgelegt worden. Die Entlassung aus dem öffentlichen Dienst und seine Tätigkeit für die Gewerkschaft würden zu keiner anderen Bewertung führen.
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Dagegen ließen die Kläger Klage erheben und beantragen,
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die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids vom 7. Juli 2020 zu verpflichten, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
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hilfsweise, subsidiären Schutz zuzuerkennen,
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weiter hilfsweise festzustellen, dass nationale Abschiebungsverbote vorliegen,
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Ziff. 6 des Bescheids unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu fassen.
10
Der Kläger stamme aus einer politisch aktiven Familie. Er und sein Sohn hätten sich exponiert politisch betätigt. In seiner Stadt ...sei er bestens bekannt gewesen. Er sei in der Stadtverwaltung tätig gewesen und von der AKP suspendiert worden. Die AKPRegierung akzeptiere keine Gerichtsentscheidungen. Im Übrigen wäre er nicht suspendiert worden, wenn er AKP-Mitglied und kein Kurde gewesen wäre. Er habe seine Arbeit verloren, weil er HDP-Mitglied sei. Die Suspendierung sei eine zielgerichtete politische Entscheidung gewesen. Sie erreiche bereits die für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderlich Schwere. Die Razzia sei daher wegen seiner politischen Aktivität für die HDP erfolgt. Darüber hinaus drohe dem Kläger jedenfalls aufgrund des gegen ihn eingeleiteten Ermittlungsverfahrens die Inhaftierung in der Türkei. Er sei Mitglied der Vereinigung der Stadtverwaltung und für den Stadtrat für die Periode 2019 bis 2024 bestellt gewesen. Es sei ein geheimes Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Erst nach der Festnahme der betreffenden Person werde das Ermittlungsverfahren im E-Gouvernement-System registriert, so dass man online Zugriff nehmen könne. Die Ermittlungsverfahren würden nicht mehr wie früher auf UYAP veröffentlicht. Im Rahmen der illegalen Ausreise würden Asylbewerber selten Originaldokumente über ihr Verfolgungsschicksal mitnehmen. Es treffe auch nicht zu, dass bei einer Hausdurchsuchung stets eine Bestätigung an die Betroffenen ausgehändigt werde. Am 24. Juli 2019 seien auch in anderen Städten Razzien durchgeführt worden. Auf Zeitungsberichte werde verwiesen. Soweit das Bundesamt auf die Freilassung eines Stadtratsmitglieds Bezug nehme, habe dieses nur an einer Protestaktion teilgenommen. Der Kläger sei in einer höheren Position gewesen. Die Razzien dienten der Vollstreckung von Haft- und Durchsuchungsbefehlen. Der Kläger habe den Überfall nicht erfunden, sondern sei seitens eines Freundes, der Kommandant bei der Gendarma gewesen sei, informiert worden. Die Verhaftungswelle richte sich gegen die HDP. Der türkische Staat rechne den Kläger der PKK zu, auch wenn er tatsächlich nicht PKK-Anhänger sei. Er gehe davon aus, dass sein Name auf einer der Fahndungslisten stehe. Auch mit fingierten Straftaten würde es zu Verurteilungen kommen. Nur weil er des Öfteren von der Polizei wieder freigelassen worden sei, bedeute dies nicht, dass er auch nach der Razzia am 24. Juli 2019 wieder freigelassen worden wäre. In der Türkei würden Einreisekontrollen stattfinden. Der Kläger habe die Türkei nach dem Putsch illegal verlassen. Es sei höchstwahrscheinlich, dass er mit dem Putsch in Verbindung gebracht werde.
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Mit Schriftsatz vom 12. April 2021 bat der Klägerbevollmächtigte um die Verlegung des für den 21. April 2021 anberaumten Termins wegen Terminskollision und wies darauf hin, dass der Kläger zu 1 ein Schreiben seines Rechtsanwaltes aus der Türkei erwarte, welches von großer Bedeutung sei. Der Unterzeichner habe weitere Dokumente über das Verfolgungsschicksal, die er zur Akte reichen werde.
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Mit Schriftsatz vom 9. Juni 2021, bei Gericht eingegangen am 15. Juni 2021, trug der Klägerbevollmächtigte weiter vor, dass die Kläger verschiedene Dokumente, die der Unterzeichner am 2. Juni 2021 erhalten habe, zur Akte vorlegen. Der Generalstaatsanwaltschaft in, Büro für Terror und Organisierte Straftaten, habe am 5. März 2020 eine Antragsschrift hinsichtlich des Erlasse eines Durchsuchungsbefehls an das den Bereitschaftsdienst durchführende Strafgericht in ... übersandt (K1). Darin werde ausgeführt, dass sich ein PKK-Mitglied am 18. Februar 2020 ergeben, den Kläger falsch verdächtigt und als Person identifiziert habe, die ihm 2016 in ... geholfen habe. Die Generalstaatsanwaltschaft gehe davon aus, dass der Kläger den Mitgliedern der Terrororganisation Hilfe geleistet habe und als Miliz sowie Kollaborateur der Terrororganisation aktiv gewesen sei. Das erste Strafgericht habe am selben Tag den Durchsuchungsbefehl erlassen (K2). Danach solle die Wohnung durchsucht und alle Beweismittel beschlagnahmt werden. Der Durchsuchungsbefehl richte sich auch gegen die Personen ... und .... Der Generalstaatsanwaltschaft habe den Durchsuchungsbefehl an die Direktion der Antiterroreinheit übersandt und diese mit der Durchsuchung beauftragt. Der Kläger solle für vier Tage festgenommen und vernommen werden (K3). Am 18. März 2020 habe die Generalstaatsanwaltschaft den Erlass eines Haftbefehls nach § 94 der türkischen StPO beantragt (K4). Das dritte Strafgericht habe beschlossen, einen Haftbefehl zu erlassen wegen Mitgliedschaft in der Terrororganisation nach § 314 Abs. 2 des türkischen StGB. Er solle zwecks Vernehmung und Inhaftierung nach § 98 der türkischen StPO festgenommen werden (K5, K6). Das dritte Strafgericht habe den Haftbefehl am 18. März 2020 an die Generalstaatsanwaltschaft übersandt, mit der Bitte um Mitteilung über die Vollstreckung des Haftbefehls (K7). Der Mitangeklagte ... sei am 16. Januar 2021 verhaftet und durch die Antiterroreinheit und das dritte Strafgericht vernommen worden (K8 bis K10). Von der Antiterroreinheit sei ... auch nach dem Kläger gefragt worden. Dieser habe verneint, den Kläger zu kennen. Die Generalstaatsanwaltschaft habe mit Anklage vom 15. September 2020 Anklage gegen die Eheleute ... zwecks Verurteilung wegen der Mitgliedschaft in der Terrororganisation erhoben (K11). Darin sei ausgeführt, dass das PKK-Mitglied neben dem Kläger auch ... belastet habe und dass diese sie zum Haus des Herrn ... geschickt hätten, und die Eheleute ... sich um das PKK-Mitglied gekümmert hätten. ... habe angegeben, dass er mit keiner Terrororganisation im Zusammenhang stehe. Bei der Vernehmung durch die Anti-Terroreinheit sei dem ... das Lichtbild des Klägers gezeigt worden und er sei gefragt worden, ob er diese Person kenne. Er habe angegeben, dass es das Stadtratsmitglied in ... sei (K12). Die Ehefrau ... sei ebenfalls von der Anti-Terroreinheit gefragt worden, ob sie die Person auf dem Lichtbild, den Kläger, kenne, was diese verneint habe (K13). Die Eheleute seien verhaftet worden und weiterhin in Haft (K14 bis K18). Des Weiteren habe der Verteidiger des Klägers, Herr Rechtsanwalt ... aus, mit Schreiben vom 25. Januar 2021 (K19) zusammenfassend über die ihm bekannten Vorwürfe bzw. Ermittlungsakte berichtet. Danach habe am 24. Juli 2019 eine Hausdurchsuchung stattgefunden. Dem Kläger werde ein Verstoß gegen das Versammlungsgesetz vorgeworfen. Aufgrund der Geheimhaltung hinsichtlich der Ermittlungen habe der Verteidiger bisher keine Akteneinsicht erhalten. Der Kläger sei von der gleichen Person, die von der tätigen Reue profitieren möchte, wie die Eheleute ... belastet worden, welche verhaftet worden seien. Auch gegen den Kläger sei ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden, die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen. Der Kläger sei auf einem Lichtbild erkannt worden. Wegen der Aussagen der gleichen Person, die von der tätigen Reue profitieren möchte, sei auch ... in dem Ermittlungsverfahren der Generalstaatsanwaltschaft verhaftet worden. Der Kläger werde nach den entsprechenden Vorschriften mit einer Mindeststrafe von fünf bis zehn Jahren bestraft werden. Es sei offensichtlich, dass der Kläger am Flughafen verhaftet und ins Gefängnis geschickt werde. Der Kläger selbst habe berichtet, dass er im Krisenstab im Jahr 2015 tätig gewesen sei und geflüchteten Menschen geholfen habe. Sie hätten in, ca. 500 m von ... entfernt ein Lager für die Flüchtlinge aufgebaut. Er selbst kenne die Frau von der PKK, die ihn belaste, nicht. Der Vorwurf sei fingiert. Herrn ... kenne er nur flüchtig, genauso wie Herrn, der früher Stadtratsmitglied in ... gewesen sei. Das Weitere sei am 10. April 2020 im Dorf ... seitens der türkischen Sicherheitskräfte nach dem Kläger gefragt worden. Mehrere Verwandte, die als Beamte tätig gewesen seien, seien aufgrund der politischen Tätigkeiten des Klägers suspendiert worden. Es sei von Sippenhaft auszugehen. Die Personen seien nie politisch aktiv gewesen und hätten auch keinerlei Vorstrafen. Der Bruder des Klägers sei am 12. April 2020 angerufen worden und habe zur Polizeiinspektion gehen müssen. Dort sei er nach dem Aufenthaltsort des Klägers befragt worden. Er sei beleidigt und brutal zusammengeschlagen worden. Die Suspendierungen seien veröffentlicht worden (K20 bis K22). Die Dokumente würden zum größten Teil aus dem elektronischen Postfach der Verteidiger stammen und seien elektronisch signiert. Familienmitglieder der Kläger hätten sich an die Familien der Mitangeklagten gewandt. Dadurch hätten die Kläger die Unterlagen von den Verteidigern der Mitangeklagten erhalten.
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Mit Schriftsatz vom 10. Juni 2021, bei Gericht eingegangen am 15. Juni 2021, teilte der Klägerbevollmächtigte ergänzend mit, dass in den türkischen Medien über die Verhaftung der Eheleute ... berichtet werde. Auf die beiliegenden Artikel und einen Gerichtsbescheid des VG Stuttgart vom 28. Februar 2021 hinsichtlich der aktuellen prekären Situation in der Türkei werde verwiesen.
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Aufgrund des Umfangs der vorgelegten, nicht übersetzten Unterlagen wurde der für 18. Juni 2021 anberaumte Termin zur mündlichen Verhandlung aufgehoben.
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Die Beklagte teilte zu den vorgelegten Dokumenten des Klägers mit, dass es an der erforderlichen Stringenz fehlen würde, um sie als glaubhaft ansehen zu können. Wesentliche Dokumente würden keine Grundlage in dem geltenden Strafprozessrecht in der Türkei finden, würden inhaltliche Unstimmigkeiten sowie formelle Unregelmäßigkeiten aufweisen. Während der Ermittlungsphase sei ein Zugriff auf Dokumente ohne einen bevollmächtigten Rechtsanwalt rechtlich nicht möglich. Die türkische Prozessrechtsdogmatik würde zwischen zwei Phasen der Strafverfolgung i.w.S., nämlich zwischen der Ermittlung und der Strafverfolgung i.e.S. unterscheiden. Der Ermittlungsphase würden die §§ 160 ff. der türkischen StPO zugrunde liegen. Gemäß § 157 TStPO seien strafrechtliche Ermittlungen nicht öffentlich. Der Zugriff auf die Ermittlungsakte sei ausschließlich bevollmächtigten Rechtsanwälten gestattet. Dem Bundesamt sei nicht bekannt, dass der Kläger anwaltlich von Herrn ... vertreten werde. Es seien auch keine Dokumente vorgelegt worden, die eine solche Rechtsvertretung belegen würden. In seinem arbeitsrechtlichen Verfahren sei ein anderer Rechtsanwalt tätig geworden. Laut Angaben des Rechtsanwalts ... würde er den Kläger seit 2019 vertreten. Untypisch nenne der Rechtsanwalt hierfür kein genaues Datum. In seiner Anhörung vor dem Bundesamt habe der Kläger diesen Rechtsanwalt nicht erwähnt. Es sei zu erwarten gewesen, dass der Kläger die erteilte Vollmacht mit Apostille vorgelegt hätte. Erstaunlich sei auch, dass der Verteidiger bisher keine Akteneinsicht wegen der Geheimhaltung hinsichtlich der Ermittlungen erhalten habe. Es sei nicht nachvollziehbar, dass der türkische Rechtsanwalt, sobald er von laufenden Ermittlungen gegen seinen Mandanten Kenntnis habe, keinen Akteneinsichtsantrag gestellt habe. Ebenfalls nicht nachvollziehbar sei, dass die Dokumente K1 bis K7 über UYAP aufrufbar sein sollten, da dies nur nach Erhebung und gerichtlicher Annahme der Anklageschrift, also mit Eröffnung der Strafverfolgung i.e.S. gestattet sei. Eine Anklageschrift sei ebenfalls nicht vorgelegt worden. Auch technisch scheide der Zugriff über den eigenen UYAP-Zugang aus, da der Kläger erklärt habe, seine Zugangsdaten seien zerstört worden. Der Beschaffungsweg sei undurchsichtig. Dies gelte auch insoweit, als angeblich Familienmitglieder des Klägers sich an Familien der Mitangeklagten gewandt hätten. Wesentliche den Kläger betreffende Dokumente seien inhaltlich nicht mit der türkischen StPO vereinbar. Die durch die Anlagen K1 bis K7 zum Ausdruck kommende Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft und des zuständigen Gerichts sei nicht nachvollziehbar und würde nicht mit den Vorgaben der TStPO übereinstimmen. Im türkischen Strafprozessrecht seien verschiedene freiheitsentziehende Maßnahmen zu finden. Die Voraussetzungen für die richterliche Anordnung der Untersuchungshaft hätten von Anfang an vorgelegen. Deswegen sei nicht nachvollziehbar, dass die Staatsanwaltschaft sie nicht gleich bei dem Antrag vom 5. März 2020 (K1) gestellt habe. Des Weiteren sei weder die Festnahme noch die angebliche Beschränkung richterlich genehmigt worden (K2). Insofern seien auch Inkongruenzen sowohl im Schreiben der Staatsanwaltschaft als auch im Beschluss des Amtsgerichts festzustellen. Das Schreiben der Staatsanwaltschaft enthalte im Betreff angebliche Beschlussanträge, die im Korpus des Textes weder dargelegt noch begründet würden. Der Beschluss des Amtsgerichts enthalte keine Entscheidungen und keine Hinweise auf die angeblichen Anträge der Staatsanwaltschaft. Auch das Schreiben der Staatsanwaltschaft (K3) an die Anti-Terroreinheit sei zweifelhaften Inhalts. Sie enthalte keinen „Festnahmebefehl“, sondern eine rechtlich unbegründete „Bitte“ an die Anti-Terroreinheit. Auch die Bitte, den Kläger für insgesamt vier (statt rechtlich vorgesehen drei) Tage in Gewahrsam zu nehmen, sei ohne gesetzliche Grundlage. Unerklärlicherweise würden keine Informationen über das Ergebnis der angeordneten Maßnahmen vorliegen. Auch die Berufung der Staatsanwaltschaft auf § 94 TStPO sei nicht nachvollziehbar (K4). Rechtliche Grundlage sei vielmehr in § 98 TStPO zu finden. Auch das Strafgericht (K5) ordne einen Festnahmebefehl gemäß § 98 Abs. 1 TStPO an, wo die Voraussetzungen für den Erlass eines Haftbefehls gemäß § 100 ff. TStPO vorliegen würden. Auch lasse sich dem Dokument nicht entnehmen, dass irgendwelche Vorgaben des Anti-Terrorgesetzes aufgerufen worden seien oder von Rechts wegen Anwendung fänden. Außerdem müsse der Steckbrief die genauen körperlichen Merkmale, die bekannten Personalien der Person und die ihr zur Last gelegten Straftat sowie den Ort bezeichnen, an den sie im Fall der Festnahme zu verbringen sei. Anlage K4 und K6 würden des Weiteren als Datum der Straftatbegehung den 5. März 2020 nennen, obwohl der Kläger sich zu der Zeit bereits in Deutschland befunden habe. Beim Mitangeklagten ... werde der 9. Juni 2020 als Datum der Straftatbegehung angegeben. Untypischerweise habe der Rechtsanwalt es unterlassen, dass Einreichen eines Akteneinsichtsantrags zu veranlassen. Rechtsanwalt ... habe ferner erklärt, ein Dokument eingereicht zu haben, ohne dass dies dem Verwaltungsgericht vorgelegt worden sei. Des Weiteren sei nicht nachvollziehbar, wie der Rechtsanwalt über die Verfahren gegen zwei ihm unbekannte Personen erfahren habe können und auch noch Dokumente der Strafverfahren gegen diese Personen erhalten habe. Es sei nicht nachvollziehbar, dass der Kläger über Rechtsanwalt, welcher ihm seit 2019 vertreten solle, nichts über die Einleitung eines Strafverfahrens wegen eines Verstoßes gegen das Versammlungs- und Veranstaltungsgesetz berichtet habe. Des Weiteren würden die Dokumente K1 bis K7 formelle Unregelmäßigkeiten aufweisen, die als Fälschungsmerkmale zu identifizieren seien.
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Mit Schriftsatz vom 31. August 2021 nahm der Klägerbevollmächtigte zu den Einwänden der Beklagten Stellung. Es sei nicht zu erörtern, dass die politischen Straftaten nicht fair seien und rechtsstaatlichen Anforderungen nicht genügen würden. Der Unterzeichner habe am 30. August 2021 mit Rechtsanwalt ... über den Inhalt des Schriftsatzes der Beklagten telefoniert, da Rechtsanwalt ... krank gewesen sei. Die Beklagte habe demnach Vorschriften der früheren Fassung der TStPO aus dem Jahr 2017 zitiert. Da der Kläger bisher nicht festgenommen und verhört hätte werden können, sei auch keine Anklageschrift gegen ihn erstellt worden. Beschuldigte würden bei Terrorstraftaten keine Ladung erhalten. Die türkischen Gerichte und Staatsanwaltschaften würden mit Textbausteinen, Schablonen, copy & paste arbeiten. Eine perfekte Subsumtion/Kongruenz, Angaben von Rechtsgrundlagen für Maßnahmen, ausführliche Begründung und Sachverhalte würden oft, insbesondere bei Terrorstraftaten, nicht eingehalten. Nach dem aktuellen § 19 des türkischen Anti-Terrorgesetzes könne ein Beschuldigter bis vier Tage festgenommen werden. Es würde nicht die gesamte Ermittlungsakte vorliegen. Erst wenn der Kläger festgenommen worden sei und vor Gericht stehe, sei § 100a Nr. 12 TStPO anwendbar. Bei Terrorstraftaten werde ein Festnahmebefehl unverzüglich erlassen. Im Steckbrief würden die körperlichen Merkmale oft nicht bzw. nicht ausführlich dargestellt. Als Datum der Straftat werde oft das Datum der Festnahme niedergeschrieben. Bei Terrorstraftaten würde es sich um Dauerdelikte handeln. Der Beschuldigte ... sei am 9. Juni 2020 festgenommen worden. Die unterschiedliche Schreibweise an den elektronisch signierten Dokumenten ergeben sich aufgrund der Formation, wobei die beiden letzten Buchstaben weggefallen seien. Der Richter entscheide selbst, welche Version er wähle. Der Rechtsanwalt ... sei auch Verteidiger des .... Er habe mitgeteilt, dass er die den Kläger betreffenden Dokumente teilweise aus der Online-Akte seines Mandanten entnommen habe. Manche Dokumente habe er von der Staatsanwaltschaft erhalten. Die vorgelegten Dokumente seien echt. Herr Rechtsanwalt ... habe eine Dokumentenprüfung mit dem in der Fußzeile der Dokumente befindlichen Dokumentencodes und eines weiteren Sicherheitscodes durchgeführt. Auf die Anlagen K23 bis K34 werde insoweit verwiesen. Des Weiteren werde ein Abtrennungsbeschluss vom 18. März 2020 der Generalstaatsanwaltschaft zur Akte gereicht, womit das Ermittlungsverfahren gegen den Kläger und Herrn ... abgetrennt worden sei (K35). Der Angeklagte ... befinde sich derzeit in der geschlossenen Justizvollzugsanstalt, Typ T, in ... (K37). Des Weiteren werde die Generalvollmacht des Klägers an Herrn Rechtsanwalt ... durch den Notar ... vom 1. Juli 2019 vorgelegt (K39).
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Die Beklagte erwiderte daraufhin, dass durch die unterschiedlichen Fassungen der TStPO wesentliche Feststellungen nicht in Frage gestellt worden seien. Eine Bezugnahme des Klägerbevollmächtigten auf die von der Beklagten geltend gemachten Einwände sei nicht zu erkennen. Weitere Angaben wie beispielsweise, dass als Datum der Straftat oft das Datum der Festnahme niedergeschrieben werde, seien nicht nachprüfbar. Untypisch lasse sich nach wie vor nicht erkennen, dass sich der angebliche Klägerbevollmächtigte in der Türkei um die regelmäßige Erlangung verfügbarer Dokumente aus der Ermittlungsakte gekümmert habe. Dies sei nach der StPO möglich. Die durch einen unbeteiligten, nicht bevollmächtigten Dritten durchgeführte „Dokumentenprüfung“ könne nicht als Beleg dafür angesehen werden, dass gegen den Kläger ein Ermittlungsverfahren wegen Terrorismusverdacht betrieben werde. Hierbei handele es sich um Gefälligkeitsschreiben, das darüber hinaus jedermann für den Kläger hätte ausstellen können, da hierfür keine Bevollmächtigung erforderlich sei. Denn um die „Dokumentenprüfung“ durchführen zu können, reiche es aus, über einen Code, einen Internetanschluss und über Türkischkenntnisse zu verfügen. Im Übrigen erstrecke sich die Dokumentenprüfung ausschließlich auf den Bestand des Dokumentencodes, somit unmittelbar auf den Bestand eines beliebigen Dokuments, nicht aber auf dessen Inhalt und darauf, dass der Code auch zu einem Dokument mit genau diesem Inhalt gehöre.
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Mit Schriftsatz vom 19. November 2021 trug der Klägerbevollmächtige ergänzend vor, dass der Strafverteidiger des Klägers, Rechtsanwalt, am 16. November 2021 einen Antrag auf Akteneinsicht bei der Generalstaatsanwaltschaft in ... gestellt habe. Auf der Antragsschrift habe der Generalstaatsanwalt mit der Nr. ... verfügt, dass hinsichtlich der Akte eine Beschränkung des Akteneinsichtsrechts existiere und die Akteneinsicht daher abgelehnt werde. Zum Beweis würden die entsprechenden Dokumente beigelegt. Gegen die Ablehnung habe der Anwalt am 16. November 2021 beim diensthabenden Strafgericht in ... Beschwerde eingelegt. Darin habe er erläutert, dass die Staatsanwaltschaft den Antrag aufgrund eines Beschlusses über die Geheimhaltung der Ermittlungen abgelehnt habe. Es sei gesetzeswidrig, die gesamte Strafakte zur Akteneinsicht nicht herauszugeben. Nach Art. 153 TStPO umfasse der Beschluss über die Geheimhaltung der Ermittlungen nicht die in der Akte des Gerichtsverfahrens betreffende Dinge. Die Beschwerde habe er gemäß dem beiliegenden Empfangsbekenntnis um 15:20 Uhr an die Geschäftsstelle des Strafgerichts übergeben. Mit Beschluss vom 17. November 2021 habe das zweite Strafgericht in ... (Az.: ...) die Beschwerde abgelehnt. Es sei sehr traurig, dass die Beklagte trotz Vorlage alle Dokumente/Beweise nach wie vor an ihrer unzutreffenden Meinung festhalte. Nicht jeder Kläger lege gefälschte Dokumente vor. Der Unterzeichner sei kein Experte für türkisches Strafrecht/Strafprozessrecht. Auch von der Beklagten könne dies nicht behauptet werden. An der Echtheit der Urkunden habe der Unterzeichner jedoch keinerlei Zweifel. In dem Schriftsatz des Unterzeichners vom 31. August 2021 sei aus Versehen auf der zweiten Seite § 100a Nr. 12 TStPO zitiert. Die richtige Vorschrift laute § 100 Nr. 12 TStPO. Ein Blick ins Gesetz genüge, um dies festzustellen. Ein § 100a TStPO existiere nicht. In der Fußzeile von allen anliegenden elektronisch signierten Dokumenten aus dem türkischen elektronischen Postfach befinde sich jeweils ein Code.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 19. November 2021 teilte der Klägerbevollmächtige mit, dass der Anwalt ... am 22. November 2021 gegen den ablehnenden Beschluss des zweiten Strafgerichts in ... Berufung beim dritten Strafgericht in ... eingelegt habe. Die Berufung habe er am 22. November 2021 um 14:38 Uhr an die Geschäftsstelle übergeben. Die entsprechenden Dokumente würden beigelegt.
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Am 23. November 2021 fand die mündliche Verhandlung statt.
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Im Nachgang zur mündlichen Verhandlung übersandte der Klägerbevollmächtige einen weiteren Schriftsatz vom 24. November 2021, worin er das Gericht höflichst bitte, hinsichtlich der vorgelegten Beweismittel eine Auskunft des Auswärtigen Amtes einzuholen, falls das Gericht davon ausgehen sollte, dass die Beweismittel nicht echt seien. Alle Dokumente seien echt. Der Kläger habe überhaupt keine Gründe, gefälschte Dokumente vorzulegen. Alle Dokumente seien den Klägern per Post u.a. mit DHL Express übersandt worden. Die entsprechenden Umschläge seien in der mündlichen Verhandlung gezeigt, ein Umschlag sei entgegengenommen worden. Weshalb solle ein Rechtsanwalt aus der Türkei dem Kläger gefälschte Dokumente senden und sich auch noch strafbar machen? Warum solle ein Rechtsanwalt schriftlich über Verfahren berichten, die angeblich nicht existierten? Der Unterzeichner habe eine Online-Suche auf der Webseite der Vereinigung der Rechtsanwaltskammer der Türkei hinsichtlich der drei Rechtsanwälte durchgeführt, alle würden existieren. Auf den beiliegenden Ausdruck wird verwiesen. Es werde nochmals darauf hingewiesen, dass eine Abfrage der Mitgliedschaft auch über die Webseite der Generalstaatsanwaltschaft des Kassationsgerichtshofs möglich sei. Im Übrigen werde auch in Deutschland bei mehreren Beschuldigten lediglich eine Ermittlungsakte unter einem Aktenzeichen bis zur Verurteilung der Angeklagten geführt. Erst im fortgeschrittenen Stadium des Ermittlungsverfahrens werde das Verfahren gegen manche Mitbeschuldigte eventuell abgetrennt. Dies sei auch in der Türkei so. Aus diesem Grund würden sich in den Ermittlungsakten der Mitbeschuldigten ... und ... auch Dokumente des Klägers befinden. Der Kläger teile mit, dass er an drei Stadtratssitzungen teilgenommen habe.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und vorgelegte Behördenakte sowie auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 23. November 2021 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Die Kläger haben zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Gewährung subsidiären Schutzes oder auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes ist daher rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 VwGO). Auf den Bescheid des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
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I. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
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1. Dem Kläger zu 1 droht nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit/Zurechnung zur HDP.
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a) Der Kurdenkonflikt ließ auch die politische Vertretung der kurdischen Minderheit zum Ziel staatlicher Repressalien werden. Die meisten politisch Oppositionellen können sich nicht mehr frei und unbehelligt am politischen Prozess beteiligen. Abgeordnete mehrerer Parteien sind von der Immunitätsaufhebung im Juli 2016 betroffen, besonders auch die linkskurdische Partei „Demokratische Partei der Völker“ (HDP). Für die türkische Regierung war die HDP Verhandlungspartner im Befriedungsprozess; sie zog in der Parlamentswahl am 7. Juni 2015 mit 13,1% der Stimmen erstmals als Partei ins Parlament ein, nachdem sie zuvor durch unabhängige Kandidaten vertreten gewesen war. In der Parlamentswahl am 1. November 2015 gelang ihr mit 10,8% der Stimmen ebenso die Überwindung der Zehnprozenthürde zum Wiedereinzug ins Parlament wie in der Parlamentswahl am 24. Juni 2018 mit 11,7% der Stimmen und dies trotz Einschränkungen ihres Wahlkampfs u.a. durch die Inhaftierung ihres Spitzenkandidaten Demirtas (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 5 f., 10 f.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 65). Im Zuge von Anklagen wegen angeblicher Verstöße gegen Anti-Terror-Gesetze verloren 57 der damals 59 HDP-Parlamentsabgeordneten zunächst ihre Immunität und nach rechtskräftiger Verurteilung verloren neun Abgeordnete der HDP auch ihr Parlamentsmandat (Lagebericht ebenda S. 5 f., 11). Auch auf lokaler Ebene versucht die Regierung, den Einfluss der HDP und von deren Schwesterpartei DBP zu verringern. Die DBP stellt 97 der Bürgermeister im Südosten der Türkei und ist dort die vorherrschende politische Kraft. Genauso wie vielen der HDP-Abgeordneten wird vielen DBP-Mitgliedern Unterstützung der PKK vorgeworfen. Im Zuge der Notstandsdekrete wurden 93 gewählte Kommunalverwaltungen überwiegend im kurdisch geprägten Südosten der Türkei mit der Begründung einer Nähe zu terroristischen Organisationen (PKK, Gülen-Bewegung) abgesetzt und durch sog. staatliche Treuhändler ersetzt (Lagebericht ebenda S. 10). Teilen der Basis der HDP werden Verbindungen zur PKK nachgesagt sowie zu deren politischer Dachorganisation „Union der Gemeinschaften Kurdistans“ (KCK), welcher von türkischen Behörden unterstellt wird, von der PKK dominierte quasistaatliche Parallelstrukturen (z. B. Sicherheit, Wirtschaft) aufzubauen (Lagebericht ebenda S. 11). Strafverfolgung gegen die PKK und die KCK trifft daher teilweise auch Mitglieder der HDP/DBP, darunter auch zahlreiche Bürgermeister und andere Mandatsträger unter dem Vorwurf, Mitglieder der KCK und damit einer terroristischen Vereinigung zu sein (Strafrahmen: 15 Jahre bis lebenslänglich). Bei mehreren Verhaftungswellen im Südosten des Landes sowie in den Ballungszentren Istanbul, Ankara und Izmir wurden seit Mitte 2011 auch Journalisten, Akademiker, Gewerkschafter und Rechtsanwälte inhaftiert sowie 845 Personen wegen kritischer öffentlicher Äußerungen gegen den Militäreinsatz in Afrin (Lagebericht ebenda S. 6, 10). Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen vom 24. Juni 2018 überwand die HDP mit 11,7% der Stimmen erneut die Zehnprozenthürde (vgl. N.N., Präsidialsystem in der Türkei: Noch mehr Macht für Erdogan, www.spiegel.de, Abruf vom 26.6.2018). Der Druck auf die HDP dauert an; so wurden die der HDP angehörenden Bürgermeister von Diyarbakir, Mardin und Van im Südosten der Türkei am 19. August 2019 ihrer Ämter enthoben; gegen sie wird wegen der Verbreitung von Terrorpropaganda und der Mitgliedschaft in einer Terrororganisation ermittelt (vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 50).
27
b) Wegen der angeblichen Vorfälle, die sich ereignet haben, als sich der Kläger zu 1 noch in der Türkei befunden hat, ist eine Verfolgung nicht hinreichend glaubhaft bzw. substantiiert dargelegt worden. Wegen seiner Mitgliedschaft bei der HDP und seiner Stadtrats- bzw. Delegiertentätigkeit muss er nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit mit einer Verfolgung rechnen. Selbst wenn man es als wahr unterstellt, dass der Kläger schon öfters in Polizeigewahrsam und als Wahlbeobachter tätig gewesen sein soll und zuletzt als Stadtrat für die HDP gewählt worden war, ist nicht glaubhaft dargelegt worden, dass er deswegen mit einer Verfolgung zu rechnen hat. Zutreffend weist das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid darauf hin, dass der Kläger, soweit es zutreffend sein soll, dass er auch mehrmals von der Polizei in Gewahrsam genommen worden sei, nach den Verhören jeweils wieder freigelassen worden ist. Ein nachhaltiges Verfolgungsinteresse am Kläger ist insoweit nicht erkennbar. Auch die angebliche Durchsuchung am 24. Juli 2019, vor der er von einem Freund gewarnt worden sei, hat er nicht glaubhaft dargelegt. Obwohl der Klägerbevollmächtige bereits mit Klageschriftsatz vom 27. Juli 2020 darauf hingewiesen hat, dass gegen den Kläger zu 1 ein geheimes Ermittlungsverfahren eingeleitet worden sei, hat er dazu (im Gegensatz zu dem erst im Laufe des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens eingeführten zweiten (Straf-) Verfahren) keine Unterlagen vorgelegt. Wie der Klägerbevollmächtigte in der mündlichen Verhandlung ausführte, habe sich dieser Hinweis auf ein geheimes Ermittlungsverfahren in der Klageschrift auf die Hausdurchsuchung am 24. Juli 2019 bezogen. Auch der türkische Rechtsanwalt, Herr, den der Kläger angeblich laut der Vollmacht (K39) bereits am 1. Juli 2019 beauftragt hat, seine Rechte zu vertreten, hat dazu keine Dokumente vorgelegt, obwohl er in seinem Schreiben vom 25. Januar 2021 (K19) darauf hingewiesen hat, dass er durch seine Nachforschungen der am 24. Juli 2019 durchgeführten Durchsuchung erfahren habe, dass Ermittlungen eingeleitet worden seien und die Ermittlungen einem Geheimhaltungsbeschluss unterliegen würden und der Inhalt der Ermittlung und der Akte deshalb nicht zu erlangen sei. Es ist nicht nachvollziehbar und deshalb insgesamt unglaubwürdig, wieso der Kläger, der bereits am 1. August 2019 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist und am 11. Dezember 2019 vom Bundesamt angehört worden ist sowie angeblich seinen türkischen Anwalt bereits im Juli 2019 mandatiert hat, sich nicht zeitnah darum bemüht hat, Unterlagen zu diesem Ermittlungsverfahren durch seinen türkischen Anwalt zu erlangen. Selbst wenn dies tatsächlich ein geheimes Ermittlungsverfahren wäre, wäre somit zumindest ein Beschränkungsbeschluss zu erwirken und vorzulegen gewesen.
28
Soweit der Kläger vorgetragen hat, dass er wegen seiner HDP-Aktivitäten von seinem Arbeitgeber entlassen worden sei, ist die Entlassung bzw. Suspendierung in einem offensichtlich rechtsstaatlichen Grundsätzen entsprechenden gerichtlichen Verfahren überprüft und zu Gunsten des Klägers entschieden worden und war jedenfalls auch nicht ausreiseursächlich, da das Verfahren bereits 2015 bzw. 2016 abgeschlossen war. Auch das Beleidigungsverfahren ist bereits im Oktober 2016 eingestellt worden.
29
Des Weiteren hat der Kläger keine prominente oder sonst aus Sicht des türkischen Staats relevante Position innegehabt, die ein gesteigertes Verfolgungsinteresse glaubhaft machen würde. Auch wenn er als Wahlbeobachter tätig gewesen war, einmal als Mitglied der Vereinigung der Stadtverwaltung ... bei einer Veranstaltung teilgenommen haben sollte und seit Ende März 2019 kurz vor seiner Ausreise im Juli 2019 in den Stadtrat als HDP-Vertreter gewählt worden ist, hat er damit im Gegensatz zu höheren Positionen wie beispielsweise als Bürgermeister keine herausgehobene Funktion inne, die nach der oben zitierten Auskunftslage für den türkischen Staat von Relevanz wäre. So sind auch kurzzeitig verhaftete HDP-Mitglieder wieder freigelassen worden. Dass der Kläger mit kritischen Äußerungen aufgefallen wäre, hat er selbst nicht vorgetragen.
30
2. Eine individuelle Verfolgung wegen einer Zugehörigkeit/Zurechnung zur PKK hat der Kläger ebenfalls nicht hinreichend wahrscheinlich zu befürchten. Ausgangslage der behaupteten Verfolgung ist die angebliche Einleitung eines Strafverfahrens gegen den Kläger mit dem (angeblich fingierten) Vorwurf der Unterstützung der PKK.
31
a) Eine weitere Gruppe, die staatlichen Nachstellungen ausgesetzt ist, sind Personen, denen eine Nähe zur kurdischen „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) vorgeworfen wird (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 6, 10 f. - im Folgenden: Lagebericht). Seit Sommer 2015 war die Türkei Ziel terroristischer Anschläge, welche seitens der türkischen Regierung u.a. der PKK zur Last gelegt wurden und Vorwand boten, den zwischen der Regierung und PKK-Chef Öcalan zur Beendigung des seit den 80er Jahren blutig ausgefochtenen Konflikts um eine kurdische Autonomie (zur Vorgeschichte und Entwicklung der PKK vgl. BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 16 ff. m.w.N.) erfolgversprechend eingeleiteten Befriedungsprozess mit der PKK abzubrechen. Flankiert von einem nationalistisch ideologisierten Kurs geht die Türkei bedingungslos gegen die PKK vor und nutzt den Vorwurf des Terrorismus auch für weitergehende Freiheitsbeschränkungen und Repressalien. Der seit Juli 2015 nach - der PKK zugeschriebenen - Attentaten wieder militärisch ausgefochtene Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK forderte erhebliche Opfer auf beiden Seiten sowie unter Zivilisten (vgl. AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1). Schwere Waffen wie Panzer und Artillerie sollen dabei sogar in Wohngebieten eingesetzt worden und nach Informationen der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) 321 Zivilpersonen getötet worden sein (vgl. AI, Auskunft an das VG Magdeburg vom 1.3.2018, S. 2; dazu auch Kamil Taylan, Gutachten an das VG Magdeburg vom 5.11.2017, S. 2 ff.). Neben Angriffen türkischer Sicherheitsorgane auf Stellungen der PKK im Südosten der Türkei kam es dort auch in Städten zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Polizei und Armee einerseits und Mitgliedern der PKKJugendorganisation andererseits (vgl. AI, Amnesty Report Türkei 2016, S. 1, 2). Mittlerweile hat die Intensität der Kämpfe auf türkischem Territorium seit Spätsommer 2016 deutlich nachgelassen, während sie sich auf syrischem Gebiet durch den türkischen Einmarsch verschärften (BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 17).
32
Daher besteht eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 - 6 K 3554/17.A - juris Rn. 51 m.w.N.; auch BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 88).
33
b) Die gegen ihn angeblich in der Türkei erhobenen (angeblich fingierten) Vorwürfe der Unterstützung der PKK mit entsprechenden Dokumenten hat der Kläger erstmals mit Schriftsatz vom 9. Juni 2021, beim Verwaltungsgericht am 15. Juni 2021 eingegangen, und damit unmittelbar vor der ursprünglich am 18. Juni 2021 terminierten Sitzung vortragen lassen.
34
Es ist schon nicht nachvollziehbar, wieso der Kläger diese Vorwürfe nicht bereits früher in das gerichtlichen Verfahren eingeführt hat. So ist das Schreiben seines türkischen Bevollmächtigten in der Türkei bereits vom 25. Januar 2021. Der Kläger selbst hat in der mündlichen Verhandlung angegeben, von den Vorwürfen bereits im Juli 2020 erfahren zu haben. Zweifel bestehen auch an der Authentizität des vorgelegten Haftbefehls bezüglich des Klägers vom 18. März 2020 (K6). So ist es äußerst unwahrscheinlich, dass der Haftbefehl, der genauso wie das Dokument K 7 nur den Kläger betrifft, sich in den Verfahrensunterlagen eines Mitbeschuldigten, auch wenn eventuell das Ermittlungsverfahren für mehrere Beschuldigte nicht getrennt geführt wird, befindet, dies vor allem deshalb, weil der Kläger vorträgt, dass sein Ermittlungsverfahren „als geheim“ eingestuft ist. Würde die türkische Justiz tatsächlich die Festnahme des Klägers beabsichtigen, hätte sie ein elementares Interesse an der Geheimhaltung des Haftbefehls, um den Kläger nicht zu einer (weiteren) Flucht zu veranlassen. Nicht nachvollziehbar ist es weiterhin, wieso der Kläger erst unmittelbar vor der mündlichen Verhandlung am 23. November 2021 Unterlagen vorlegt, wonach sein türkischer Anwalt am 16. November 2021 einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt hat. Nachvollziehbare Gründe, wieso dies nicht schon viel früher geschehen ist, wurden nicht vorgetragen. Es wäre nahegelegen, seinen Anwalt damit schon viel früher zu beauftragen und dies entsprechend zu forcieren.
35
Selbst wenn der Vortrag zutreffend sein sollte, fehlt es jedoch für die Annahme einer politischen Verfolgung an einem dem Kläger zugeschriebenen Verfolgungsmerkmal und einer Verfolgungshandlung. Zwar wird ihm seitens des türkischen Staats ausweislich der vorgelegten strafprozessualen Unterlagen, deren Echtheit die Einzelrichterin mangels Überprüfungsmöglichkeit durch das Auswärtige Amt (wegen der Verhaftung von dessen Vertrauensanwalt) nicht weiter prüfen kann und daher unterstellt wird, die Unterstützung einer bewaffneten Terrororganisation vorgeworfen Dies ist grundsätzlich strafrechtlich relevant, so dass es für die Annahme einer Verfolgung als einer eine reguläre Strafverfolgung übersteigenden Verfolgungshandlung weiterer Feststellungen sowie der Anknüpfung an ein Verfolgungsmerkmal bedarf, an dem es hier aber fehlt. Aus dem Vortrag und den vorgelegten Unterlagen ist nicht erkennbar, dass das gegen den Kläger eröffnete Strafverfahren nicht legitimer Strafverfolgung entspringt. Der Kläger hat keine Anhaltspunkte für ein Vorverhalten liefern können, aus denen eine übersteigerte Strafverfolgung ersichtlich wäre (z.B. um eine oppositionell anderweitig aufgefallene Person „mundtot“ zu machen), wie dies z.T. gegen Parlamentsabgeordnete und hohe Funktionäre der HDP, z.B. Bürgermeister, der Fall sein könnte. Das strafrechtliche Verfahren in der Türkei ist auch offensichtlich noch nicht abgeschlossen, eine Verurteilung liegt nicht vor. Zwar trägt der Kläger vor, dass es sich um ein „geheimes“ Ermittlungsverfahren handeln soll, der vorgelegte Beschränkungsbeschluss betrifft aber nach eigenen Angaben das Verfahren gegen den angeblich Mitbeschuldigten .... Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass das Verfahren des Klägers mit Beschluss vom 18. März 2020 (K35, Bl. 194 der Gerichtsakte) vom Verfahren des Herrn ... abgetrennt worden ist, wie der Kläger vorgetragen hat. Es ist insoweit nachvollziehbar, dass der Anwalt des Klägers spätestens seit diesem Zeitpunkt kein Akteneinsichtsrecht in das Verfahren des Herrn ... haben kann. Nicht auszuschließen ist, dass das Verfahren gegenüber dem Kläger nach der Abtrennung eingestellt worden ist. Dokumente zum weiteren Verfahrensgang nur den Kläger selbst betreffend hat dieser nicht vorgelegt.
36
Dass gegen den Kläger mittlerweile ein Haftbefehl vorliegen könnte, bedeutet nicht per se, dass dies keine legitime Strafverfolgung darstellen könnte und dem Kläger deswegen politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Es sind keine objektiven Umstände erkennbar, die darauf schließen lassen, dass dem Kläger eine härtere als die sonst übliche Behandlung droht. Da er gerade keine derart exponierte Position innerhalb der HDP (vgl. oben) inngehabt hat, dass der türkische Staat ihn deswegen als Oppositionellen „mundtot machen“ wollte, ist nicht ersichtlich, dass die türkischen Behörden ihn trotz eines behaupteten offenen Strafverfahrens bereits als ernstzunehmenden politischen Gegner eingestuft hätten. Selbst wenn er in den Jahren 2015/2016 in ... geholfen hätte ist dies zeitlich in keinem Zusammenhang mehr. Es ist auch nicht ersichtlich, dass sich dies trotz eines etwaigen Strafverfahrens zwischenzeitlich geändert hätte. Die beide Mitbeschuldigten haben ausgesagt, den Kläger nicht (näher) persönlich zu kennen. Es ist völlig unklar, ob das Strafverfahren, sollte es existieren, noch läuft oder nicht beispielsweise eingestellt worden ist.
37
Die Kläger zu 2 bis 5 haben keine eigenen Verfolgungsgründe geltend gemacht.
38
II. Die Kläger haben keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG. Sie haben keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihnen bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 AsylG droht.
39
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
40
Die Aufenthaltsbeendigung eines Ausländers durch einen Konventionsstaat kann Art. 3 EMRK verletzen, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme vorliegen und bewiesen sind, dass der Ausländer im Zielstaat einer Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt zu werden. Dann ergibt sich aus Art. 3 EMRK die Verpflichtung für den Konventionsstaat, den Betroffenen nicht in dieses Land abzuschieben (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41738/10 - NVwZ 2017, 1187 ff. Rn. 173 m.w.N.).
41
Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 24.8.2020, S. 19). In der Person der Kläger liegt kein ein Risiko von Folter zum Grad der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhender Umstand vor. Es besteht auch keine beachtliche Gefahr einer Inhaftierung in der Türkei zu unmenschlichen Bedingungen.
42
III. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen eben falls nicht vor.
43
1. Den Klägern steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschie bungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
44
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist auch der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30285 - Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist. Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen nicht vor:
45
a) Der erwachsene, gesunde und erwerbsfähige Kläger zu 1 und seine Familie würden im Fall seiner Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass die elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert (in std. Rspr. VG Augsburg, U.v. 9.10.2018 - Au 6 K 17.33922 - juris Rn. 89 ff.). Der Kläger war vor seiner Ausreise in der Lage, den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu sichern. Es ist nicht erkennbar, dass dies nach einer Rückkehr nicht wieder der Fall sein sollte.
46
b) Die Kläger würden im Fall seiner Abschiebung in die Türkei auch nicht wegen der Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
47
Rückkehrerinnen und Rückkehrer werden nach vorliegenden Erkenntnissen keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe unterworfen. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten - dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen - gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 24.8.2020, S. 26; a.A. allerdings unter Verweis auf Quellen lediglich zum Risiko von Festnahmen und nicht von Folter VG Freiburg, U.v. 13.6.2018 - A 6 K 4635/17 - juris Rn. 28 ff.). 2. Ein Abschiebungsverbot i.S.d. des § 60 Abs. 7 Satz 2 ff. AufenthG wegen einer ziel staatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, liegt im Fall der Kläger ebenfalls nicht vor.
48
IV. Nachdem sich auch die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig erweist, war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).