Inhalt

VG Regensburg, Urteil v. 15.06.2021 – RN 6 K 20.1441
Titel:

Einfügung des Art. 6 Abs. 1 S. 4 BayBO: Ob weiterhin Atypik notwendig ist, ist unerheblich, wenn diese tatsächlich vorliegt

Normenkette:
BayBO Art. 6 Abs. 1 S. 4
Leitsatz:
Ob auch nach Einfügung des Art. 6 Abs. 1 S. 4 BayBO und entgegen dem gesetzgeberischen Ziel der Neuregelung (vgl. LT-Drs. 17/21574, 13) weiterhin eine Atypik für eine Abweichung von den Regelungen des Abstandsflächenrechts erforderlich ist, kann dahinstehen, falls eine entsprechende Atypik vorliegt. (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Baugenehmigung, Abstandsfläche, Atypik, Neuregelung, tatsächliches Vorliegen, Ziel, gesetzgeberisches Ziel, Abweichung, Bauordnung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 10.02.2022 – 15 ZB 21.2428
Fundstelle:
BeckRS 2021, 47166

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für die Durchführung mehrerer baulicher Maßnahmen auf dem Grundstück FlNr. 1055 der Gemarkung …, …, ... B. Fü..
2
Der Beigeladene ist Eigentümer besagten Grundstücks, an das südlich und östlich das im Eigentum des Klägers stehende Grundstück FlNr. 1049 der Gemarkung …, …, ... B. Fü., das mit einem Einfamilienwohnhaus bebaut ist, angrenzt. Die Grundstücke sind überwiegend von Wohnbebauung und landwirtschaftlichen Betrieben sowie wenigen Gewerbebetrieben umgeben. In westlicher Richtung befindet sich der Geltungsbereich der Ortsabrundungssatzung Irching-West.
3
Auf dem Baugrundstück befindet sich ein aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammendes Gebäude, welches seinerzeit als Gastwirtschaft genutzt worden war, samt angeschlossenem Nebengebäude. Nach Angaben des LRA ist die zugehörige ursprüngliche Baugenehmigung nicht mehr auffindbar. Im Jahr 2007 war dem Beigeladenen die Baugenehmigung für den Umbau der bestehenden Gastwirtschaft in ein Einfamilienhaus erteilt worden.
4
Mit Bauantrag vom 19. Dezember 2018 beantragte der Beigeladene die Baugenehmigung für Umbau und Dacherneuerung am bestehenden Nebengebäude. Dabei sollte unter anderem auch ein Teilrückbau des Nebengebäudes erfolgen. Auf den zugehörigen Eingabeplan wird Bezug genommen.
5
Mit Beschluss vom 30. Januar 2019 erteilte die Gemeinde B. F. ihr gemeindliches Einvernehmen für das Bauvorhaben.
6
Mit Bescheid vom 29. April 2019, der am 30. April 2019 zur Post aufgegeben wurde, erteilte das LRA die Baugenehmigung für das Bauvorhaben.
7
Der Beigeladene begann in der Folge mit den Bauarbeiten (Baugeginnsanzeige vom 28. Mai 2019).
8
Mit Schreiben vom 18. März 2020 wandte sich der Bevollmächtigte des Klägers an das LRA und erklärte, dass die Baumaßnahmen des Beigeladenen jeglichen gesetzlichen Vorschriften widersprächen. Der Beigeladene baue zu hoch und zu nah am Grundstück des Klägers. Es stelle sich daher die Frage, welche Baugenehmigung dem Beigeladenen im Hinblick auf seine Baumaßnahmen erteilt wurde. Der Verstoß gegen Vorschriften sei eklatant und optisch mit bloßem Auge wahrnehmbar. Es handele sich nicht lediglich um eine Sanierung des Gebäudes, sondern gleichzeitig um einen Neubau.
9
Am 12. Mai 2020 führte das LRA eine Baukontrolle am Baugrundstück durch. Im Bericht über die Kontrolle wurde festgehalten, dass entgegen der Baugenehmigung, bei der ein Umbau und eine Dacherneuerung des bestehenden Nebengebäudes genehmigt worden seien, tatsächlich entsprechend den Feststellungen bei der Kontrolle der Holzbau, die Fundamentierung und Teile der Mauerwerkswände vom Bestandsgebäude neu errichtet worden seien. Die vor Ort angetroffene Lebensgefährtin des Beigeladenen habe erklärt, dass aufgrund Ungezieferbefalls im Holzbau die gesamte Holzkonstruktion komplett ersetzt habe werden müssen, dabei sei dann auch die Fundamentierung erneuert worden. Die alte Holzkonstruktion habe sich noch am Grundstück befunden und der Befall habe durch den Baukontrolleur bestätigt werden können. Bei der stichprobenartigen Überprüfung des Maßes der gesamten Baumaßnahme habe die Übereinstimmung mit den genehmigten Plänen bestätigt werden können.
10
Mit Bescheid vom 14. Mai 2020 ordnete das LRA die Baueinstellung hinsichtlich der planabweichenden Bauarbeiten zum Umbau und für die Dacherneuerung am bestehenden Nebengebäude auf dem Baugrundstück an (Ziffer 1). Es wurde angeordnet, dass dem LRA bis spätestens 26. Juni 2020 ein Bauantrag mit den vorgeschriebenen Bauvorlagen über die Gemeinde B. F. vorzulegen sei (Ziffer 3). Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
11
Mit Schreiben vom 19. Mai 2020 erklärte der Beigeladene gegenüber dem LRA, dass es unumgänglich gewesen sei, die Gründung wie auch die Holzkonstruktion zu erneuern, um die Standsicherheit und Dauerhaftigkeit des Gebäudes zu gewährleisten. Wie schon festgestellt worden sei, stimmten die Abmessungen mit dem Eingabeplan überein. Es handele sich lediglich um die Sanierung des Bestandes.
12
Mit E-Mail vom 5. Juni 2020 erklärte die Entwurfsverfasserin des Eingabeplanes zum Bauantrag des Beigeladenen gegenüber dem Landratsamt, dass sie das Nebengebäude als Altbestand ansehe, bei dem die Wände und das Dach erneuert werden könnten, wenn eine Einsturzgefährdung bestehe und solange die Wände entsprechend ihrer Lage nicht verändert würden. Im genehmigten Eingabeplan sei das Nebengebäude im Bereich der Holzkonstruktion sogar um 3,50 m verkürzt worden. Der erneuerte Dachstuhl sei entsprechend den Maßen des alten Daches neu aufgebaut, was auch bei der Baukontrolle bestätigt worden sei. Als Anlage beigefügt waren Lagepläne des Bestandsgebäudes aus den Jahren 1953 und 1959, als das Gebäude noch als Gastwirtschaft genutzt war.
13
Mit Bauantrag vom 19. Juni 2020 beantragte der Beigeladene die Baugenehmigung für den Teilrückbau des bestehenden Nebengebäudes, die Erneuerung der Holzkonstruktion und des bestehenden Dachstuhles sowie die Ausbesserung des bestehenden Mauerwerks. Gleichzeitig wurde eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO beantragt. In den Antragsunterlagen ist unter anderem vermerkt, dass das bestehende Nebengebäude bereits vor ca. 80 Jahren errichtet worden sei und jetzt teils baufällig sei. Daher müssten die vorhandenen, vom Käfer befallenen Hölzer, ausgetauscht werden. Mit einem Teilrückbau von 3,50 m solle das Gebäude an der Grenze zum Nachbarn verkürzt werden, sonst aber solle der Dachstuhl und die darunterliegende Holzkonstruktion wieder in der alten Form und in alten Maßen errichtet werden. Nachdem das Gebäude bereits viele Jahre als Grenzbebauung akzeptiert worden sei, werde angemerkt, dass auch die Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften gewährt werden könne.
14
Mit Beschluss vom 22. Juni 2020 erklärte die Gemeinde B. F. ihr gemeindliches Einvernehmen zum Bauvorhaben.
15
Mit Bescheid vom 13. Juli 2020 erteilte das LRA die Baugenehmigung für das Bauvorhaben. Zudem wurde eine Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften des Art. 6 BayBO gewährt. Zur Begründung wurde ausgeführt, das betreffende Gebäude sei mit Bescheid vom 29. April 2019 baurechtlich genehmigt worden. Das Bauvorhaben sei abweichend von der damaligen Genehmigung ausgeführt worden. So seien die gesamte Holzkonstruktion des Holzaufbaus, die Fundamentierung und Teile der gemauerten Wände neu errichtet worden. Der Antragsteller habe unter Vorlage der erforderlichen Bau- und Lagepläne um die Erteilung der baurechtlichen Tekturgenehmigung für das Bauvorhaben nachgesucht. Das Bauvorhaben, welches sich innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils befinde, füge sich hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung, dem Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der überbaubaren Grundstücksflächen in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Das Gebäude sei abstandsflächenpflichtig, da die für abstandsflächenfreie Gebäude zulässige Wandlänge und Wandhöhe an der Grenze überschritten werde. Das Gebäude sei auch nicht nach Bauplanungsrecht an der Grenze zulässig. Dies wäre nur dann der Fall, wenn geschlossene oder halboffene Bauweise bzw. offene Bauweise und eine Ausführung als Doppelhaus oder Hausgruppe vorliege. Die Abstandsflächentiefe betrage 3 m und liege nicht auf dem Baugrundstück. Die Voraussetzungen des Art. 63 BayBO für eine Abweichung lägen vor. Das bestehende Gebäude werde laut Eingabeplanung in verkleinerter Form ersetzt. In der näheren Umgebung befänden sich in regelloser Weise eine Vielzahl von Gebäuden an den Grundstücksgrenzen. Die Schutzzwecke des Art. 6 wie eine ausreichende Belichtung und Belüftung sowie Wohnfrieden seien weiterhin gewahrt. Eine rücksichtslose Einhausung des Nachbargrundstücks erfolge nicht. Durch die Errichtung einer Brandwand würden die Brandschutzanforderungen der Bayerischen Bauordnung erfüllt. Die Abweichung sei somit vertretbar.
16
Mit am 13. August 2020 beim Verwaltungsgericht Regensburg eingegangenem Schriftsatz seines Bevollmächtigten hat der Kläger Anfechtungsklage gegen den Bescheid des LRA vom 13. Juli 2020 erheben lassen. Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass das Bauvorhaben schon deswegen nicht genehmigungsfähig sei, weil es sich nicht in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge. Ursprünglich habe der Beigeladene den Umbau und die Dacherneuerung an einem bestehenden Nebengebäude beantragt. Nunmehr begehre der Beigeladene den Teilrückbau, die Erneuerung der Holzkonstruktion und des Dachstuhls sowie die Ausbesserung des bestehenden Mauerwerks. Beim Ursprungsgebäude habe es sich um eine Scheune gehandelt. Der Beigeladene bessere jedoch diese Scheune nicht aus, sondern baue letztlich ein zweites Haus auf seinem Grundstück. Wie anhand der Fotos erkennbar sei, handele es sich um einen massiven Dachstuhl. Zudem sei der Baukörper vollständig fundamentiert. Eine Gemeinsamkeit zwischen einer ehemaligen Scheune und dem nunmehrigen Gebäude bestehe nicht. Aufgrund des Ausmaßes, dass das Bauvorhaben zwischenzeitlich angenommen habe, füge es sich nicht in die Umgebung ein. Zudem werde gegen Abstandsflächenvorschriften verstoßen. Es sei nicht so, dass die Voraussetzungen des Art. 63 BayBO vorlägen und es sei gerade nicht so, dass in der näheren Umgebung in regelloser Weise eine Vielzahl von Gebäuden dicht an dicht an den Grundstücksgrenzen stehen würden. Es handele sich um einen massiven Baukörper, der augenscheinlich zu Wohnzwecken genutzt werden solle. Aufgrund dessen würden die Schutzzwecke des Art. 6 wie ausreichende Belüftung und Belichtung sowie Wohnfrieden nicht gewahrt. Gegen das Argument des Wohnfriedens spreche schon, dass der Kläger mit dem Bau nicht einverstanden sei. Zudem befinde sich das Gebäude unmittelbar an der Garage des Klägers, die dann keine ausreichende Belüftung mehr habe. Die Belichtung des Gebäudes werde ebenfalls erheblich beeinträchtigt. Eine rücksichtslose Einhausung des Nachbargrundstücks liege vor. Daher habe der Beklagte durch seine Entscheidung die nachbarlichen Belange nicht ausreichend berücksichtigt.
17
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des LRA vom 13. Juli 2020 aufzuheben.
18
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
19
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Baugenehmigung rechtmäßig sei und nicht gegen im Baugenehmigungsverfahren zu prüfende öffentlich-rechtliche Vorschriften verstoße. Es handele sich vorliegend um Innenbereichslage gem. § 34 BauGB. Da die Eigenart der näheren Umgebung derjenigen eines Dorfgebiets gemäß § 5 BauNVO entspreche, richte sich die Zulässigkeit des Vorhabens hinsichtlich der Art der baulichen Nutzung gem. § 34 Abs. 2 BauGB allein nach § 5 BauNVO. In diesem Zusammenhang füge sich das Vorhaben nach der Art der baulichen Nutzung in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Es handele sich hier um ein Nebengebäude zu einem Wohnhaus, welches gemäß § 5 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO im Dorfgebiet zulässig sei. Eine untergeordnete, dem Wohngebäude dienende Nebenanlage sei gemäß § 14 Abs. 1 Satz 1 BauNVO zulässig, wenn sie der Eigenart des Baugebiets nicht widerspreche. Das hier vorliegende Nebengebäude sei dem primären Nutzungszweck des Grundstücks und dessen Bebauung sowohl funktional als auch räumlich gegenständlich dienend zu- und untergeordnet. Es werde laut Eingabeplan als Abstellraum und zur Unterbringung von Gartengeräten genutzt und diene damit dem Wohngebäude. Mit einer Grundfläche von ca. 57 m² sei das Nebengebäude zudem auch gegenüber dem Wohngebäude, welches eine Grundfläche von ca. 157 m² aufweise, räumlich untergeordnet. Darüber hinaus widerspreche ein Abstellraum nicht der Eigenart eines Dorfgebietes. Das Nebengebäude füge sich auch im Übrigen in die Eigenart der näheren Umgebung ein. Die Außenmaße des Nebengebäudes blieben nach Durchführung der genehmigten Sanierungsarbeiten bis auf den Teilabbruch im Süden unverändert. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei geklärt, dass sich ein Änderungsvorhaben im Hinblick auf das Maß der baulichen Nutzung regelmäßig schon dann in die Eigenart der näheren Umgebung einfüge, wenn das Gebäude in seinen Ausmaßen unverändert bleibe. Ebenso blieben die Bauweise und die überbauten Grundstücksflächen unverändert. Durch die Erneuerung von Holzkonstruktion und Dachstuhl sowie die Ausbesserung des Mauerwerks sei unter Beibehaltung des bestehenden Ausmaßes nicht nachvollziehbar, warum ein Einfügen verneint werden solle. Zudem sei die Frage des Einfügens nach dem Maß der baulichen Nutzung nicht generell drittschützend, sondern nur in Verbindung mit dem baurechtlichen Gebot der Rücksichtnahme. Ein Verstoß dagegen sei jedoch nicht ersichtlich, insbesondere gehe von dem Vorhaben auch keine erdrückende Wirkung aus. Es werde die Grundstückssituation nicht nachhaltig für den Kläger verändert, da die Maße bis auf den Teilabbruch im Süden erhalten blieben. Im Bereich des klägerischen Grundstücks habe eine Nutzungsintensivierung durch umliegende Bebauung darüber hinaus bereits zugenommen. Außerdem sei der Kläger nicht schutzwürdig, da er seine Garage ebenfalls grenzständig errichtet habe. Auch die Behauptung, es werde ein zweites Wohngebäude errichtet, müsse zurückgewiesen werden. Genehmigt sei dies nicht. Auch die erteilte Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften sei rechtmäßig. Es liege eine atypische besondere Situation vor, da ein bestandsgeschütztes Nebengebäude mit noch nutzbarer, wirtschaftlich wertvoller Substanz vorhanden sei. Die Abweichung sei zudem vereinbar mit den öffentlichen Belangen unter Würdigung der nachbarlichen Interessen. Eine Verschlechterung der Belichtung, Belüftung oder des Sozialabstandes sei nicht festzustellen.
20
Mit Schriftsatz vom 23. Oktober 2020 nahm der Beigeladene Stellung und erklärte, dass es sich beim Nebengebäude auch nach den Baumaßnahmen weiterhin nicht um ein Wohngebäude, sondern um einen Lagerraum handeln solle. Daher sei auch keine Wärmedämmung oder Ähnliches vorgesehen. Die Holzkonstruktion habe aufgrund des Ungezieferbefalles erneuert werden müssen. Der Kläger habe zudem seine an das Nebengebäude angrenzende Garage zwischen den Jahren 1998 und 2003 errichtet. Er habe dabei keine Rücksicht auf die Fenster des Nebengebäudes genommen, die er sodann verbaut habe. Diese würden im Zuge der Baumaßnahmen nun verschlossen. Zur Seite des Klägers hin seien keine negativen Änderungen geplant, mit Ausnahme der vorgeschriebenen Brandschutzbestimmungen. Es werde sogar auf den bisher vorhandenen Überbau des Dachvorschusses verzichtet.
21
Für weitere Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die beigezogenen Behördenakten sowie auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 15. Juni 2021 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

22
Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid des LRA Passau vom 13. Juli 2020 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
23
Nach Art. 68 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Art. 59 f. Bayerische Bauordnung (BayBO) ist eine Baugenehmigung zu erteilen, wenn dem Bauvorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind. Einem Nachbarn des Bauherrn steht ein Anspruch auf Versagung der Baugenehmigung grundsätzlich nicht zu. Er kann eine Baugenehmigung nur dann mit Aussicht auf Erfolg anfechten, wenn Vorschriften verletzt sind, die auch seinem Schutz dienen, oder wenn das Vorhaben es an der gebotenen Rücksichtnahme auf das Grundstück des Nachbarn fehlen lässt und dieses Gebot im Einzelfall Nachbarschutz vermittelt. Nur daraufhin ist das genehmigte Vorhaben in einem nachbarrechtlichen Anfechtungsprozess zu prüfen (vgl. BVerwG, B.v. 28.7.1994 - 4 B 94/94 - juris; BVerwG, U.v. 19.9.1986 - 4 C 8.84 - juris; BVerwG, U.v. 13.6.1980 - IV C 31.77 - juris). Es ist daher unerheblich, ob die Baugenehmigung einer vollständigen Rechtmäßigkeitsprüfung standhält.
24
Ein Verstoß gegen nachbarschützende Vorschriften des im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Bauplanungs- und Bauordnungsrechts ist nicht gegeben.
25
1. Es liegt kein Verstoß gegen nachbarschützende Normen des Bauplanungsrechts vor.
26
Die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit richtet sich im vorliegenden Fall nach § 34 BauGB, da der Vorhabenstandort dem unbeplanten Innenbereich zuzuordnen ist.
27
Bei der Grenzziehung zwischen Innen- und Außenbereich geht es darum, inwieweit ein Grundstück zur Bebauung ansteht und sich aus dem tatsächlich Vorhandenen ein hinreichend verlässlicher Maßstab für die Zulassung weiterer Bebauung nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der überbaubaren Grundstücksfläche gewinnen lässt. Die (be-)wertende Betrachtung der konkreten tatsächlichen Verhältnisse kann sich angesichts dieser vom Gesetzgeber vorgegebenen Kriterien nur nach optisch wahrnehmbaren Merkmalen richten (vgl. BVerwG, U.v. 12.12.1990 - 4 C 40/87 - juris). Unter den Begriff der Bebauung im soeben ausgeführten Sinne fällt zwar nicht jede beliebige bauliche Anlage. Gemeint sind vielmehr Bauwerke, die für die angemessene Fortentwicklung der vorhandenen Bebauung maßstabsbildend sind. Dies trifft ausschließlich für Anlagen zu, die optisch wahrnehmbar und nach Art und Gewicht geeignet sind, ein Gebiet als einen Ortsteil mit einem bestimmten städtebaulichen Charakter zu prägen (vgl. BVerwG, U.v. 14.9.1992 - 4 C 15/90 - juris; BVerwG, U.v. 17.6.1993 - 4 C 17/91 - juris). Hierzu zählen grundsätzlich nur Bauwerke, die dem ständigen Aufenthalt von Menschen dienen. Baulichkeiten, die nur vorübergehend genutzt zu werden pflegen, sind unabhängig davon, ob sie landwirtschaftlichen Zwecken (z.B. Scheunen oder Ställe), Freizeitzwecken (z.B. kleine Wochenendhäuser, Gartenhäuser) oder sonstigen Zwecken dienen, in aller Regel keine Bauten, die für sich genommen als ein für die Siedlungsstruktur prägendes Element zu Buche schlagen (vgl. BVerwG, U.v. 17.2.1984 - 4 C 55/81 - juris; BVerwG, B.v. 6.3.1992 - 4 B 35/92 - juris). Wie weit der Bebauungszusammenhang im Einzelfall reicht, kann jedoch stets nur das Ergebnis einer Bewertung des konkreten Sachverhalts sein. Bei dieser Einzelfallbetrachtung ist ausschlaggebend, ob sich tragfähige Argumente dafür finden lassen, mit denen sich die Anwendbarkeit der Vorschriften über den unbeplanten Innenbereich rechtfertigen lässt (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.1973 - IV C 48.72 - juris). Maßgeblich ist, wie weit eine aufeinander folgende Bebauung nach der Verkehrsauffassung den Eindruck der Geschlossenheit und Zusammengehörigkeit einer Fläche zum Bebauungszusammenhang vermittelt und die zur Bebauung vorgesehene Fläche selbst diesem Zusammenhang angehört (vgl. BVerwG, U.v. 14.11.1991 - 4 C 1/91 - juris; BVerwG, U.v. 6.11.1968 - IV C 2.66 - juris; BVerwG, U.v. 19.9.1986 - 4 C 15/84 - juris). Der Bebauungszusammenhang endet regelmäßig am letzten Baukörper (BVerwG U.v. 22.3.1972 - 4 C 121.68, BRS 25 Nr. 38 und v. 12.10.1973 - 4 C 3.72, Buchholz 406.11 § 125 BBauG Nr. 4; B. v. 12.3.1999 - 4 B 112.98, NVwZ 1999, 763). Blickt man auf den Vorhabenstandort, so ist festzustellen, dass dieser in leicht südwestlicher, westlicher, nördlicher und östlicher Richtung von diversen landwirtschaftlichen Anwesen sowie von Wohnbebauung umgeben ist. Aufgrund der Vielzahl an - einen Bebauungszusammenhang vermittelnden - umliegenden Gebäuden sowie des dem Gericht durch Luftaufnahmen (vgl. Rauminformationssystem Niederbayern) vermittelten Eindrucks ist von einer Zugehörigkeit des maßgeblichen Vorhabenstandorts zum Innenbereich auszugehen.
28
a) Es liegt keine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruches des Klägers vor.
29
Nach § 34 Abs. 1 BauGB ist innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile ein Vorhaben zulässig, wenn es sich nach Art und Maß der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt und die Erschließung gesichert ist. Entspricht die Eigenart der näheren Umgebung einem der Baugebiete, die in der Baunutzungsverordnung (BauNVO) bezeichnet sind, so liegt ein sogenanntes faktisches Baugebiet vor. Die Zulässigkeit des Vorhabens beurteilt sich dann gemäß § 34 Abs. 2 BauGB nach seiner Art allein danach, ob es nach der BauNVO in dem Baugebiet allgemein zulässig wäre. Ein Nachbar, dessen Grundstück in demselben (faktischen) Baugebiet nach der BauNVO liegt, hat gegenüber allen anderen im selben Baugebiet genehmigten Nutzungen einen Anspruch auf Bewahrung der Gebietsart, der über das Rücksichtnahmegebot hinausgeht (vgl. BayVGH, B.v. 23.10.2003 - 2 ZB 03.1673 - juris). Die Grundstücke des Klägers und des Beigeladenen befinden sich nach Auffassung des Gerichts in einem Dorfgebiet (§ 5 BauNVO), da die Bebauung in dem maßgeblichen Gebiet - unter Berücksichtigung von Luftaufnahmen (vgl. Rauminformationssystem Niederbayern) fast ausschließlich aus Gebäuden der Land- bzw. Forstwirtschaft sowie aus Wohngebäuden besteht. Beim Bauvorhaben des Beigeladenen handelt es sich um diverse Baumaßnahmen, die zur Erneuerung des auf dem Baugrundstück vorhandenen Nebengebäudes dienen sollen. Als bauliche Anlage von bodenrechtlicher Relevanz im Sinne des § 29 Abs. 1 BauGB, welche dem auf dem Baugrundstück vorhandenen (und gem. § 5 Abs. 2 Nr. 3 BauNVO im vorliegenden Gebiet allgemein zulässigen) Wohngebäude zugeordnet sein soll, ist das betreffende Gebäude als Nebenanlage im Sinne von § 14 BauNVO zu klassifizieren. § 14 BauNVO regelt bei allen Gebietstypen der BauNVO und somit auch bei einem Dorfgebiet im Sinne von § 5 BauNVO die Zulässigkeit von Nebenanlagen.
30
Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 BauNVO sind in diesem Zusammenhang außer den in den §§ 2 bis 13 genannten Anlagen insbesondere auch untergeordnete Nebenanlagen und Einrichtungen zulässig, die dem Nutzungszweck der in dem Baugebiet gelegenen Grundstücke dienen und die der Eigenart des Baugebiets nicht widersprechen (§ 14 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 BauNVO).
31
Die in Rede stehende Anlage muss sich zunächst also sowohl funktionell als auch räumlich der vorhandenen Hauptanlage unterordnen und in diesem Verhältnis eine nachrangige, sinnvoll ergänzende Rolle einnehmen (vgl. BeckOK BauNVO/Henkel BauNVO § 14 Rn. 21-25). Die Frage der räumlich-gegenständlichen Unterordnung ist dabei im Wege einer optischen Betrachtung der Nebenanlage und der Hauptanlage sowie des Baugebiets zu beantworten (vgl. BeckOK BauNVO/Henkel BauNVO § 14 Rn. 21-25; BVerwG, Urt. v. 14.12.2017 - 4 C 9.16 - juris, Rn. 9). Es ermangelt der Nebenanlage lediglich dann an räumlicher Unterordnung, wenn Maße vorhanden sind, die bewirken, dass die Anlage im Verhältnis zur Hauptanlage als gleichwertig oder gar umfangreicher erscheint (vgl. BeckOK BauNVO/Henkel BauNVO § 14 Rn. 21-25; BVerwG, U.v. 18.2.1983 - 4 C 18/81 - juris, Rn.18). In funktioneller Hinsicht muss sich die Nebenanlage im Rahmen einer wertenden Betrachtung von der Hauptanlage abgrenzen lassen und dieser im Rahmen eines Funktionszusammenhanges „dienen“, mithin eine „zubehörähnliche Hilfsfunktion“ ausüben (vgl. König/Roeser/Stock/Stock BauNVO § 14 Rn. 15; BVerwG, U.v. 7.5.1976 - IV C 43/74, NJW 1977, 119). Die Nebenanlage darf sich in ihrer Funktion nicht mit dem Kern der Hauptnutzung überschneiden und ihre Berechtigung letztlich nur aus dem Vorhandensein der Hauptanlage, der sie funktionell dient, herleiten (König/Roeser/Stock/Stock BauNVO § 14 Rn. 15, 16).
32
Die oben dargelegten Voraussetzungen sind nach der Auffassung des Gerichts im vorliegenden Fall erfüllt.
33
Das Nebengebäude, dessen Mauerwerk und Dachstuhl nach der Eingabeplanung erneuert werden sollen, ordnet sich räumlich wie funktionell der am Grundstück vorhandenen Wohnnutzung unter. Bei Betrachtung der in der Akte vorhandenen Lichtbilder (vgl. Seite 9-11 der ersten elektronischen Behördenakte) sowie von Luftaufnahmen (vgl. Rauminformationssystem Niederbayern), wird ersichtlich, dass die Anlage trotz eines gewissen Umfanges, der vom Gericht nicht verkannt wird, letztlich dennoch im Vergleich zum Wohngebäude eine erkennbar untergeordnete optisch-gegenständliche Wirkung ausübt. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass auch ein Teilrückbau von der Genehmigung umfasst ist, durch den die Massivität der Anlage nochmals reduziert wird. Aufgrund des doch noch deutlich geringeren Ausmaßes, welches das Gebäude im Vergleich zum Wohnhaus annimmt, lässt sich letztlich nicht im oben dargelegten Sinne davon sprechen, dass das Nebengebäude in seiner optischen Wirkung dem Hauptgebäude gleichkäme oder es in dieser Hinsicht gar verdrängen würde. Zudem ist festzustellen, dass sich das Gebäude in funktioneller Hinsicht in ausreichend deutlichem Maße von der Haupt(wohn) nutzung abgrenzt. Es soll nach der zugehörigen, genehmigten Eingabeplanung sowie nach der Stellungnahme des Beigeladenen in der mündlichen Verhandlung nach Fertigstellung der baulichen Maßnahmen wie schon in der Zeit zuvor als Lager- und Abstellraum für Gartengeräte und Brennholz dienen. Anhaltspunkte für eine dem zuwiderlaufende, geplante Teilnahme an der Funktion der Hauptnutzung im Sinne der Errichtung eines zusätzlichen Wohngebäudes, wie sie von der Klägerseite als Befürchtung in den Raum gestellt wurde, sind in dieser Form zum einen nicht ersichtlich und wären zum anderen streitgegenständlich nicht von Belang, da die angefochtene Baugenehmigung vom 13. Juli 2020 insofern klar auf die beschriebene Abstellnutzung beschränkt ist. Sollte darüber hinausgehend eine andere Nutzung ausgeübt werden, so wäre dies allenfalls Anlass für ein potentielles bauaufsichtliches Einschreiten. Da nach dem Gesagten eine zulässige Nebenanlage im Sinne des § 14 BauNVO vorliegt, ist eine Verletzung des Gebietserhaltungsanspruchs des Klägers zu verneinen.
34
Zudem widerspricht die Nebenanlage nicht der Eigenart des Baugebiets. Die Frage, ob ein solches Widersprechen gegeben ist oder nicht, ist im Einzelfall unter Berücksichtigung der allgemeinen Zweckbestimmung des jeweiligen Gebietes sowie der tatsächlichen Verhältnisse zu beurteilen (Bönker/Bischopink, Baunutzungsverordnung, § 14 Rn. 22). Dabei sind insbesondere Lage, Größe und Zuschnitt des jeweils relevanten Baugrundstücks sowie der übrigen Grundstücke im Baugebiet mit in die Betrachtung einzubeziehen (Bönker/Bischopink, Baunutzungsverordnung, § 14 Rn. 22; BVerwG, U.v. 18.2.1983 - 4 C 18/81 - juris, Rn. 20). Im vorliegenden Fall ist bei Betrachtung von Luftaufnahmen und nach den Angaben von Beigeladenem und Beklagtem in der mündlichen Verhandlung festzustellen, dass sich in näherer Umgebung einige (Neben) gebäude befinden, die darüber hinaus auch grenzständig errichtet sind. Unter anderem ist dies bei den Grundstücken mit den Flurnummern 1043, 1044 und 1051 der Fall. Allgemein besteht eine Bebauungsdichte von gewissem Ausmaß. Das streitgegenständliche Nebengebäude ist also - insbesondere bei Betrachtung auch der übrigen Bebauung - nicht als Fremdkörper einzuordnen, sondern reiht sich in eine Reihe vergleichbarer Gebäude in der Umgebung ein. Zudem stimmt eine Nebenanlage zu einem Wohngebäude auch mit der Zweckbestimmung des vorhandenen Gebietstyps (Dorfgebiet gem. § 5 BauNVO) überein.
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b) Zudem liegt keine Verletzung des Rücksichtnahmegebots vor, welches sich im vorliegenden Fall aus § 15 Abs. 1 Satz 2 BauNVO ergibt.
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Dem bauplanungsrechtlichen Gebot der Rücksichtnahme kommt drittschützende Wirkung zu, soweit in qualifizierter und zugleich individualisierter Weise auf schutzwürdige Interessen eines erkennbar abgegrenzten Kreises Dritter Rücksicht zu nehmen ist (BVerwG, U.v. 5.12.2013 - 4 C 5.12 - juris). Welche Anforderungen das Gebot der Rücksichtnahme begründet, ist abhängig von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung desjenigen ist, dem die Rücksichtnahme im gegebenen Zusammenhang zugutekommt, umso mehr kann er an Rücksichtnahme verlangen. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, umso weniger braucht derjenige, welcher das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 28.10.1993 - 4 C 5/93 - juris; BVerwG, U.v. 13.3.1981 - 4 C 1/78 - juris). Bei diesem Ansatz kommt es für die sachgerechte Beurteilung des Einzelfalls wesentlich auf die Abwägung zwischen dem an, was einerseits dem Rücksichtnahmebegünstigten und andererseits dem Rücksichtnahmeverpflichteten nach Lage der Dinge zuzumuten ist (vgl. BayVGH, B.v. 25.10.2010 - 2 CS 10.2137 - juris). Das Gebot der Rücksichtnahme ist demnach nur dann verletzt, wenn die dem Kläger aus der Verwirklichung des geplanten Vorhabens resultierenden Nachteile das Maß dessen übersteigen, was ihm als Nachbar billigerweise noch zumutbar ist. Dafür ist vorliegend nichts ersichtlich.
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Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Vorhaben auf das Grundstück des Klägers eine erdrückende Wirkung ausüben könnte (vgl. BVerwG, U.v. 13.3.1981 - 4 C 1/78 - juris; BVerwG, U.v. 23.5.1986 - 4 C 34/85 - juris). Eine solche Wirkung kommt ungeachtet des grundsätzlich fehlenden Nachbarschutzes bezüglich des Maßes der baulichen Nutzung nur bei nach Höhe und Volumen „übergroßen“ Baukörpern in geringem Abstand zu benachbarten Wohngebäuden in Betracht (vgl. BayVGH, B.v. 6.4.2018 - 15 ZB 17.36 - juris; BayVGH, B.v. 23.4.2014 - 9 CS 14.222 - juris; BayVGH, B.v. 19.3.2015 - 9 CS 14.2441 - juris). Hauptkriterien bei der Beurteilung einer abriegelnden bzw. erdrückenden Wirkung sind unter anderem die Höhe des Bauvorhabens und seine Länge sowie die Distanz der baulichen Anlage in Relation zur Nachbarbebauung (vgl. BayVGH, B.v. 5.12.2012 - 2 CS 12.2290 - juris; BVerwG, U.v. 13.3.1981 - 4 C 1/78 - juris: elf- bzw. zwölfgeschossiges Gebäude in naher Entfernung zu zweieinhalbgeschossigem Wohnhaus; BVerwG, U.v. 23.5.1986 - 4 C 34.85 - juris: grenznahe 11,5 m hohe und 13,31 m lange Siloanlage bei einem 7 m breitem Nachbargrundstück). Bei Berücksichtigung dieser Grundsätze ist eine erdrückende Wirkung auf das klägerische Grundstück nicht zu befürchten. Das streitgegenständliche Gebäude soll eine Traufhöhe von 4,50 m aufweisen. Die parallel zur Grenze des Grundstücks des Klägers verlaufende Wand wird eine Länge von 11,15 m haben. Das Wohngebäude auf dem Grundstück des Klägers befindet sich in einer Entfernung von 11,852 m zum streitgegenständlichen Gebäude. Damit soll hier durch die Erneuerung des Nebengebäudes ein Bauvorhaben realisiert werden, was von seinem Umfang her trotz der schon angesprochenen, gewissen Massivität in ausreichendem Maße davon entfernt ist, eine unzumutbare einmauernde oder erdrückende Wirkung auf das auf dem klägerischen Grundstück befindliche Gebäude auszuüben. Die nicht geringe Entfernung zum Haus des Klägers unterstreicht dies nochmals. Hinzu kommt auch, dass das Nebengebäude in seinen Ausmaßen im Vergleich zum vorhandenen Bestand nicht erweitert wird. Durch den Teilrückbau wird das Gebäude sogar verkleinert, im Übrigen bleiben die Maße gleich. Eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots kann daher nicht angenommen werden.
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2. Der Kläger wird auch nicht im Hinblick auf die gem. Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO erteilte Abweichung von den Abstandsflächen in seinen Rechten verletzt. Die Regelungen des Art. 6 BayBO dienen in ihrer Gesamtheit auch dem Schutz der angrenzenden Nachbarn, sodass der Nachbar grundsätzlich ein Recht darauf hat, dass dahingehende Abweichungen zu seinen Lasten nur unter Einhaltung der Voraussetzungen des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO erteilt werden (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris; Simon/Busse/Dirnberger, BayBO, Art. 66 Rn. 258 - beck-online).
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Gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 BayBO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandsflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 BayBO müssen die Abstandsflächen auf dem Grundstück selbst liegen. Die Tiefe der Abstandsfläche bemisst sich nach der Wandhöhe, Art. 6 Abs. 4 Satz 1 BayBO, und beträgt - nach Änderung des Art. 6 BayBO zum 1. Februar 2021 - nunmehr 0,4 H, mindestens 3 m (Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO). Das streitgegenständliche Nebengebäude, welches erneuert werden soll, hält aufgrund der Tatsache, dass es sich direkt auf der Grenze zum klägerischen Grundstück befindet, die Abstandsflächen vollständig nicht ein, weshalb im vorliegenden Fall auch dahinstehen kann, ob Art. 6 BayBO mangels Übergangsvorschriften in der alten Fassung (Abstandsflächenmaß von 1 H) oder in der beschriebenen, neuen Fassung mit Wirkung vom 1. Februar 2021 (Abstandsflächenmaß von 0,4 H) Anwendung findet. Ein Fall des Art. 6 Abs. 1 Satz 3 BayBO liegt hier nicht vor.
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Gemäß Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von bauordnungsrechtlichen Anforderungen zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der nachbarlichen Interessen mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des Art. 3 Satz 1 BayBO vereinbar sind.
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Die Abweichung wurde in diesem Sinne rechtmäßig erteilt.
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Es kann dabei dahinstehen, ob auch nach Einfügung des Art. 6 Abs. 1 Satz 4 BayBO und entgegen dem gesetzgeberischen Ziel der Neuregelung (vgl. LT Drs. 17/21574, S. 13) weiterhin eine Atypik für eine Abweichung von den Regelungen des Abstandsflächenrechts erforderlich ist, da eine Atypik jedenfalls vorliegt. Diese kann sich etwa aus einem besonderen Grundstückszuschnitt, einer aus dem Rahmen fallenden Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder einer besonderen städtebaulichen Situation, wie der Lage des Baugrundstücks in einem historischen Ortskern, ergeben (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris). Vorliegend lässt sich festhalten, dass das streitgegenständliche Nebengebäude bereits lange Zeit an der konkreten Stelle an der Grenze zum Klägergrundstück am Vorhabenstandort besteht. Für den Beigeladenen stellt diese Bausubstanz einen wirtschaftlichen Wert dar, den er berechtigterweise durch die Erneuerungsmaßnahmen, insbesondere an Dachstuhl und Mauerwerk, erhalten will. Zudem ist auch an dieser Stelle mit in die Betrachtung einzubeziehen, dass sich - wie bereits festgestellt - in direkter Umgebung einige, ebenfalls grenzständig errichtete (Neben) gebäude befinden. Insofern ist nach dem Gesagten im vorliegenden Fall durchaus eine besondere städtebauliche Situation anzunehmen. Eine Atypik lässt sich daher im Falle des Bauvorhabens des Klägers bejahen.
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Auch die Vereinbarkeit der Abweichung mit den öffentlichen Belangen unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Interessen ist gegeben.
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Der Beklagte hat sein ihm im Rahmen des Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO eingeräumtes Ermessen jedenfalls bei einer Gesamtbetrachtung seiner Ausführungen sowohl im Bescheid als auch - ergänzend - im verwaltungsgerichtlichen Verfahren in im Hinblick auf
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§ 114 VwGO ordnungsgemäßer Weise ausgeübt und in angemessenem Umfang, sachgerecht und einzelfallbezogen zwischen den für das Vorhaben sprechenden Gründen und den Belangen der Nachbarn abgewogen (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2007 - 1 CS 07.1340 - juris).
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Zwar sind nachträgliche Ermessenerwägungen zur Rechtfertigung des ursprünglichen Verwaltungsaktes nur in engen Grenzen möglich und dürfen nicht die Grenze zur Wesensänderung überschreiten (Stelkens/Bonk/Sachs/Sachs, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 45 Rn. 51). Jedoch ist ein Nachschieben von Gründen dann möglich, wenn sie schon bei Erlass des Verwaltungsakts vorlagen, dieser nicht in seinem Wesen verändert und der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird (BVerwG, U.v. 20.6.2013 - 8 C 46/12 - juris, Rn. 32). Die nachgeschobenen Erwägungen dürfen lediglich als Präzisierung des tragenden Gedankens der ursprünglichen Rechtfertigung zu begreifen sein (BayVGH, U.v. 10.7.2018 - 10 B 17.1996 - juris, Rn. 36; NK-VwGO/Heinrich Amadeus Wolff, 5. Aufl. 2018, VwGO § 113 Rn. 78). Die genannten Voraussetzungen sind in diesem Fall erfüllt. Der Beklagte hat in seinem Bescheid vom 13. Juli 2020 bereits Ermessenserwägungen angestellt, deren Kerngedanken er im Rahmen der Ausführungen in der Klageerwiderung vom 27. November 2020 und in der mündlichen Verhandlung weiter untermauert und nicht im Sinne einer Wesensveränderung entstellt hat.
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In diesem Zusammenhang ist der Beklagte in nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gekommen, dass im Hinblick auf die abstandsflächenrechtlich relevanten Gesichtspunkte der Belichtung, Belüftung sowie eines ausreichenden Sozialabstandes durch die Baumaßnahmen im Vergleich zum Vorzustand keine Verschlechterung eintrete, da durch die Verkleinerung durch den Teilrückbau im Gegenteil sogar eine Verbesserung erreicht werde und im Übrigen die Maße des Baukörpers unverändert blieben und insofern das Interesse des Beigeladenen an der Erhaltung des wirtschaftlichen Wertes der vorhandenen Bausubstanz und das öffentliche Interesse an der Vermeidung dessen Verfalles höher zu werten seien. Auch ein Vergleich mit der umliegenden, von einigen grenzständig errichteten Gebäuden geprägten Umgebung durfte hierbei in die Abwägung mit einbezogen werden (vgl. VG München, U.v. 15.7.2019 - M 8 K 19.1250 - juris).
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Weitere Anhaltspunkte dafür, dass die streitgegenständliche Baugenehmigung in bauplanungs- oder bauordnungsrechtlicher Hinsicht drittschützende Normen verletzt, die im Baugenehmigungsverfahren zu prüfen sind, sind nicht ersichtlich.
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Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen waren nicht für erstattungsfähig zu erklären, da er keinen Antrag gestellt und sich somit keinem eigenen Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat, §§ 154 Abs. 3, 162 Abs. 3 VwGO.
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Die Entscheidung bezüglich der vorläufigen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).