Titel:
Erfolglose Klage gegen die Ausweisung eines sich im Ausland aufhaltenden Ausländers ("Auslandsausweisung")
Normenketten:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 54 Abs. 1 Nr. 2
StGB § 89a Abs. 1, Abs. 2
Leitsätze:
1. Die Ausweisung eines Ausländers, der sich noch nie im Bundesgebiet aufgehalten hat, ist jedenfalls dann zulässig, wenn er konkret seine Einreise in die Bundesrepublik Deutschland und seine Aufenthaltsnahme im Bundesgebiet beabsichtigt und betreibt. Es kann auch wegen (allein) im Ausland verwirklichter Ausweisungsinteressen geboten sein, den Ausländer durch eine Ausweisung und das damit verbundene, zwingend anzuordnende Einreise- und Aufenthaltsverbot vom Bundesgebiet fernzuhalten. (Rn. 31 – 37)
2. Eine schwere staatsgefährdende Gewalttat im Sinn § 54 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 2 AufenthG in Verbindung mit § 89a Abs. 1 und 2 StGB und damit eine Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ist anzunehmen, wenn der Ausländer an der Herstellung einer Sprengfalle in einem anderen Staat (hier: Irak) mitgewirkt hat. (Rn. 47)
3. Das erkennbare und glaubhafte Abstandnehmen nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG setzt voraus, dass der Ausländer sein sicherheitsgefährdendes Handeln in der Vergangenheit einräumen und offenlegen muss; fehlt es daran, reicht der Zeitablauf bzw. der zeitliche Abstand zur Tatbegehung (hier: ca. 15 Jahre) nicht aus, um das in der Person des Ausländers zutage getretene Gefahrenpotential als nicht mehr gegeben anzusehen. (Rn. 58 – 59)
Schlagworte:
Ausweisung eines sich im Ausland aufhaltenden Ausländers, Zulässigkeit der „Auslandsausweisung“, Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik, Deutschland, schwere staatsgefährdende Gewalttat (Sprengfalle im Irak), Ausweisung, Ausländer, Auslandsausweisung, Gefährdung der Sicherheit, Sprengfalle
Vorinstanz:
VG München, Urteil vom 07.11.2019 – M 24 K 19.1932
Rechtsmittelinstanz:
BVerwG Leipzig, Urteil vom 25.05.2023 – 1 C 6.22
Fundstelle:
BeckRS 2021, 47154
Tenor
I. Unter Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 7. November 2019 wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
IV. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
1
Der Kläger, ein in der Türkei lebender irakischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine Ausweisung.
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Der Kläger beantragte am 19. Februar 2018 bei der deutschen Botschaft in Ankara ein nationales Visum zur Familienzusammenführung zu seiner in M. lebenden deutschen Ehefrau, die er am ... 2017 in der Türkei geheiratet hat. Die Erteilung des Visums wurde abgelehnt, die dagegen erhobene Klage zum Verwaltungsgericht Berlin ruht derzeit.
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Bei der Identitätsprüfung im Visumverfahren ergab sich, dass zu den vom Kläger abgegebenen Fingerabdrücken identische Fingerabdrücke bei den amerikanischen Sicherheitsbehörden (Federal Bureau of Investigation - FBI) vorliegen; diese waren Bestandteil eines internationalen Fahndungsersuchens (INTERPOL-„Blue Notice“). Die Fingerabdrücke lauteten auf einen ... A., dessen Personalien in 46 Varianten vorlagen. A. sei vom 18. September 2008 bis 12. Juni 2010 im „Camp R. II“ im Irak inhaftiert gewesen. Er stehe unter dem Verdacht terroristischer Betätigung, da zwei „latente“ Fingerabdrücke am Material einer Sprengfalle, die im Jahr 2006 gesichert wurde, als zu ihm gehörig identifiziert wurden.
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Der Kläger selbst bestritt nicht, dass es sich bei den beim FBI vorhandenen Fingerabdrücken, Lichtbildern und Personenbeschreibungen um die seinen handle. Diese seien bei seinen Festnahmen 2006 und 2007 gefertigt worden. Im Sommer 2006 sei er für zwei Tage in seiner Heimatstadt H. festgenommen worden. Im Sommer 2007 sei er erneut festgenommen, in der A. a.-S. A. und im C. I. A. in B. sowie im C. Bu. bei Ba. inhaftiert gewesen und Anfang 2008 wieder freigelassen worden. Er sei nicht vom 18. September 2008 bis zum 12. Juni 2010 im Camp R. II inhaftiert gewesen; das ergebe sich schon aus den Stempeln in seinem (früheren) am 29. Oktober 2008 ausgestellten Reisepass; danach sei er am 11. April 2009 aus dem Irak ausgereist und erst am 9. März 2010 wieder eingereist.
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Der Kläger bestritt aber jedwede Verbindung zum Terrorismus. Seine Fingerabdrücke auf dem Klebeband der Sprengfalle könnten allenfalls bei seiner damaligen Tätigkeit als Privattaxi-Fahrer entstanden sein. Er bestritt auch die ihm vorgehaltene Verbindung zu JAMSG (einer Teilgruppe der Mahdi-Armee des Schiitenführers a.-S.), er selbst sei Sunnit.
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Die Beklagte wies den Kläger mit Bescheid vom 21. März 2019 aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 1) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf acht Jahre ab Zustellung des Bescheides (Nr. 2).
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Der Bescheid ist auf § 53 Abs. 1, Abs. 2 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 1 AufenthG gestützt. Die zum Kläger vorliegenden Informationen, die von der Beklagten ausführlich gewürdigt wurden, rechtfertigten die Annahme, dass er im Falle seiner Anwesenheit im Bundesgebiet unter Verschleierung seiner wahren Identität ähnlich gelagerte sicherheitsrechtlich relevante Verhaltensweisen an den Tagen legen werde, indem er sein Spezialwissen im Umgang mit Waffen und Sprengstoff anderen Personen zur Verfügung stelle und damit die Unversehrtheit der Rechtsordnung wie auch Individualrechtsgüter wie Leben und körperliche Unversehrtheit der hiesigen Bevölkerung gefährde. Damit gehe von ihm eine Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 1 AufenthG aus. Obwohl die zugrundeliegenden Ereignisse schon mehrere Jahre zurücklägen, gehe von ihm weiterhin eine konkrete Gefahr für die genannten Schutzgüter aus. Es lägen keine Anhaltspunkte vor, dass er sich zwischenzeitlich von seinem sicherheitsgefährdendem Verhalten abgewandt oder distanziert habe. Des Weiteren stütze sich die Ausweisung auch auf generalpräventive Erwägungen.
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Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse stehe ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG gegenüber, da die Ausländerbehörde von einer ehelichen Lebensgemeinschaft mit der deutschen Ehefrau ausgehe. In der Abwägung der öffentlichen Interessen an der Fernhaltung des Klägers vom Bundesgebiet mit seinen persönlichen Interessen an einer Aufenthaltsnahme im Bundesgebiet überwiege das öffentliche Interesse. Die Ausweisung sei aus spezialpräventiven wie aus generalpräventiven Erwägungen geboten; durch ein milderes Mittel sei der Zweck der Fernhaltung aus dem Bundesgebiet nicht zu erreichen. Sie sei auch unter Berücksichtigung der Rechte aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht unverhältnismäßig. Zu seinen Gunsten sei zu sehen, dass er mit einer im Bundesgebiet wohnhaften deutschen Staatsangehörigen verheiratet sei und dass er nach seinen Angaben über deutsche Sprachkenntnisse auf dem Niveau A1 verfüge. Zu seinen Lasten sei festzustellen, dass er sich bisher nicht im Bundesgebeit aufgehalten habe, mithin mit den hiesigen Lebensverhältnissen nicht unmittelbar in Berührung gekommen sei und die eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau bisher nicht im Bundesgebiet gelebt habe.
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Die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots werde im Rahmen einer Ermessensentscheidung gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG (a.F.) auf acht Jahre festgesetzt.
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Mit - für sofort vollziehbar erklärtem - weiterem Bescheid vom 24. September 2019 änderte die Beklagte die Nr. 2 des Bescheids vom 21. März 2019 und erließ gegen den Kläger ein Einreise- und Aufenthaltsverbot, das auf 13 Jahre, beginnend am 23. März 2019, befristet wurde.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, aufgrund der Neufassung des § 11 AufenthG durch das Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht am 15. August 2019 sei gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG ein Einreise- und Aufenthaltsverbot anzuordnen. Dieses werde gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 und 2 AufenthG nach Ermessen auf 13 Jahre befristet. Die Frist beginne, da sich der Kläger bereits im Ausland befinde, abweichend von § 11 Abs. 2 Satz 4 AufenthG nicht mit der Ausreise, sondern mit dem Zeitpunkt der Zustellung der mit dem Bescheid vom 21. März 2019 verfügten Ausweisung. Damit werde dem Umstand Rechnung getragen, dass das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach der Neuregelung des § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG grundsätzlich mit der Ausweisungsverfügung zu erlassen sei, und gleichzeitig verhindert, dass der Fristbeginn zu Lasten des Klägers auf einen späteren Zeitpunkt verlagert werde. Da der Kläger zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen worden sei, sei gemäß § 11 Abs. 5a AufenthG grundsätzlich eine Frist von 20 Jahren erforderlich. Diese Frist müsse sich an höherrangigem Recht messen und gegebenenfalls relativieren lassen. Nach Abwägung und Berücksichtigung aller Umstände und insbesondere der Bindungen des Klägers an seine im Bundesgebiet lebende deutsche Ehefrau erscheine ein Betretensverbot von 13 Jahren als geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel, schwerwiegende Beeinträchtigungen der öffentlichen Sicherheit bzw. der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden. Der mit der Befristung verfolgte Zweck stehe auch in einem angemessenen Verhältnis zu der mit der Befristung einhergehenden Beeinträchtigung der Privatinteressen.
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Auf die vom Kläger hiergegen erhobene Anfechtungsklage hob das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 7. November 2019 (M 24 K 19.1932) den Bescheid der Beklagten vom 21. März 2019 in der Fassung durch den Änderungsbescheid vom 24. September 2019 auf.
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Das Gericht sah es nach den ihm vorliegenden Informationen als nicht hinreichend durch Tatsachen belegt an, dass der Kläger im Sinn des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet oder eine konkrete Gefahr für hochrangige Individualrechtsgüter darstellt. Zwar sei unstreitig, dass die dem Kläger bei der Visumantragstellung abgenommenen Fingerabdrücke mit den in der „Blue Notice“ übermittelten Fingerabrücken übereinstimmten. Ebenso bestünden nach Auffassung des Gerichts keine durchgreifenden Zweifel daran, dass die auf der Sprengfalle gesicherten zwei latenten Fingerabdrücke mit den bei den US-Behörden gespeicherten und in der „Blue Notice“ den deutschen Behörden übermittelten Fingerabdrücken identisch seien. Hiernach gehe das Gericht davon aus, dass die zwei Fingerabdrücke auf dem 2006 an einer Sprengfalle gesicherten Klebeband vom Kläger stammen. Jedoch vermöge das Gericht keine hinreichende Tatsachengrundlage für die Annahme zu erkennen, dass der Kläger ein Unterstützer oder Mitglied der Jaish al-Mahdi (einschließlich JAMSG) gewesen sei. Allein aufgrund der im Jahr 2006 an der Sprengfalle festgestellten Fingerabdrücke lasse sich aber kein Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG begründen. Weiter sei zu sehen, dass der Zeitraum von 13 Jahren zwischen diesem einzigen belegten, im Irak stattgefundenen Ereignis und heute in Bezug auf eine Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland jedenfalls den im Wortlaut des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG im Halbsatz 2 enthaltenen Rechtsgedanken („… es sei denn, der Ausländer nimmt erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand“) ausfülle, erst recht, wenn diesem damaligen Handeln nach Ort, Zeit und Umständen kein Sicherheitsgefährdungszusammenhang für die Bundesrepublik Deutschland zugeordnet werden könne. Insoweit fänden sich auch für das Erfordernis, dass im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt vom Ausländer, der ausgewiesen werden soll, eine konkrete Gefahr im Hinblick auf das Ausweisungsinteresse, auf das abgehoben wird, ausgehen muss, keine tatsächlichen Anhaltspunkte.
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Mit Beschluss vom 18. Mai 2021 (10 ZB 20.33) hat der Senat die Berufung der Beklagten und des Vertreters des öffentlichen Interesses zugelassen, weil die Rechtssache besondere tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten aufweist (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Der Senat wies gleichzeitig darauf hin, dass im vorliegenden Fall Zweifel daran bestehen könnten, dass der Anwendungsbereich des § 53 AufenthG eröffnet ist und damit überhaupt eine Ausweisung erfolgen konnte, weil der Kläger sich noch nie im Bundesgebiet aufgehalten habe und erst seine Einreise begehre. In der Grundsatzentscheidung vom 31. März 1998 (1 C 28.97 - juris Rn. 9) habe das Bundesverwaltungsgericht zwar entschieden, dass eine Ausweisung auch erfolgen darf, wenn der Ausländer bereits ausgereist ist, gleichzeitig jedoch ausdrücklich offengelassen, „ob und unter welchen Voraussetzungen ein Ausländer ausgewiesen werden kann, der noch nie eingereist ist oder dessen früherer Aufenthalt im Bundesgebiet mit der Ausweisung in keinem Zusammenhang steht“. Diese Frage sei in der Rechtsprechung noch ungeklärt.
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Zur Begründung seiner Berufung trägt der Vertreter des öffentlichen Interesses vor: Das Verwaltungsgericht habe zwar die ersten beiden Fallgruppen des § 54 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 2 AufenthG geprüft, nicht aber die letzte Fallgruppe („… er eine in § 89a Abs. 1 des Strafgesetzbuchs bezeichnete schwere staatsgefährdende Gewalttat nach § 89a Abs. 2 Strafgesetzbuchs vorbereitet oder vorbereitet hat…“), obwohl es festgestellt habe, dass die Fingerabdrücke auf der im Jahr 2006 sichergestellten Sprengfalle vom Kläger stammten. Nach seiner Ansicht sind die Voraussetzungen des § 89a Abs. 1 und Abs. 2 StGB erfüllt. Nicht tragfähig sei die Ansicht des Verwaltungsgerichts, dass der Zeitraum von 13 Jahren zwischen diesem einzigen belegten, im Irak stattgefundenen Ereignis und heute in Bezug auf eine Gefährdung der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland jedenfalls den im Wortlaut des § 54 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 2 AufenthG enthaltenen Rechtsgedanken („Abstandnehmen“) ausfülle, erst recht, wenn diesem damaligen Handeln nach Ort, Zeit und Umständen kein Sicherheitsgefährdungszusammenhang mit der Bundesrepublik Deutschland zugeordnet werden könne (UA Rn. 79). Dies widerspreche höchstrichterlicher Rechtsprechung (BVerwG, B.v. 25.4.2018 - 1 B 11.18 - juris), wonach allein der Umstand, dass die Unterstützungshandlungen schon mehrere Jahre zurückliegen, nicht genüge, um das zutage getretene Gefährdungspotential als nicht mehr gegeben anzusehen. Sowohl ein Abstandnehmen als auch ein Distanzieren setzten voraus, dass der Ausländer seine innere Einstellung verändert habe und auf Grund dessen künftig keine Gefahr mehr von ihm ausgehe. Das Erfordernis der Veränderung der inneren Einstellung bedinge es, dass der Ausländer in jedem Fall einräumen müsse oder zumindest nicht bestreiten dürfe, in der Vergangenheit durch sein Handeln die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet zu haben. Davon könne beim Kläger keine Rede sein.
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Hinsichtlich der aufgeworfenen Frage der „Auslandsausweisung“ wird mit sehr eingehender Begründung deren Zulässigkeit vertreten.
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Die Beklagte trägt zur Begründung ihrer Berufung vor: Entgegen der Auffassung des Erstgerichts seien ein spezialpräventives besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 1 Alt. 2 AufenthG sowie generalpräventive Ausweisungsinteressen verwirklicht. Zudem liege aufgrund der zwischenzeitlich mitgeteilten Erkenntnisse der irakischen Behörden ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse im Sinne von § 54 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 2 Alt. 1 AufenthG vor.
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Die Beklagte legt ebenfalls dar, dass die „Auslandsausweisung“ zulässig ist.
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Die Beklagte und der Vertreter des öffentlichen Interesses beantragen jeweils,
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unter Abänderung des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 7. November 2019 die Klage abzuweisen.
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die Berufung der Beklagten und des Vertreters des öffentlichen Interesses zurückzuweisen.
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Er hält die Zweifel des Senats an einer „Auslandsausweisung“ für durchgreifend und die Berufung für unbegründet.
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Im Verlauf des Berufungsverfahrens legte die Beklagte ein Schreiben des United States Department of Justice / Federal Bureau of Investigation (FBI) an das Bundeskriminalamt vom 28. September 2020 vor. Dieses enthält unter anderem folgende Informationen: Dem FBI lägen nur begrenzte Informationen über den Hintergrund des Klägers vor, allerdings sei er den vorliegenden Informationen zufolge als Sunnit dokumentiert. Frühere Berichte des Verteidigungsministeriums deuteten auf eine schiitische Zugehörigkeit hin; alle FBI-Aufzeichnungen wiesen jedoch darauf hin, dass er Sunnit mit mutmaßlichen Verbindungen zu a.-Q. im Irak (AQI) und/oder ISIS sei. Zu der Sicherstellung der Sprengfalle (sog. Vorfall CEXC IZ 6645-06 incident) wird angegeben, es handele sich um einen Vorfall mit einer USBV (Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung - Improvised Explosive Device), die im Juni 2006 durch US-Streitkräfte in der Provinz Anbar/Irak sichergestellt worden sei. Sichergestellt worden seien eine Basisstation eines schnurlosen Telefons großer Reichweite des Herstellers Senao, eine mechanische Zeitschaltuhr, Drähte und Klebeband. Aufgrund begrenzter Angaben des Verteidigungsministeriums sei nicht bekannt, wo genau in der Provinz Anbar die USBV sichergestellt wurde. Die identifizierten latenten Fingerabdrücke des Genannten seien an der klebenden und nichtklebenden Seite von durchsichtigem Paketklebeband am schnurlosen Telefon gesichert worden. Es gebe Lichtbilder, die zeigten, wie das Beweismaterial zuerst vom Verteidigungsministerium festgestellt und dann vom FBI für kriminaltechnische Untersuchungen in Empfang genommen worden sei. Die in der Blue Notice angegebenen Haftzeiten im Camp R. II vom 18. September 2008 bis zum 12. Juni 2010 seien nicht korrekt gewesen und versehentlich weitergeleitet worden. Er sei am 19. April 2007 bei einer Razzia festgenommen und an einem unbekannten Datum aus der Haft entlassen worden. Zu der Frage, warum die Blue Notice auf den 7. Oktober 2015 datiert, obwohl die zugrunde liegenden Ereignisse mehr als 10 Jahre zurücklagen, wird angegeben, das FBI habe seit 2002 Hunderttausende von Beweismitteln aus dem Irak und Afghanistan erhalten, habe jedoch aufgrund der begrenzten Personalstärke angesichts der großen eingegangenen Menge das Beweismaterial über viele Jahre nicht bearbeiten können. Daher habe das FBI im Laufe der Jahre zusätzliches Personal gewonnen, um den Rückstand aufzuholen. Diese USBV sei Bestandteil dieses unbearbeiteten Beweismaterials gewesen und erst 2013 untersucht worden. Außerdem habe es bis 2015 zwischen dem FBI-Analysezentrum für terroristische Sprengvorrichtungen (Terrorist Explosive Device Analytical Center - TEDAC) und INTERPOL keine Übereinkunft bzw. keinen Weg zum Austausch dieser Daten gegeben. Für etwaige in der Vorkorrespondenz verursachte Irritationen werde um Entschuldigung gebeten.
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Das Generalkonsulat der Republik Irak in Frankfurt teilte (auf Anfrage der Beklagten vom 17. August 2020) mit Schreiben vom 1. Februar 2021 mit, die zuständigen irakischen Behörden (Innenministerium) hätten mitgeteilt, dass der Kläger Mitglied der terroristischen Organisation ISIS gewesen sei und als Soldat in der Stadt Hit fungiert habe.
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Der Senat hat am 6. Dezember 2021 mündlich verhandelt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten beider Instanzen und der Behördenakten verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung der Beklagten und des Vertreters des öffentlichen Interesses ist begründet. Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 7. November 2019 war abzuändern und die Klage abzuweisen, weil der Bescheid der Beklagten vom 21. März 2019 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 24. September 2019 rechtmäßig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der streitgegenständlichen Ausweisung sowie der Anordnung eines auf 13 Jahre befristeten Einreise- und Aufenthaltsverbots ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (stRspr, vgl. zuletzt BVerwG, U.v. 9.5.2019 - 1 C 21.18 - juris Rn. 11).
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Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage im Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG. Danach wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an seiner Ausreise mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.
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1. Die Bestimmungen der §§ 53 ff. AufenthG können auch als Rechtsgrundlage einer Ausweisung in der vorliegenden Konstellation - nämlich wenn sich der betroffene Ausländer im Ausland befindet und sich bisher noch nie in der Bunderepublik Deutschland aufgehalten hat („Auslandsausweisung“) - herangezogen werden. Der Senat hält nach dem Vorbringen der Beteiligten und dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung an seinen diesbezüglich im Verlauf des Verfahrens geäußerten Zweifeln nicht fest.
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Höchstrichterlich geklärt ist, dass zu den tatbestandlichen Voraussetzungen der Ausweisung nicht gehört, dass sich der Ausländer noch im Bundesgebiet aufhält (BVerwG, U.v. 31.3.1998 - 1 C 28.97 - BVerwGE 106, 302 = juris, Ls. u. Rn. 9; entgegen BayVGH, B.v. 7.8.1997 - 10 B 97.1837 - n.v., und BayVGH, B.v. 4.8.1995 - 10 CS 95.1937 - NVwZ-RR 1996, 171 = juris).
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Das Bundesverwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt, dass die Ausweisung vom (damals geltenden) Ausländergesetz nicht definiert werde, eine Ausweisung aber als Verwaltungsakt zu kennzeichnen sei, der einem Ausländer gebietet, das Inland zu verlassen, und ihm verbietet, es erneut zu betreten. Damit sei jedoch nicht gesagt, dass die Ausweisung nur angeordnet werden dürfte, um die Ausreisepflicht des Ausländers zu begründen, vielmehr dürfe sich die Ausländerbehörde des Mittels der Ausweisung auch allein zu dem Zweck bedienen, den Ausländer vom Bundesgebiet fernzuhalten. Ebenso setze die Ausweisung einen erlaubten Aufenthalt nicht voraus und dürfe demgemäß auch gegen einen Ausländer verfügt werden, der sich ohne erforderliche Aufenthaltsgenehmigung im Bundesgebiet aufhält und (schon deshalb; § 42 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 AuslG; jetzt § 50 Abs. 1, § 58 Abs. 2 AufenthG) vollziehbar ausreisepflichtig ist. Die Versagung einer Aufenthaltsgenehmigung ziehe eine vollziehbare Ausreisepflicht nach sich, stelle jedoch mangels Sperrwirkung (§ 8 Abs. 2 AuslG, jetzt § 11 AufenthG) grundsätzlich kein gleich wirksames Mittel wie die Ausweisung dar, wenn die Ausländerbehörde den Ausländer für eine angemessene Zeit vom Bundesgebiet fernhalten wolle; entsprechendes gelte auch für die nachträgliche zeitliche Beschränkung einer Aufenthaltsgenehmigung (§ 12 Abs. 2 Satz 2 AuslG, jetzt § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG) und die zeitliche Beschränkung eines genehmigungsfreien Aufenthalts (§ 3 Abs. 5, § 44 Abs. 5 Satz 2 AuslG, jetzt § 12 Abs. 4 AufenthG). Außerdem bestehe an der Ausweisung eines noch wirksam ausgewiesenen Ausländers (Zweitausweisung) ein öffentliches Interesse, wenn zu befürchten sei, die Sperrwirkung der ersten Ausweisung werde ohne Rücksicht auf einen neuen Ausweisungsgrund und das dadurch ausgelöste Schutzbedürfnis der Allgemeinheit entfallen. Im Hinblick auf ihre weiteren Rechtswirkungen erledige sich die Ausweisung nicht mit der Rückkehr des Ausländers in sein Heimatland. Da die Ausweisung als ordnungsrechtliche Maßnahme künftigen Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder Beeinträchtigungen sonstiger erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland aufgrund des Aufenthalts des Ausländers im Inland vorbeugen solle, komme der Frage, ob sich der Ausländer im für die Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt im Inland aufhalte, keine Bedeutung zu. Im Gegenteil laufe es der gesetzlichen Zielsetzung zuwider, die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsverfügung von der zumindest in gewissem Umfang im Belieben des Ausländers stehenden Frage abhängig zu machen, wo er sich aktuell aufhalte. Die Ausweisung als ordnungsrechtliches Instrument müsse nicht nur in Fällen eines über einen längeren Zeitraum andauernden Aufenthalts, sondern namentlich auch dann zur Verfügung stehen, wenn der Ausländer grundsätzlich die Möglichkeit habe, wiederholt ein- und auszureisen und seinen Tätigkeiten in Deutschland anlässlich von Kurzaufenthalten nachzugehen. Dem könne nicht entgegengehalten werden, nach der Systematik des (damals geltenden) Ausländergesetzes setze die Ausweisung den Aufenthalt des Ausländers voraus; dem Bedürfnis, den Ausländer bei Vorliegen von Ausweisungsgründen vom Bundesgebiet fernzuhalten, werde durch die Befugnis der mit der polizeilichen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs beauftragten Behörden Rechnung getragen, den Ausländer zurückzuweisen. Die Rechtswirkungen der Ausweisung erschöpften sich nämlich nicht in der Begründung der Ausreisepflicht und reichten damit über den so bezeichneten Unterabschnitt des Vierten Abschnitts des Ausländergesetzes hinaus. Aus der abschnittsübergreifenden Regelung des Ausweisungsrechts folge, dass der Auslegungsgrundsatz, nach dem die für eine bestimmte Problemlage in einem Abschnitt des Ausländergesetzes getroffene Regelung nicht auf Regelungen eines anderen Abschnitts übertragen werden dürfe, wenn nicht der Gesetzgeber, etwa durch Verweisungen, dafür einen Anhalt gebe, hier nicht greife. Mit diesen Vorschriften trage der Gesetzgeber zugleich dem Umstand Rechnung, dass die Entscheidung über die Möglichkeit der Wiedereinreise und des künftigen Aufenthalts eines Ausländers, gegen den ein Ausweisungsgrund vorliege, typischerweise die Ermittlung und Würdigung schwieriger Sachverhalte erfordere und in Abwägung der schutzwürdigen Interessen des Ausländers mit den voraussichtlichen Gefahren für die Belange der Allgemeinheit zu treffen sei. Demgemäß komme dem Einreise- und Aufenthaltsverbot entscheidende Bedeutung nicht nur für die Zurückweisung an der Grenze, sondern auch für Maßnahmen der Zurückschiebung und der Abschiebung zu. Auch aus den Gesetzesmaterialien ergebe sich kein Anhalt dafür, die Ausweisung entgegen ihrem dargelegten Sinn und Zweck auf Ausländer zu beschränken, die sich im Bundesgebiet aufhalten (BVerwG, U.v. 31.3.1998 - 1 C 28.97 - juris, Rn. 9-18).
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Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht in dieser Entscheidung ausdrücklich offengelassen, „ob und unter welchen Voraussetzungen ein Ausländer ausgewiesen werden kann, der noch nie eingereist ist oder dessen früherer Aufenthalt im Bundesgebiet mit der Ausweisung in keinem Zusammenhang steht“ (BVerwG, U.v. 31.3.1998 - 1 C 28.97 - Rn. 9 am Ende).
35
In der Rechtsprechung ist diese Frage, soweit ersichtlich, bisher nicht beantwortet worden. In der Kommentarliteratur wird sie, sofern sie behandelt wird, unterschiedlich beantwortet (bejahend: Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.7.2021, AufenthG § 53 Rn. 36, ohne weitere Begründung; verneinend: Hailbronner, AuslR, Stand Jan. 2016, AufenthG § 53, Rn. 17: der Ausländerbehörde stehe es frei, eine isolierte Einreisesperre zu verhängen). Zur Begründung der Meinung, dass eine solche „reine Auslandsausweisung“ zulässig sei, wird auch darauf hingewiesen, dass nach der gesetzlichen Regelung auch außerhalb des Bundesgebiets begangene Straftaten, mithin das Verhalten eines Ausländers im Ausland, „ausweisungsrechtlich von Inlandsrelevanz“ sein könnten, dass aber eine allgemeine Einreisesperre gegen einen Ausländer, gegen den ein Ausweisungsinteresse vorliege, gesetzlich nicht vorgesehen oder jedenfalls praktisch nicht umsetzbar sei (Discher in GK-AufenthG, Stand Juni 2009, Vor §§ 53 ff., Rn. 1131-1135).
36
Nach Auffassung des Senats ist die Ausweisung eines Ausländers, der sich noch nie im Bundesgebiet aufgehalten hat, (jedenfalls dann) zulässig, wenn er - wie der Kläger des vorliegenden Verfahrens - konkret seine Einreise in die Bundesrepublik Deutschland und seine Aufenthaltsnahme im Bundesgebiet beabsichtigt und betreibt. Es kann auch wegen (allein) im Ausland verwirklichter Ausweisungsinteressen geboten sein, den Ausländer durch eine Ausweisung und das damit verbundene, zwingend anzuordnende Einreise- und Aufenthaltsverbot (§ 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG) vom Bundesgebiet fernzuhalten.
37
Liegt ein solches Fernhalteinteresse vor, ist es auch sachgerecht, diesem durch das Rechtsinstrument der Ausweisung (§ 53 Abs. 1 AufenthG) und die damit zu verbindende Anordnung eines (grundsätzlich zu befristenden) Einreise- und Aufenthaltsverbots im Sinne effektiver präventiver Gefahrenabwehr praktische Wirksamkeit zu verschaffen. Die Berufungsführer haben überzeugend dargelegt, dass andere Maßnahmen, wie insbesondere die Ablehnung eines Visumantrags wegen des Vorliegens eines Ausweisungsinteresses (§ 6 Abs. 3 Satz 2, § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 4 AufenthG), nicht die gleichen oder gleich effektive Rechtswirkungen herbeiführen, um einen Ausländer dauerhaft vom Bundesgebiet fernzuhalten, weshalb für die Anwendung der Ausweisungsvorschriften als Instrument präventiver Gefahrenabwehr ein Bedarf besteht.
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Die Ablehnung eines Visumantrags kann nicht mit einem Einreise- und Aufenthaltsverbot verbunden werden; die Ablehnung wirkt insoweit nur für den jeweiligen Einzelfall. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot kann auch nicht isoliert angeordnet werden, da § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ein solches nur bei einem Ausländer vorsieht, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, also ausdrücklich eine solche Maßnahme voraussetzt.
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Auch eine schengenweite Ausschreibung zur Einreise- und Aufenthaltsverweigerung kann nur erfolgen, wenn eine Einzelfallentscheidung im Einklang mit den nationalen Rechtsvorschriften oder durch eine Entscheidung im Einklang mit der RL 2008/115/EG (sog. Rückführungsrichtlinie) eine solche verhängt hat; Voraussetzung ist somit entweder eine dem nationalen Recht entsprechende Ausweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung oder eine Rückführungsentscheidung nach Art. 11 der Rückführungsrichtlinie (Art. 24 Abs. 1 Buchst. a und b Verordnung (EU) 2018/1861 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. November 2018 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems (SIS) im Bereich der Grenzkontrollen, zur Änderung des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen und zur Änderung und Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1987/2006, ABl. L 312 S. 14, zuletzt geändert durch VO (EU) 2019/817 vom 20.5.2019, ABl. L 135 S. 27 - sog. SIS-II-Verordnung).
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Die oben dargelegten Argumente des Bundesverwaltungsgerichts zur Fernhaltefunktion der Ausweisung können auch - wie die Beklagte und der Vertreter des öffentlichen Interesses zutreffend vorgetragen haben - auf die vorliegende Fallkonstellation und die Anwendung des nunmehr geltenden Aufenthaltsgesetzes übertragen werden. Die gesetzliche Grundlage, insbesondere § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG, geht zwar von dem „Normalfall“ aus, dass der Ausländer sich im Bundesgebiet befindet („Interessen an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet“) und die Ausweisung zu seiner Ausreise führen soll („Interesse an der Ausreise“). Das schließt jedoch nicht aus, dass das Instrument der Ausweisung auch - ohne Begründung der Ausreisepflicht - für von diesem „Normalfall“ abweichende Sachverhaltsgestaltungen anwendbar ist. So ist unbestritten, dass eine Ausweisung auch zulässig ist, wenn der Ausländer sich zuvor im Bundesgebiet aufgehalten, dieses aber vor der Ausweisung verlassen hat, und wenn die Ausweisung voraussichtlich nicht zu einer Ausreise (bzw. Abschiebung) des Betroffenen führen wird (Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.7.2021, AufenthG § 53 Rn. 36; Bauer in Bergmann/Dienelt, AuslR, 13. Aufl. 2020, AufenthG Vorbem. §§ 53-56 Rn. 24). Denn die Ausweisung ist ein Instrument der präventiven Abwehr von Gefahren, die von dem „Aufenthalt“ des Ausländers im Bundesgebiet ausgehen, mit dem auch bezweckt bzw. erreicht werden kann, eine (Wieder-) Einreise des Ausländers oder zumindest eine weitere Verfestigung seines vorerst nicht zu beendenden Aufenthalts zu verhindern. Es bestehen insoweit keine Unterschiede zwischen der Rechtslage nach dem Ausländergesetz, das dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zugrundlag, und dem nunmehr anzuwendenden Aufenthaltsgesetz.
41
Die von der Klägerseite gegen die Anwendbarkeit der §§ 53 ff. AufenthG vorgebrachten Argumente greifen - wie auch der Vertreter des öffentlichen Interesses zutreffend darlegt - nicht durch. Die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen der Visumbehörde und der (inländischen) Ausländerbehörde besteht regelmäßig nicht, weil ein Visum wegen der mit der Ausweisung verbundenen Titelerteilungssperre (§ 11 AufenthG) nicht mehr erteilt werden darf. Faktische Gesichtspunkte (Leistungsfähigkeit bzgl. anzustellender Ermittlungen) berühren nicht die rechtliche Zulässigkeit. Die Gefahr widersprüchlicher Entscheidungen der für das Visumverfahren und das Ausweisungsverfahren unterschiedlich zuständigen Gerichte besteht im Übrigen auch angesichts der identischen rechtlichen Maßstäbe im Versagungsgrund des § 5 Abs. 4 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG bei der Erteilung des Visums und beim Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG im Rahmen der Ausweisung nicht.
42
2. Der Aufenthalt des Klägers gefährdet zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Sinn des § 53 Abs. 1 AufenthG; er verwirklicht das besonders schwer wiegende Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG.
43
Nach dieser Vorschrift liegt ein besonders schwer wiegendes Ausweisungsinteresse vor, wenn der Ausländer die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland gefährdet; hiervon ist auszugehen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass er einer Vereinigung angehört oder angehört hat, die den Terrorismus unterstützt oder er eine derartige Vereinigung unterstützt oder unterstützt hat oder er eine in § 89a Absatz 1 des Strafgesetzbuchs bezeichnete schwere staatsgefährdende Gewalttat nach § 89a Absatz 2 des Strafgesetzbuchs vorbereitet oder vorbereitet hat, es sei denn, der Ausländer nimmt erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand.
44
Von einer Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland im Sinn des § 54 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 1 AufenthG ist nach der gesetzlichen Definition also (schon) dann auszugehen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Ausländer den Tatbestand einer der drei Varianten des Halbsatz 2 erfüllt (BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 3.16 - juris Rn. 34). Während die ersten beiden Varianten jeweils an eine „Vereinigung“ anknüpfen, der der Ausländer angehört oder angehört hat bzw. die er unterstützt oder unterstützt hat, erfasst die dritte Variante mit der Bezugnahme auf die Vorschrift des § 89a StGB nach der gesetzgeberischen Intention (siehe BT-Drs. 17/11735 S. 19) insbesondere auch Vorbereitungshandlungen von Einzeltätern, ohne dass es eines konkreten Bezuges zu einer terroristischen Vereinigung bedarf.
45
a) Der Senat kann die noch im Verwaltungs- und im erstinstanzlichen Verfahren umstrittene Frage, ob der Kläger einer terroristischen Vereinigung angehört (hat) oder eine solche unterstützt (hat), letztlich dahinstehen lassen. Der Vorwurf der Verbindungen zu der schiitischen Organisation JAMSG (oder einer anderen oder anders bezeichneten Teilgruppe der sog. Mahdi-Armee) lässt sich nach den Angaben in dem zuletzt vorgelegten Schreiben des FBI vom 28. September 2020 nicht mehr aufrechterhalten. Auch Bezüge oder eine Zugehörigkeit zu den Terrororganisationen „Al-Qaida im Irak“ oder „Islamischer Staat“ (IS / ISIS) lassen sich nach Ansicht des Senats nicht mit hinreichender Sicherheit feststellen. In dem Schreiben des FBI vom 28. September 2020 werden solche Bezüge nur als „möglich“ bzw. als „mutmaßlich“ bezeichnet. Das Schreiben des Generalkonsulats der Republik Irak vom 1. Februar 2021, wonach der Kläger Mitglied der terroristischen Organisation ISIS gewesen sei und als Soldat in der Stadt Hit fungiert habe, enthält keine weiteren Informationen und kann nach Ansicht des Senats ebenfalls nicht als ausreichende tatsächliche Grundlage gelten.
46
b) Jedoch liegen nach Überzeugung des Senats hinreichende Tatsachen vor, die die Annahme rechtfertigen, dass der Kläger im Sinn der dritten Variante des § 54 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 2 AufenthG eine schwere staatsgefährdende Gewalttat (§ 89a Abs. 1 und 2 StGB) vorbereitet hat, indem er an der Fertigung einer Sprengfalle zumindest mitgewirkt hat.
47
§ 89a Abs. 1 Satz 2 StGB bestimmt im Wege einer Legaldefinition (BGH, U.v. 8.5.2014 - 3 StR 243/13 - juris Rn. 11) eine schwere staatsgefährdende Gewalttat als Straftat gegen das Leben in den Fällen des § 211 StGB oder des § 212 StGB oder gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a StGB oder des § 239b StGB, die nach den Umständen bestimmt und geeignet ist, den Bestand oder die Sicherheit eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beeinträchtigen oder Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben. § 89a Abs. 2 StGB bestimmt in einer abschließenden Aufzählung (BGH, U.v. 8.5.2014 - 3 StR 243/13 - juris Rn. 12) die Handlungen, die als Vorbereitung einer solchen Gewalttat anzusehen sind; unter anderem ist dies der Fall, wenn der Täter Sprengstoffe oder Spreng- oder Brandvorrichtungen herstellt, sich oder einem anderen verschafft, verwahrt oder einem anderen überlässt. Geschützt ist dabei nicht nur die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch die eines anderen Staates (im Einzelnen dazu siehe BGH, U.v. 8.5.2014 - 3 StR 243/13 - juris Rn. 37 ff.; Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 89a Rn. 5). Die Strafanwendungsregel des § 89a Abs. 3 StGB und der Ermächtigungsvorbehalt in § 89a Abs. 4 StGB spielen im Rahmen des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG dagegen keine Rolle, da diese Vorschrift ausdrücklich nur auf § 89a Abs. 1 und Abs. 2 StGB verweist.
48
Für die Überzeugungsbildung des Senats ist ein reduzierter Beweismaßstab anzuwenden; es genügt, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen. Dies ist der Fall, wenn ein auf Tatsachen gestützter Verdacht besteht, dass der Ausländer die fragliche Tat begangen hat. Einer sicheren Überzeugung bedarf es nicht, bloße Vermutungen genügen jedoch nicht. In der Gesamtschau muss Überwiegendes auf die Tatbegehung hindeuten (Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand 1.7.2021, § 54 Rn. 77). Allerdings müssen die „Tatsachen“, die Grundlage der Schlussfolgerung sind, zur Überzeugung des Gerichts feststehen.
49
c) Im vorliegenden Fall steht als Tatsache fest, dass Fingerabdrücke des Klägers auf Teilen einer Sprengfalle („Improvised Explosive Device“ - IED) festgestellt wurden, die im Jahr 2006 in der irakischen Provinz al-Anbar von US-Streitkräften sichergestellt wurden.
50
Der Kläger selbst bestreitet nicht, dass die Fingerabdrücke, die er im Jahr 2018 im Rahmen seines Visumantrags abgegeben hat, mit denen in der von den US-Behörden veranlassten INTERPOL-„Blue Notice“ identisch sind; diese seien ihm während seiner Inhaftierungen im Irak in den Jahren 2006 und 2007 abgenommen wurden. Das Gericht ist auch davon überzeugt, dass die auf der Sprengfalle festgestellten Fingerabdrücke mit denen des Klägers übereinstimmen und damit von ihm stammen.
51
Bereits das Verwaltungsgericht hat insoweit auf die international anerkannte Fachkompetenz des Analysezentrums für terroristische Sprengvorrichtungen des FBI („Terrorist Explosive Device Analytical Center“ - TEDAC) hingewiesen (UA Rn. 70); der Kläger hat hierzu im Berufungsverfahren auch nichts mehr vorgetragen.
52
In dem Schreiben des FBI vom 28. September 2020 (Rn. 11 bis 13) sind auch die Umstände der Bergung der Sprengvorrichtung und der Feststellung der Fingerabdrücke dargelegt: Bei der Sicherstellung der Sprengfalle (sog. Vorfall CEXC IZ 6645-06 incident) habe es sich um einen Vorfall mit einer USBV (Unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtung - „Improvised Explosive Device“) gehandelt, die im Juni 2006 durch US-Streitkräfte in der Provinz al-Anbar sichergestellt worden sei. Die US-Streitkräfte hätten dabei eine Basisstation eines schnurlosen Telefons großer Reichweite des Herstellers Senao, eine mechanische Zeitschaltuhr, Drähte und Klebeband sichergestellt. Die identifizierten latenten Fingerabdrücke des Klägers seien an der klebenden und nichtklebenden Seite von durchsichtigem Paketklebeband am schnurlosen Telefon gesichert worden. Lichtbilder, die zeigten, wie das Beweismaterial zuerst vom Verteidigungsministerium festgestellt und dann vom FBI für kriminaltechnische Untersuchungen in Empfang genommen wurde, seien vorhanden. Das FBI habe den Latentfingerabdruck auf der klebenden Seite des Klebebands mit schwarzem Spurensicherungspulver (Alternate Black Powder) sichtbar gemacht und fotografisch dokumentiert. Der Latentfingerabdruck auf der nichtklebenden Seite des Klebebands sei mit Cyanacrylat (Sekundenkleber) und Reflective Ultra Violate Imaging System (RUVIS) sichtbar gemacht und fotografisch dokumentiert worden.
53
Ebenso hat das FBI in diesem Schreiben (Rn. 25) überzeugend dargelegt, warum die „Blue Notice“ auf den 7. Oktober 2015 datiert, obwohl die zugrundeliegenden Ereignisse mehr als 10 Jahre zurücklagen: Das FBI habe seit 2002 Hunderttausende von Beweismitteln aus dem Irak und Afghanistan erhalten, aufgrund der begrenzten Personalstärke angesichts der großen eingegangenen Menge das Beweismaterial jedoch über viele Jahre nicht bearbeiten können. Daher habe es im Laufe der Jahre zusätzliches Personal gewonnen, um den Rückstand aufzuholen. Die hier gegenständliche USBV sei Bestandteil dieses unbearbeiteten Beweismaterials gewesen und erst 2013 untersucht worden. Außerdem habe es bis 2015 zwischen dem FBI bzw. TEDAC und INTERPOL keine Übereinkunft bzw. keinen Weg zum Austausch dieser Daten gegeben.
54
d) Diese gesicherten Erkenntnisse rechtfertigen nach Überzeugung des Senats die Schlussfolgerung, dass der Kläger eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet hat, indem er die Sprengfalle im Sinn des § 89a Abs. 2 Nr. 2 StGB hergestellt, also entweder selbst angefertigt oder zumindest wesentlich, nämlich durch die Anbringung der Zündvorrichtung, daran mitgewirkt hat. Soweit der Kläger vorträgt, er habe als Gelegenheits-Taxifahrer auch Gegenstände transportiert und könnte daher mit Klebebändern, die bei der Verpackung von Gütern verwendet worden seien, in Berührung gekommen sein, ist eine solche Erklärung nicht nachvollziehbar. Dass Fingerabdrücke des Klägers auf der klebenden wie auf der nichtklebenden Seite des Klebebands vorhanden waren, kann nach Ansicht des Senats nur damit plausibel erklärt werden, dass der Kläger das Klebeband gezielt zum An- oder Zusammenkleben genutzt hat. Eine „Mehrfachverwendung“ eines vom Kläger zuvor „bei der Verpackung“ verwendeten Klebebandes ist gänzlich unrealistisch.
55
Damit liegt auch eine schwere staatsgefährdende Gewalttat im Sinn des § 89a Abs. 1 Satz 2 StGB vor, denn die Herstellung von Sprengvorrichtungen in der Form von Sprengfallen zielt regelmäßig auf den Tod von Menschen ab oder nimmt ihn jedenfalls billigend in Kauf (§§ 211, 212 StGB). Eine solche Tat ist auch bestimmt und geeignet, die innere Sicherheit eines Staates zu beeinträchtigen, da sie die Wirkung und gerade auch das Ziel hat, das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung ebenso wie das der Sicherheitskräfte nachhaltig zu schädigen (vgl. von Heintschel-Heinegg, BeckOK StGB, Stand 1.11.2021, § 89a Rn. 9; Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 89a Rn. 5). Die Vorschrift beschränkt sich dabei nicht auf die Sicherheit nur der Bundesrepublik Deutschland, sondern bezieht auch andere Staaten - hier den Irak - mit ein (von Heintschel-Heinegg, BeckOK StGB, Stand 1.11.2021, § 89a Rn. 7.2; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, Stand 1.7.2021, AufenthG § 54 Rn. 79).
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Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründe spielen hier keine Rolle. Da der Kläger ohnehin bestreitet, an der Fertigung einer Sprengvorrichtung beteiligt gewesen zu sein, ist im Übrigen auch nicht ersichtlich, auf welche Notwehr- oder Nothilfe-Gründe er sich beziehen will. Das im Verfahren ebenfalls angesprochene Selbstverteidigungsrecht aus Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen (vgl. hierzu BVerfG, B.v. 17.9.2019 - 2 BvE 2/16 - juris Rn. 49 ff.) gilt ohnehin nur (bis zum Eingreifen des Sicherheitsrats) für die „Mitglieder“ der Vereinten Nationen, also Staaten; der Kläger könnte sich hierauf nicht berufen. Unerheblich ist daher auch die im Verfahren aufgeworfene Frage, ob der Einsatz von US-Streitkräften völkerrechtswidrig war.
57
e) Das Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 2 dritte Variante AufenthG besteht auch im Zeitpunkt der Entscheidung des Senats fort. Insbesondere hat der Kläger nicht erkennbar und glaubhaft von seinem sicherheitsgefährdenden Handeln Abstand genommen.
58
Anders, als das Verwaltungsgericht angenommen hat (UA Rn. 79), reicht der Zeitablauf bzw. der zeitliche Abstand zur Tatbegehung (im Jahr 2006) nicht aus, um das in der Person des Ausländers zutage getretene Gefahrenpotential als nicht mehr gegeben anzusehen (BVerwG, B.v. 25.4.2018 - 1 B 11.18 - juris Rn. 12; BayVGH, U.v. 27.10.2017 - 10 B 16.1252 - juris Rn. 54).
59
Denn das „erkennbare Abstandnehmen“ in diesem Sinne ist ein innerer Vorgang und erfordert daher das Vorliegen äußerlich feststellbarer Umstände, die eine Veränderung der bisher gezeigten Einstellung als wahrscheinlich erscheinen lassen. Dabei genügt nicht das bloße Unterlassen weiterer Unterstützungshandlungen, vielmehr bedarf es hierzu eindeutiger Erklärungen und Verhaltensweisen des Ausländers, mit denen er glaubhaft zum Ausdruck bringt, dass er sich nunmehr von zurückliegenden Aktivitäten erkennbar aus innerer Überzeugung distanziert. Grundvoraussetzung für eine solche Annahme ist jedenfalls die Einsicht des Ausländers in die Unrichtigkeit des ihm vorgeworfenen Handelns; er muss in jedem Fall sein sicherheitsgefährdendes Handeln in der Vergangenheit einräumen und offenlegen (BVerwG, U.v. 27.7.2017 - 1 C 28.16 - juris Rn. 30; BVerwG, B.v. 25.4.2018 - 1 B 11.18 - juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 13.1.2020 - 10 ZB 19.1599 - juris Rn. 6; BayVGH, U.v. 27.10.2017 - 10 B 16.1252 - juris Rn. 53 f.; VGH BW, B.v. 17.6.2019 - 11 S 2118/18 - juris Rn. 12; OVG NW, U.v. 15.3.2016 - 19 A 2330/11 - juris Rn. 65 f.).
60
Hieran fehlt es im vorliegenden Fall. Der Kläger bestreitet, die Sprengfalle hergestellt zu haben bzw. an ihrer Herstellung beteiligt gewesen zu sein, er erklärt vielmehr das Vorhandensein seiner Fingerabdrücke eher vage mit einer - wie dargelegt - nicht nachvollziehbaren Begründung. Ein „Abstandnehmen“ im Sinn eines aktiven und nach außen wirkenden Verhaltens ist damit nicht erkennbar. Seine (hilfsweise) Berufung auf mögliche Rechtfertigungs- und Entschuldigungsgründe, beispielsweise nach den §§ 32 ff. StGB, aufgrund einer seiner Meinung nach völkerrechtswidrigen Besetzung des Irak weist im Gegenteil darauf hin, dass eine Einstellungsänderung hinsichtlich der Verwendung derartiger Tatmittel wohl gerade nicht erfolgt ist. Es spricht eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass er sich erneut an ähnlichen Gewalttaten bzw. deren Vorbereitung beteiligen könnte. Gerade das Bestreiten jeglicher Beteiligung an der Tat trotz der gewichtigen Beweislage führt dazu, dass das zukünftige diesbezügliche Verhalten des Klägers als unberechenbar eingeschätzt werden muss. Da es um eine Gefahr für die Bundesrepublik Deutschland geht, ist es unerheblich, dass - wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat - die US-Truppen längst aus dem Irak abgezogen seien und sich Gruppierungen wie die JAMSG aufgelöst hätten.
61
Somit ist anzunehmen, dass vom Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt dieses Urteils weiterhin die Gefahr eines erneuten sicherheitsgefährdenden Handelns ausgeht. Durch den Wortlaut des § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ist kraft Gesetzes definiert, wann von einer fortdauernden Gefährdung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland auszugehen ist, nämlich (jedenfalls) dann, wenn eine der dort genannten Tatbestandsvarianten erfüllt ist und ein erkennbares und glaubhaftes Abstandnehmen nicht festgestellt werden kann (so BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 3.16 - juris Rn. 32 u. 34).
62
3. Die unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmende Gesamtabwägung gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG ergibt ein Überwiegen des öffentlichen Ausweisungsinteresses gegenüber dem Bleibeinteresse des Klägers. Dabei sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen.
63
Dem besonders schwer wiegenden Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG steht auf Seiten des Klägers ein ebenso besonders schwer wiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG gegenüber; schon die Beklagte ist in ihrem Bescheid zugunsten des Klägers davon ausgegangen, dass er mit seiner deutschen Ehefrau trotz der räumlichen Trennung in familiärer Lebensgemeinschaft lebt. Im Lauf des gerichtlichen Verfahrens hat sich insoweit nichts Gegenteiliges ergeben.
64
Im Ergebnis der Abwägung wiegt jedoch dieses Interesse weniger schwer als das Ausweisungsinteresse. Denn im Gegensatz zum Regelfall einer Ausweisung hat sich der Kläger noch nie im Bundesgebiet aufgehalten und konnte daher keine wirtschaftlichen und sozialen Bindungen entwickeln, die durch die Ausweisung und eine damit verbundene Ausreisepflicht unterbrochen würden. Auch ist die Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau bisher noch nicht im Bundesgebiet geführt worden. Die Eheschließung ist im Ausland (in der Türkei) erfolgt, und den Eheleuten musste bewusst sein, dass für einen Nachzug des Klägers nach Deutschland zu seiner Ehefrau erst im Rahmen eines Visumverfahrens ein Aufenthaltstitel zu beantragen war.
65
Im Übrigen wird gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 117 Abs. 5 VwGO auf die Ausführungen in dem Bescheid vom 21. März 2019 (S. 28 bis 32) Bezug genommen; da der Kläger insoweit nichts Substantiiertes vorgetragen hat, folgt der Senat der dortigen Begründung.
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4. Die Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots und dessen Befristung auf 13 Jahre entsprechen § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG bzw. § 11 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3, Abs. 5a AufenthG. Die Ermessensausübung der Beklagten ist im Rahmen des § 114 Satz 1 VwGO nicht zu beanstanden.
67
Da der Kläger auch hierzu im Berufungsverfahren nichts vorgetragen hat, nimmt der Senat hier gemäß § 125 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 117 Abs. 5 VwGO ebenfalls Bezug auf die Ausführungen in dem Bescheid vom 24. September 2019 (S. 3 bis 6) und folgt der dortigen Begründung.
68
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 ff. ZPO.
69
6. Die Berufung wurde gemäß § 132 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 VwGO zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die Rechtsfrage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Ausländer ausgewiesen werden kann, der noch nie eingereist ist oder dessen früherer Aufenthalt im Bundesgebiet mit der Ausweisung in keinem Zusammenhang steht, ist - wie dargelegt - bisher vom Bundesverwaltungsgericht offengelassen und von der Rechtsprechung nicht beantwortet worden. Ebenso sind die Rechtsfragen zum Ausweisungsinteresse aufgrund der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat nach § 54 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 2 dritte Variante AufenthG in Verbindung mit § 89a Abs. 1, Abs. 2 StGB höchstrichterlich noch nicht abschließend geklärt.