Titel:
Erfolglose Asylklage eines äthiopischen Staatsangehörigen vom Volk der Oromo
Normenketten:
AsylG § 3, § 3e, § 4, § 77 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Soweit äthiopische Sicherheitskräfte gegen Kämpfer und aktive Unterstützer der OLA vorgehen, handelt es sich grundsätzlich nicht um eine gezielte Verfolgung oppositioneller oromischer Volkszugehöriger allein wegen deren politischer Überzeugung, sondern um legitime Maßnahmen zur Ahndung kriminellen Unrechts bzw. zur Abwehr allgemeiner Gefahren. (Rn. 84) (redaktioneller Leitsatz)
2. Derzeit besteht nicht die Gefahr, dass ein gesunder, arbeitsfähiger, alleinstehender junger Mann bei einer Rückkehr nach Äthiopien nicht in der Lage sein wird, sein Existenzminimum zu decken. (Rn. 103) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Äthiopischer Staatsangehöriger, volljährig, ledig, keine Kinder, Äthiopien, oromischer Volkszugehöriger, ledig und kinderlos, interner Schutz, exilpolitische Betätigung, OLA, bewaffneter Konflikt, Sicherung des Lebensunterhalts, Covid-19-Pandemie
Fundstelle:
BeckRS 2021, 47016
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Ziel des Klägers, eines am … … … in Äthiopien geborenen äthiopischen Staatsangehörigen vom Volke der Oromo, ist die Asylanerkennung sowie die Zuerkennung Internationalen Schutzes (Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise subsidiärer Schutz) durch die Beklagte, zumindest aber Schutz vor einer Abschiebung nach Äthiopien.
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Der Kläger reiste am 27. Dezember 2015 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein und stellte am 25. Juli 2016 beim Bundesamt für … (Bundesamt) einen Asylantrag.
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Nach persönlicher Anhörung, durchgeführt am 25. April 2017, lehnte das Bundesamt mit streitgegenständlichem Bescheid vom 23. Oktober 2017 die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 4). Der Kläger wurden zur Ausreise binnen 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung bzw. nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens aufgefordert und ihm für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach Äthiopien oder einen anderen zur Rückübernahme bereiten oder verpflichteten Staat angedroht (Nr. 5). Das für den Fall der Abschiebung verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6).
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Hiergegen hat die Bevollmächtigte des Klägers mit Schriftsatz vom … Oktober 2017, bei Gericht per Telefax am gleichen Tage eingegangen, Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben, beantragt,
- 1.
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den Bescheid der Beklagten vom 23. Oktober 2017 aufzuheben,
- 2.
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die Beklagte zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
- 3.
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hilfsweise dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen,
- 4.
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hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 des AufenthG vorliegen,
und die Klage mit Schriftsatz vom … Dezember 2017, mit Schriftsatz vom ... Februar 2018 sowie in der mündlichen Verhandlung vom 10. September 2021 begründet.
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Die Beklagte hat die Behördenakten auf elektronischem Weg vorgelegt, ohne einen Antrag zu stellen.
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Mit Beschluss vom 18. August 2021 hat die Kammer, nachdem den Beteiligten zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden war, den Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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Im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 10. September 2021 hat das Gericht den Kläger informatorisch angehört. Die mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung mitgeteilten Erkenntnismittel sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Für die Beklagte ist niemand erschienen.
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Bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt machte der Kläger zu seiner Herkunft und seinen familiären Verhältnissen, zu seinem Gesundheitszustand und seinen schulischen und beruflichen Qualifikationen, sowie zu den Gründen für seinen Asylantrag folgende Angaben:
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Er stamme aus der Stadt … … im Bundesstaat Oromia, Verwaltungszone … Zone, gehöre der Volksgruppe der Oromo an und sei muslimischen Glaubens. Seine Muttersprache sei Oromo.
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Er sei nicht verheiratet und habe keine Kinder. In Äthiopien lebten noch seine Eltern, ein Brüder, drei Schwestern, zwei Onkel sowie drei Tanten mit ihren Familien. Ein weiterer Bruder lebe in Frankreich. Seine Verwandten hätten auch seine Ausreise finanziert. Sein Vater sei Viehhändler, seine Familie besitze ein eigenes Haus und landwirtschaftliche Flächen sowie Viehbestände. Seine Eltern hätten auch seine Ausreise finanziert.
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Er habe die Schule nach der zehnten Klasse abgeschlossen. Anschließend habe er in einer Autowerkstatt, in einem Laden für Handys und sonstige elektronische Geräte sowie als Installateur von Sattelitenanlagen gearbeitet.
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Er habe keinerlei gesundheitliche Beeinträchtigungen.
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Im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien fürchte er, auf Veranlassung der äthiopischen Sicherheitsbehörden inhaftiert oder gar getötet zu werden. Dies habe mit folgenden Vorgängen zu tun, die sich in Äthiopien vor seiner Ausreise ereignet und ihn zu seiner Ausreise bewegt hätten:
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Im Januar 2014 sei der Kläger zunächst an seiner Arbeitsstätte, einer Autowerkstatt, zusammen mit anderen Mitarbeitern von der Polizei unter dem Vorwurf, sie hätten eine Bombe deponiert, verhaftet, verhört und für zwei Monate ohne Anklage festgehalten worden. Er sei nur freigekommen, da sich sein Vater als Bürge zur Verfügung gestellt habe.
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Da die Werkstatt, in der er zuvor gearbeitet habe, mittlerweile geschlossen gewesen sei, habe er in einem Laden gearbeitet, in dem Handys verkauft und repariert, aber auch kleine Musikgeräte verkauft worden seien. Als am 30. April 2014 eine große Demonstration in der Heimatstatt des Klägers stattgefunden habe, habe der Kläger im Laden Musik, welche die politische Lage und die Rechte der Oromo thematisiert habe, über nach außen gerichtete Lautsprecher abgespielt, so dass sie draußen laut hörbar gewesen sei. Die Polizei sei gewaltsam gegen die friedlichen Demonstranten vorgegangen, habe unter anderem auch auf diese geschossen. Der Kläger sei daraufhin nach Hause gelaufen, wo sich bereits andere Studenten versteckt hätten, dort jedoch am nächsten Tag von den Sicherheitsbehörden verhaftet und zunächst ein Monat lang in der Polizeistation in der Stadt … festgehalten und misshandelt worden, anschließend noch fünf Monate lang in der Polizeistation seiner Heimatstadt …, bis ihn sein Vater freigekauft habe und er gegen Kaution im November 2014 freigelassen worden sei. Während seiner Haft sei er befragt, getreten und mit Stöcken geschlagen sowie sein Kopf bei der Befragung immer wieder in eine Tonne mit kaltem Wasser gesteckt worden.
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Nach seiner Freilassung habe der Kläger als Installateur für Satellitenantennen gearbeitet. Hierbei habe er auch geholfen, den Empfang regierungskritischer Sender zu ermöglichen, den die äthiopische Regierung immer wieder durch Störmaßnahmen zu unterbinden versucht habe. Im Zuge der Wahl 2015 habe „die äthiopische Regierung alle Leute, die sich mit diesen Empfangsanlagen auskannten, zusammengerufen“, ihnen vorgeworfen, die Menschen gegen die Regierung aufzuhetzen und sich somit zu Helfern von Terroristen zu machen und sie aufgefordert, nicht mehr für die Empfangbarkeit nicht von der Regierung kontrollierter Sender mitzuwirken. Daraufhin habe der Kläger mit seiner Arbeit aufgehört.
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Am Wahltag, den 24. Mai 2015, habe dem Kläger auf dem Weg zur Wahlkabine ein Mann befohlen, was er zu wählen habe. Als er sich geweigert habe, habe der Mann ihm den Kugelschreiber weggenommen und selbst das Kreuz gemacht. Der Kläger habe dem Mann das Papier wieder abgenommen und es zerrissen. Daraufhin sei er aus dem Wahlraum entfernt worden. In der darauffolgenden Nacht seien „Leute“ zum Haus seiner Familie gekommen. Der Kläger habe Angst bekommen und sei über den Hof der Nachbarn zunächst auf die andere Straßenseite und als er von dort einen Schuss hörte zu seinem Onkel geflüchtet. Von dort habe er am nächsten Tag seine Eltern angerufen. Seine Mutter habe ihm daraufhin erzählt, sein Vater sei von der Polizei verhaftet worden. Sein Onkel habe ihn daraufhin zu Freunden gebracht, bei denen er ca. einen Monat lang geblieben sei. Im September 2015 sei er aus Äthiopien ausgereist. Sein Vater sei inzwischen wieder frei.
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Das Bundesamt wiederum begründete seine Entscheidung, die Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigter sowie auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. subsidiären Schutzes abzulehnen in seinem Bescheid vom 23. Oktober 2017 im Wesentlichen wie folgt:
„Der seitens des Klägers geltend gemachte Vorfluchttatbestand sei bereits in tatsächlicher Hinsicht nicht glaubhaft. So sei zum einen nicht nachvollziehbar, dass der Kläger, obwohl angeblich als Gegner der äthiopischen Regierung eingestuft, zwei Mal gegen Kaution freigelassen worden sei. Des Weiteren sei nicht nachvollziehbar, wie sich der Kläger nach den Geschehnissen am Wahltag, der anschließenden Fahndung nach ihm inklusive Hausdurchsuchung und Verhaftung seines Vaters mehrere Monate unbehelligt von den Sicherheitsbehörden in seiner Heimatregion bzw. seinem Heimatland aufhalten habe können.“
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Davon abgesehen habe der Kläger - trotz entsprechender Nachfragen - in der Anhörung nicht substantiiert darlegen können, dass der Besuch der Unbekannten in der Nacht des 24. Mai 2015, die Schüsse, die er gehört habe sowie die Verhaftung seines Vaters in Zusammenhang mit ihm bzw. den Ereignissen im Wahllokal stehen. Insbesondere die Hintergründe für die Verhaftung seines Vaters habe der Kläger - trotz entsprechender Nachfragen - nicht aufklären können.
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Des Weiteren sei den dem Bundesamt zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen, dass jedem oromischen Volkszugehörigen in Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine auch von ihrer Intensität her asylrechtlich relevante zielgerichtete Verfolgungsmaßnahme drohe.
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Auch das bloße Stellen eines Antrags auf Flüchtlingsschutz und Asyl führe nach übereinstimmender Auffassung der Rechtsprechung und der sachinformierten Stellen nicht zu einer politisch motivierten Verfolgung.
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Die Entscheidung, in Bezug auf den Kläger das Vorliegen nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Äthiopien zu verneinen, begründete das Bundesamt im Wesentlichen wie folgt:
„Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse im Zielstaat nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK sei im Falle des Klägers nicht gegeben.“
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Der Kläger sei jung, gesund und arbeitsfähig, verfüge zudem über eine zehnjährige Schulausbildung mit Abschluss und habe bis zu seiner Ausreise aus Äthiopien durch Arbeit in verschiedenen Bereichen (in einer Autowerkstatt, als Verkäufer und Techniker in einem Handy- und Musikgeräteladen sowie als Installateur von Sattelitenanalgen) seinen Lebensunterhalt bestreiten können. Es sei nicht ersichtlich, warum ihm dies nach seiner Rückkehr nach Äthiopien nicht wieder gelingen sollte. Darüber hinaus verfüge er über ein weitreichendes familiäres Netzwerk, zumal den Angaben des Klägers zu entnehmen sei, dass die wirtschaftliche Situation seiner Familie im Vergleich zur Gesamtbevölkerung überdurchschnittlich gut ist.
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Auch drohe dem Kläger nicht aus gesundheitlichen Gründe eine individuelle Gefahr für Leib und Leben i.S.v. § 60 Abs. 7 AufenthG.
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Im Verlauf des Gerichtsverfahrens hat der Kläger sowie dessen Bevollmächtige die gegenüber dem Bundesamt getätigten Angaben im Wesentlichen wie folgt präzisiert bzw. ausgebaut sowie folgende neue, im Verfahren vor dem Bundesamt noch nicht geltend gemachte Asylgründe vorgebracht:
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Den bereits gegenüber dem Bundesamt geltend gemachten Vorfluchttatbestand hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung am 10. September 2021 auf entsprechende Nachfragen des Gerichts wie folgt ergänzt bzw. präzisiert:
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Die Freilassungen nach den beiden Inhaftierungen („Bombe“ / „regimekritische Musik“) seien immer mit der Warnung versehen worden, dass er bei weiteren Verstößen heftigere Sanktionen zu erwarten habe. Dennoch habe er kurz nach seiner zweiten Freilassung dafür sorgen wollen, dass seine unterdrückten Volksangehörigen unabhängige Informationen erhalten und daher - auch auf das Risiko, erneut inhaftiert oder gar getötet zu werden - für den Empfang regimekritischer Sender gesorgt. Dies habe er ausschließlich aus idealistischen Gründen getan, finanziell sei er nicht unbedingt auf die Arbeit als Installateur angewiesen gewesen, da er seinen Lebensunterhalt vorwiegend durch Zuwendungen seiner Familie bestritten habe.
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Circa ein bis zwei Wochen vor der Wahl jedoch seien Gemeindemitarbeiter von Tür zu Tür gegangen und hätten alle Personen, die diese Tätigkeit verrichtet hätten, zu einer Versammlung einberufen. Die entsprechenden Personen seien der Gemeindeverwaltung bekannt gewesen. Bei der Versammlung seien sie aufgefordert worden, diese Tätigkeiten zu unterlassen und gewarnt worden, im Falle eines Zuwiderhandelns hätte dies Haft, Enteignung sowie auch negative Auswirkungen auf die Familie zur Folge. Daraufhin habe der Kläger die Tätigkeit aufgegeben.
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Angaben dazu, wie es ihm nach dem 24. Mai 2015 bis zu seiner Ausreise im September 2015 gelungen sei, einer Ergreifung durch die Sicherheitsbehörden zu entgehen, hat der Kläger keine gemacht.
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Erstmals mit Schriftsatz der Klägerbevollmächtigten vom … Dezember 2017, weiter ausgeführt mit Schriftsatz vom ... Februar 2018 sowie in der mündlichen Verhandlung am 10. September 2021, hat der Kläger sowie dessen Bevollmächtigte zudem eine dem Kläger im Falle der Rückkehr nach Äthiopien drohende Verfolgung seitens der äthiopischen Sicherheitsbehörden aufgrund exilpolitischer Aktivitäten des Klägers in der Bundesrepublik geltend gemacht:
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Der Kläger sei seit dem … … 2016 Mitglied der Union of Oromo Students in Europe - German Branch (UOSG) und habe in diesem Zusammenhang im Jahr 2016 an mehreren Demonstrationen und Versammlungen in B. und F. am Main sowie an einer Demonstration vor der L.-M.-Universität in M. teilgenommen. Als Nachweis hat die Bevollmächtigte des Klägers eine Erklärung der UOSG vom 23. Dezember 2017 vorgelegt, in welchem diese die Mitgliedschaft des Klägers sowie seine Teilnahme an den Veranstaltungen in B. und F. bestätigte, sowie Fotos, die den Kläger auf der Demonstration in M. zeigen sollen.
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Des Weiteren habe der Kläger Inhalte auf Facebook gepostet, die für ihn im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien eine Gefahr darstellen würden. Nähere Aussagen zu den Inhalten der Posts wurden nicht getätigt. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger angekündigt, besagte Posts im Nachgang zur mündlichen Verhandlung dem Gericht schriftlich vorzulegen, dies jedoch anschließend nicht getan.
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Aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten sei seine in Äthiopien verbliebene Familie befragt, sein Vater 2017 / 2018 sogar erneut inhaftiert und verprügelt worden und an den Folgen verstorben. Auch ein Bruder des Klägers habe deshalb Äthiopien verlassen müssen und lebe nun in Frankreich.
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Auch sei ein Bekannter des Klägers, Herr Dr. M* …, nach seiner Rückkehr nach Äthiopien wegen „Unterstützung der Oromo“ inhaftiert worden. Als Nachweis hat die Bevollmächtigte ein Foto vorgelegt, welches den Kläger mit besagtem Dr. M* … zeigen soll.
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Da die UOSG seit Beginn der Corona-Pandemie und den in diesem Zusammenhang ergriffenen präventiven Pandemieschutzmaßnahmen kaum mehr aktiv sei, unterstütze der Kläger - so dieser erstmals in der mündlichen Verhandlung vom 10. September 2021 - bereits seit Anfang 2021 die OLA, einen militante, von der OLF abgespaltete Gruppierung, über deren sog. „Taskforce“ in M. finanziell mit einem monatlichen Beitrag von 20 EUR. Eine Bestätigung der Taskforce über eine Mitgliedschaft bzw. die angegebene finanzielle Unterstützung bzw. sonstige Nachweise im Nachgang zur mündlichen Verhandlung vorzulegen hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung zwar angekündigt, entsprechende Dokumente jedoch anschließend nicht vorgelegt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung sowie auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 10. September 2021 über die Verwaltungsstreitsache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte mit der Ladung auf diese Folge ihres Ausbleibens hingewiesen worden ist, § 102 Abs. 2 VwGO.
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Die Klage ist zulässig, hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
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Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes vom 31. August 2017 ist in vollem Umfang rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 VwGO).
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Der Kläger hat zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) weder Anspruch Asylanerkennung noch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) oder subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) - hierzu sogleich unter den Ziffer 1 bis 3.
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Darüber hinaus hat das Bundesamt zu Recht festgestellt, dass keine zielstaatsbezogenen nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 AufenthG zu Gunsten des Klägers bestehen - hierzu sogleich unter Ziffer 4.
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Auch die verfügte Abschiebungsandrohung sowie die vorgenommene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbot sind rechtmäßig - hierzu sogleich unter Ziffer 5.
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Die Klage war daher vollumfänglich abzuweisen.
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1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
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Einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AslyG zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen von § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Buchst. a) AsylG) und keiner der Ausschlussgründe der § 3 Abs. 2 und Abs. 3 AsylG vorliegt.
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Weitere Einzelheiten regeln die §§ 3a - d AsylG in Umsetzung der RL 2011/95/EU vom 20. Dezember 2011 (sog. Qualifikationsrichtlinie). Erforderlich ist demnach eine Verfolgungshandlung i.S.v. § 3a Abs. 1, 2 AsylG, die an einen Verfolgungsgrund i.S.v. § 3b AsylG anknüpft und von einem Akteur i.S.v. § 3c AsylG ausgeht. Weiter muss es an einem effektiven Schutz vor Verfolgung im Herkunftsstaat fehlen (§§ 3d, 3e AsylG). Zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1 und 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Maßnahme muss darauf gerichtet sein, den von ihr Betroffenen gerade in Anknüpfung an einen oder mehrere dieser Verfolgungsgründe zu treffen. Ob eine Verfolgungshandlung „wegen“ eines der in § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründe erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme zu beurteilen. Die Zielgerichtetheit muss nicht nur hinsichtlich der durch die Verfolgungshandlung bewirkten Rechtsgutverletzung, sondern auch in Bezug auf die Verfolgungsgründe im Sinne des § 3b AsylG, an die die Handlung anknüpft, anzunehmen sein (BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - NVwZ 2018, 1408, juris Rn. 13). Für die „Verknüpfung“ reicht ein Zusammenhang im Sinne einer Mitverursachung aus. Gerade mit Blick auf nicht selten komplexe und multikausale Sachverhalte ist nicht zu verlangen, dass ein bestimmter Verfolgungsgrund die zentrale Motivation oder die alleinige Ursache einer Verfolgungsmaßnahme ist. Indes genügt eine lediglich entfernte, hypothetische Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund den Anforderungen des § 3a Abs. 3 AsylG nicht (BVerwG, U.v. 19.4.2018 - 1 C 29.17 - juris Rn. 13 m.w.N.).
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Zur Beurteilung, ob eine begründete Furcht vor Verfolgung anzunehmen ist, muss das Gericht eine Verfolgungsprognose unter zusammenfassender Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts anstellen. Maßgeblich ist hierbei der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 32). Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht aller Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 32; VGH BW, U.v. 16.10.2017 - A 11 S 512/17 - juris Rn. 31 ff; BayVGH, U.v. 14.2.2017 - 21 B 16.31001 - juris Rn. 21).
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Grundsätzlich obliegt es dem Asylsuchenden bzw. dem um Flüchtlingsschutz Nachsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Er hat dazu unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass er bei verständiger Würdigung einer Verfolgung im oben genannten Sinne ausgesetzt war bzw. eine solche im Rückkehrfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten hat. Hierzu gehört, dass der Ausländer zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen unter anderem Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Ausländers berücksichtigt werden (vgl. OVG Münster, Urt. v. 14.2.2014 - 1 A 1139/13.A - juris Rn. 35 m.w.N.).
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Von den in die eigene Sphäre des Asylsuchenden fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, zu unterscheiden sind die in den allgemeinen Verhältnissen des Herkunftslandes liegenden Umstände, die eine begründete Furcht vor Verfolgung rechtfertigen sollen (vgl. BVerwG, U. v. 22.3.1 983 - 9 C 68.81 - Buchholz 402.24 § 28 AuslG Nr. 44 / juris Rn. 5). Hinsichtlich dieser Verhältnisse reicht es wegen seiner zumeist auf einen engeren Lebenskreis beschränkten Erfahrungen und Kenntnisse aus, wenn er Tatsachen vorträgt, aus denen sich - ihre Wahrheit unterstellt - hinreichende Anhaltspunkte für eine nicht entfernt liegende Möglichkeit politischer Verfolgung für den Fall einer Rückkehr in das Herkunftsland ergeben (vgl. BVerwG, U.v. 22.3.1983 - 9 C 6 8.81 - juris Rn. 5). Hier ist es Aufgabe der Beklagten und der Gerichte, unter vollständiger Ausschöpfung aller verfügbaren Erkenntnisquellen, die Gegebenheiten im Herkunftsstaat aufzuklären und darauf aufbauend eine von Rationalität und Plausibilität getragene Prognose zu treffen (OVG Hamburg, U.v. 18.1.2018 - 1 Bf 81/17.A - juris Rn. 43 m.w.N.). In Bezug auf die Verhältnisse im Herkunftsland sind die Gerichte dabei regelmäßig darauf angewiesen, sich durch eine Vielzahl unterschiedlicher Erkenntnismittel gleichsam mosaikartig ein Bild zu machen und die Prognose, ob bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht, aufgrund einer wertenden Gesamtschau aller Umstände zu treffen (vgl. zum Vorstehenden OVG Hamburg, U.v. 21.9.2018 - 4 Bf 186/18.A - juris Rn. 31-39).
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Gemessen daran lässt sich aufgrund der vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Äthiopien sowie den eigenen Angaben des Klägers in der Anhörung vor dem Bundesamt und derjenigen in der mündlichen Verhandlung nicht zur Überzeugung des Gerichts feststellen, dass dem Kläger im Falle seiner hypothetischen Rückkehr nach Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht.
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a. Insbesondere ergibt sich eine solche Bedrohung nach Überzeugung des Gerichts nicht aus dem seitens des Klägers in der Anhörung vor dem Bundesamt sowie in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Vorfluchttatbestand, wonach der Kläger - zuvor bereits zweimal inhaftiert, jedoch jedes Mal gegen Bürgschaft und „auf Bewährung“ freigelassen - nach seinem Widersetzen gegen eine ihm aufzuzwingen versuchte Wahlentscheidung während der Wahl 2015 sich einer Ergreifung seitens der Sicherheitsbehörden nur durch seine Ausreise habe entziehen können und ihm daher im Falle einer Rückkehr immer noch Haft oder gar der Tod droht.
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(1) Die Tatsache, dass ein Asylsuchender bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Die Vorschrift misst den in der Vergangenheit liegenden Umständen Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft bei (BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29/17 - NVwZ 2018, 1408, juris Rn. 15). Die den früheren Handlungen oder Bedrohungen zukommende Beweiskraft ist von den zuständigen Behörden unter der sich aus Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU ergebenden Voraussetzung zu berücksichtigen, dass diese Handlungen oder Bedrohungen eine Verknüpfung mit dem Verfolgungsgrund aufweisen, den der Betreffende für seinen Antrag auf Schutz geltend macht (EuGH, Urt. v. 2.3.2010, C-175/08 u.a., NVwZ 2010, 505 / juris Rn. 94). Fehlt es an einer entsprechenden Verknüpfung, so greift die Beweiserleichterung nicht ein (BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29.17, NVwZ 2018, 1408 / juris Rn. 15). Die widerlegliche Vermutung entlastet den Vorverfolgten von der Notwendigkeit, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Sie ist widerlegt, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Diese Beurteilung unterliegt der freien Beweiswürdigung des Tatrichters (BVerwG, Urt. v. 19.4.2018 - 1 C 29/17 - NVwZ 2018, 1408 / juris Rn. 15).
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(2) Jedoch ist der vom Kläger dargelegte Vorfluchttatbestand nach Überzeugung des Gerichts bereits in tatsächlicher Hinsicht nicht glaubhaft.
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Zunächst hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung nicht dargelegt, wie es ihm gelungen ist, trotz Fahndung seitens der Sicherheitsbehörden monatelang einer Verhaftung zu entgehen. Das Gericht folgt insoweit zunächst den Gründen des angefochtenen Bescheids und nimmt auf diesen Bezug (§ 77 Abs. 2 AsylG).
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Des Weiteren weisen auch die vom Kläger ferner geltend gemachten, den Ereignissen im Zusammenhang mit der Wahl zeitlich vorangestellten Sachverhalte (zweimal Verhaftung und Freilassung unter Auflagen, Untersagung Empfang regimekritischer Sender) unrealistische Elemente auf. So ist insbesondere nicht nachvollziehbar, weshalb die Sicherheitsbehörden zunächst monatelang untätig blieben, als der Kläger, obwohl bereits zweifach inhaftiert und nur „auf Bewährung“ freigelassen, für den Empfang regimekritischer Sender sorgte, obwohl dies den Behörden, wie der Kläger selbst angibt, bekannt war und ihm später lediglich die weitere Ausführung untersagten, obwohl andere Aktivitäten sogleich mit drakonischen Strafen belegt wurden. Zwar ist dieses Geschehen in rechtlicher Hinsicht nicht unmittelbar relevant für die Frage, ob dem Kläger im Falle einer Rückkehr eine Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG droht, da es insoweit an einem unmittelbaren kausalen Zusammenhang zur Ausreise fehlt (diese erfolgte ja angeblich erst infolge der Geschehnisse am Wahltag), jedoch führt diese dazu, dass die Glaubwürdigkeit des Klägers insgesamt erschüttert und damit auch die Glaubhaftigkeit des unmittelbar relevanten Vorfluchttatbestandes beeinträchtigt wird.
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(3) Davon abgesehen ist bei der vom Kläger vorliegend als Vorfluchttatbestand geltend gemachten Art des Geschehens bereits ganz allgemein nicht davon auszugehen, dass Betroffene nach einer viele Jahre später erfolgenden Rückkehr nach Äthiopien noch immer einer hieraus (!) erwachsenden Verfolgung durch die äthiopischen Sicherheitsbehörden ausgesetzt sind - zur ebenfalls geltend gemachten jüngeren exilpolitischer Betätigung siehe sogleich die Ausführungen unter Ziffer b.
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So sind seit der Wahlnacht im Mai 2015 über sechseinhalb Jahre verstrichen.
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Weder verfügt Äthiopien über ein zentrales Fahndungs- und Strafregister (AA, Lagebericht v. 14.6.2021) noch hatte der Kläger damals eine zentrale Rolle oder Funktion in einer, auch noch derzeit als Terrororganisation eingestuften Widerstandsgruppe oder einer der auch noch derzeit staatlicher Verfolgung ausgesetzten Oppositionsgruppen inne, die dafür sorgen könnte, dass er sich auch nach so langer Zeit der Abwesenheit immer noch auf dem Radar der Sicherheitsbehörden befindet.
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Auch handelt es sich bei den vom Kläger geschilderten Aktivitäten (Verweigerung Wahlanweisung, aber auch zuvor: Abspielen regimekritischer Musik) nicht um die Beteiligung an militärischen Aktionen. Der angebliche Vorwurf der Bombenlegung aus dem Januar 2014 scheint zudem nicht weiter aufrechterhalten worden zu sein, da andernfalls der Kläger anschließend wohl nicht zweimal gegen Kaution freigelassen bzw. lediglich eine Untersagung („Empfang regimekritischer Sender möglich machen“) ausgesprochen worden wäre.
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Zwar hat der Kläger angegeben, sein Vater sei wegen ihm und seiner exilpolitischen Aktivität 2017 bzw. 2018 verhaftet und ermordet worden, sein Bruder deshalb aus Äthiopien geflohen, was implizieren würde, dass sich der Kläger auch aktuell noch auf dem Radar der Sicherheitsbehörden befindet. Jedoch hält das Gericht diese Angabe - wie sogleich unter Ziffer b. hinsichtlich der geltend gemachten exilpolitischen Betätigung näher ausgeführt - für nicht glaubhaft.
61
Zudem haben sich seit Mitte 2018 die politischen (Macht) Verhältnisse in Äthiopien grundlegend geändert - vgl. hierzu ausführlich AA - Lagebericht v. 17. Okt. 2018, die bisherige, von der TPLF bzw. der tigrinischen Volksgruppe dominierte „alte“ Regierung, gegen die die vorliegend seitens des Kläger geltend gemachten Aktivitäten aus den Jahren 2014 und 2015 gerichtet waren, ihre Macht Schritt für Schritt verloren und die zahlenmäßig stärkste Volksgruppe der Oromo an Macht und Einfluss gewonnen.
62
(4) Davon abgesehen handelt es sich bei dem vom Kläger geltend gemachten Vorfluchttatbestand zudem bereits ganz allgemein um eine wenn überhaupt nur lokal bestehende, auf den jeweiligen Bundesstaat bzw. sogar die örtliche Region oder Stadt begrenzte Bedrohung, derer sich Betroffene durch Verlagerung ihres Wohnsitzes in eine andere Region oder einen anderen Bundesstaat, etwa in die Hauptstadt Addis Abeba, entziehen können (siehe hierzu AA, Lagebericht v. 14.6.2021 - Ziff. 3 - S. 15), insbesondere da es, wie oben dargestellt, kein zentrales Fahndungs- und Strafregister gibt.
63
Gemäß § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (sog. „interner Schutz“, vgl. § 3e Abs. 1 AsylG). Bei der Zumutbarkeit sind in einer umfassenden wertenden Gesamtbetrachtung die allgemeinen sowie individuellen Verhältnisse am Ort der Niederlassung in den Blick zu nehmen. Dies betrifft insbesondere die Gewährleistung des wirtschaftlichen Existenzminimums. Maßstab im Hinblick auf die Zumutbarkeit ist, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK nicht zu besorgen ist (vgl. BVerwG, U. v. 18.2.2021 - 1 C 4.20 - juris Rn. 27). Bei der Frage der Sicherung des Lebensunterhalts durch den Asylbewerber ist die Kernfamilie bzw. eine intensive Form der Beistandsgemeinschaft einzubeziehen (vgl. Wittmann in BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 15.10.2021, § 3e AsylG Rn. 56 m.w.N.).
64
Unter Berücksichtigung der aus den vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Äthiopien hervorgehenden allgemeine Lage sowie der individuellen Situation des Klägers ist davon auszugehen, dass es dem Kläger auch in einem anderen Landesteil gelingen wird, für sich eine existenzsichernde Lebensgrundlage zu schaffen - siehe hierzu die Ausführungen im Rahmen der Prüfung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK unter Ziffer 4. a. (1) sowie b. (1).
65
b. Nach Überzeugung des Gerichts droht dem Kläger zudem auch keine Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG aufgrund seiner angeblich während seines Aufenthaltes in der Bundesrepublik ausgeübten exilpolitischen Betätigung.
66
Zwar kann gemäß § 28 Abs. 1a AsylG die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Absatz 1 auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist.
67
Jedoch führt nach Überzeugung des Gerichts weder die angeblich seit März 2016 bestehenden Mitgliedschaft des Klägers bei der UOSG - hierzu sogleich bei Ziffer (3) - noch die angebliche Mitgliedschaft bei der sog. OLF/OLA-Taskforce - hierzu sogleich bei den Ziffern (3) bis (5) - noch seine angeblichen Aktivitäten in den sozialen Medien hierzu sogleich bei Ziffer (2) - zu einer begründeten Furcht vor Verfolgung.
68
(1) Bis zum Regierungswechsel 2018 konnte die Betätigung für eine oppositionelle Organisation im Ausland bei einer Rückkehr nach Äthiopien zu staatlichen Repressionen führen. Dies hing vor allem davon ab, ob diese Organisation von der äthiopischen Regierung als Terrororganisation angesehen wurde, des Weiteren von Art und Umfang der exilpolitischen Aktivität (z. B. Organisation gewaltsamer Aktionen, führende Position) sowie ob und wie sich die Person nach ihrer Rückkehr in Äthiopien politisch betätigte - AA, Lagebericht v. 14.6.2021 - Ziff. 1.9 - S. 14.
69
Mit dem Regierungswechsel 2018 (s.o.) und der nachfolgend eingeleiteten Entkriminalisierung der politischen Opposition wandelte sich zwar zunächst das politische Klima - AA, Lagebericht v. 14.6.2021 - Ziff. 1.9 - S. 14. Dennoch fand weiterhin eine weitgehende nachrichtendienstliche Überwachung politischer Aktivitäten von im Ausland lebenden Äthiopiern statt - AA, Lagebericht v. 14.6.2021 - Ziff. 1.9 - S. 14.
70
Angesichts des derzeitigen bewaffneten Konflikts zwischen Zentralregierung und verbündeten regionalen Milizen einerseits sowie Kräften der TPLF und verbündeter Gruppierungen, wie etwa der OLA andererseits, ist jedoch wieder von einem verschärften Vorgehen gegen oppositionelle, den militärischen Widerstand gegen die Zentralregierung führende Organisationen und deren führende Mitglieder auszugehen.
71
(2) Was eine Gefährdung des Klägers aufgrund seiner Aktivitäten auf Facebook betrifft, steht der Annahme einer solchen bereits entgegen, dass der Kläger - anders als in der mündlichen Verhandlung in Aussicht gestellt - die entsprechenden Posts dem Gericht zu Nachweiszwecken nicht zur Verfügung gestellt und im Übrigen nicht einmal näher ausgeführt hat, welche Inhalte er gepostet und wem er diese zugänglich gemacht hat.
72
Bei den angeblich geposteten Inhalten handelt es sich um persönliche Umstände, bezüglich derer die formelle Darlegungs- und Beweislast grundsätzlich beim Kläger liegt (s.o.). Anders als etwa bei bestimmten Vorgängen im Herkunftsland, hinsichtlich derer den Asylsuchenden ein Nachweis im engeren Sinne häufig nicht möglich ist (s.o.), kann der Kläger einen Nachweis, z.B. durch entsprechende Screenshots, auch ohne weiteres erbringen.
73
Davon abgesehen kann mangels näherer Ausführungen über den geposteten Inhalt sowie Angaben darüber, wem die Inhalte zugänglich gemacht wurden, schon gar keine Risikoeinschätzung vorgenommen werden.
74
(3) Darüber hinaus hat bzw. hatte der Kläger weder in der UOSG noch in der OLF/OLA-Taskforce eine offizielle, geschweige denn eine führende Funktion inne. Er war lediglich einfaches Mitglied, sein Beitrag beschränkte sich laut eigener Aussage auf die vereinzelte Teilnahme an Demonstrationen sowie auf die Entrichtung eines geringfügigen Betrages als monatlichen Mitgliedsbeitrag.
75
Abgesehen davon, dass der Kläger die Zahlungen an die OLF-Taskforce dem Gericht gegenüber schon gar nicht nachgewiesen hat, ist seine Rolle jedenfalls als zu gering einzustufen, als dass davon ausgegangen werden kann, dass er sich auf dem Radar der äthiopischen Sicherheitsbehörden befindet.
76
(4) Zudem bezeichnet sich die sog. OLF/OLA-Taskforce zwar laut einer, in anderen Verfahren zu Nachweiszwecken vorgelegten Erklärung als ausländische Unterstützungsorganisation der OLA, welche wiederum Anfang Mai 2021 von der äthiopischen Regierung als terroristische Vereinigung eingestuft wurde - Bundesamt, Länderreport Nr. 33 Äthiopen v. 1.5.2021). Jedoch ist bereits äußerst fraglich ob die erst kürzlich gegründete sog. Taskforce tatsächlich Unterstützungsleistungen an die OLA erbringt oder ob der Zweck der Gruppierung nicht eher asyltaktischer Natur ist (entsprechende Nachweise für Ersteres liegen nicht vor). In jedem Fall ist angesichts der vorliegenden Erkenntnismittel über den Staat Äthiopien davon auszugehen, dass derartige geringfügige, wohl asyltaktisch motivierte Beiträge allein nicht dazu führen, in den Fokus der äthiopischen Sicherheitsbehörden zu gelangen.
77
(5) Davon abgesehen ist in Zusammenhang mit der geltend gemachten Unterstützung der OLA noch ganz allgemein Folgendes zu berücksichtigen:
78
Derzeit kommt es im Westen und Süden des Bundesstaates Oromia regelmäßig zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der Äthiopischen Armee und Kämpfern der OLA (Bundesamt, Länderreport Nr. 33 Äthiopien v. 1.5.2021, S. 22-23).
79
Die OLA wird nicht nur für Attacken gegen militärische Ziele sowie die gezielte Tötung von Amtsträgern oder Personen, die loyal zur Regional- oder Bundesregierung stehen verantwortlich gemacht (Aljazeera: Worsening violence in western Ethiopia forcing civilians to flee, 20.02.2021, https://www...com/news/2021/3/20/ worsening-violence-western-ethiopia-forcing-civilians-to-flee (Abruf 17.05.2021)), sondern auch für teils massive Übergriffe auf die Zivilbevölkerung bis hin zu gezielten ethnische Säuberungen sowie für Angriffe auf Mitarbeiter von Hilfsorganisationen, insbesondere seit große Teile der äthiopischen Sicherheitskräfte in die Region Tigray verlegt wurden.
80
Opfer der Übergriffe bzw. ethnischen Säuberungen sind vor allem Angehörige der Volksgruppe der Amharen (Amnesty International: Ethiopia: Over 50 ethnic Amhara killed in attack on village by armed group, 02.11.2020, https://www...org/en/latest/news/2020/11/ethiopia-over-50-ethnic-amhara-killed-in-attack-on-village-by-armed-group (Abruf 17.05.2021); Bundesamt, Länderreport Nr. 33 Äthiopien v. 1.5.2021, S. 22-23) sowie religiöse Minderheiten, insbesondere orthodoxe Christen (United States Department of State: 2019 Report on International Religious Freedom: Ethiopia, 11.06.2020, https://www...gov/reports/2019-report-on-international-religious-freedom/ethiopia/ (Abruf 17.05.2021)). Berichtet wird von Tötungen, Plünderungen, insbesondere dem Raub von Vieh sowie dem Niederbrennen von Kirchen und ganzen Dörfern.
81
So wurden etwa Anfang November 2020 in der Kebele Gawa Qanqa (Guliso Distrikt, West Wollega - Grenzregion zum Regionalstaat Benishangul-Gumuz) mindestens 54 Menschen getötet, das Dorf geplündert, Vieh gestohlen und Häuser in Brand gesetzt (Amnesty International: Ethiopia: Over 50 ethnic Amhara killed in attack on village by armed group, 02.11.2020, https://www…org/en/latest/news/2020/11/ethiopia-over-50-ethnic-amhara-killed-in-attack-on-village-by-armed-group(Abruf 17.05.2021)).
82
Im Dezember 2020 kam es in der Grenzregion zum Bundesstaat Amhara zu Tötungen, Plünderungen und dem Niederbrennen von Kirchen (The Economist: Ethnicviolence threatens to tear Ethiopia apart, 02.11.2019, https://www…com/middle-east-and-africa/2019/11/02/ethnic-violence-threatens-to-tear-ethiopia-apart (Abruf 17.05.2021)).
83
Vor diesem Hintergrund erklärte die äthiopische Regierung Anfang Mai 2021 die OLA zur terroristischen Vereinigung (Bundesamt, Länderreport Nr. 33 Äthiopen v. 1.5.2021).
84
Sofern die äthiopischen Sicherheitskräfte vor diesem Hintergrund gegen Kämpfer und aktive Unterstützer der OLA vorgehen, handelt es sich grundsätzlich nicht um eine gezielte Verfolgung oppositioneller oromischer Volkszugehöriger allein wegen deren politischer Überzeugung, sondern um legitime Maßnahmen zur Ahndung kriminellen Unrechts bzw. zur Abwehr allgemeiner Gefahren (BayVGH, B.v. 1.4.2021 - 3 ZB 20.32507 - Rn. 37).
85
(6) Zwar hat der Kläger angegeben, sein in Äthiopien verbliebener Vater sei wegen seiner exilpolitischen Aktivitäten inhaftiert und misshandelt worden (und später an den Spätfolgen gestorben) und auch sein Bruder habe Äthiopien deshalb verlassen müssen und damit impliziert, dies zeige, dass seine exilpolitischen Aktivitäten von den Sicherheitsbehörden nicht nur registriert, sondern auch als so nennenswert eingestuft werden, dass sie sogar - mangels Zugriff auf den sich derzeit im Ausland befindlichen Kläger - seine in Äthiopien verbliebenen Familienangehörigen in Haftung nehmen.
86
Das Gericht gesteht dem Kläger zwar zu, dass er die geltend gemachten Vorgänge nicht im strengen Sinne beweisen kann. Jedoch fehlt es vorliegend bereits völlig an einem substantiierten Sachvortrag hinsichtlich der Hintergründe, als dass der Vortrag als glaubhaft gemacht eingestuft werden kann. Zudem sind auch hier die seit Mitte 2018 geänderten Machtverhältnisse zu berücksichtigen (s.o.).
87
(7) Auch soweit der Kläger geltend macht, sein Bekannter, mit dem er laut der vorgelegten Fotographie auf zumindest einer der o.g. Versammlungen gewesen sei, sei nach seiner Rückkehr nach Äthiopien inhaftiert worden, fehlt es ebenfalls völlig an einem substantiierten Sachvortrag hinsichtlich der Hintergründe. Ohne Informationen über (politischen) Aktivitäten des Bekannten in Äthiopien vor seiner Ausreise, die Art seiner exilpolitischen Betätigung während seines Aufenthaltes in Deutschland sowie sein Verhalten nach seiner Rückkehr nach Äthiopien, kann weder beurteilt werden, ob der Vortrag hinsichtlich des Bekannten glaubhaft ist, geschweige denn dessen (im Falle einer Verhaftung realisiertes) Risikoprofil einfach eins zu eins auf den Kläger übertragen werden.
88
c. Aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Äthiopien ist zudem nicht zu entnehmen, dass aktuell jedem oromischen Volkszugehörigen in Äthiopien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine auch von ihrer Intensität her asylrechtlich relevante zielgerichtete Verfolgungsmaßnahme i.S.d. §§ 3 ff AsylG droht.
89
2. Aus den gleichen Gründen besteht auch kein Anspruch für eine Asylanerkennung gemäß Art. 16a Abs. 1 GG.
90
Die Voraussetzungen der Asylanerkennung gemäß Art. 16 a Abs. 1 Grundgesetz (GG) und der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG unterscheiden sich lediglich dadurch, dass der Schutzbereich des § 3 AsylG weiter gefasst ist. Die engeren Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter liegen somit nach Ablehnung des Flüchtlingsschutzes ebenfalls nicht vor.
91
3. Der Kläger hat über dies auch keinen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
92
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten dabei nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
93
a. Davon, dass ihm im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien infolge des geltend gemachten Vorfluchttatbestandes oder seiner angeblichen exilpolitischen Betätigung ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 oder Nr.2 AsylG (Todesstrafe / Folter / unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung) droht, hat der Kläger das Gericht, wie bereits soeben im Rahmen der §§ 3 ff AsylG dargelegt, nicht überzeugen können. Auch finden die Regelungen über den Internen Schutz nach § 3e AsylG über § 4 Abs. 3 AsylG auch im Rahmen des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG Anwendung, so dass auch insoweit auf die zur Flüchtlingseigenschaft gemachten Ausführungen verwiesen werden kann.
94
b. Auch mit Blick auf § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und den Konflikt zwischen der TPLF und der Bundesregierung im Norden des Landes im Bundesstaat Tigray sowie in Teilen der Bundesstaaten Afar und Amhara ist keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers im Falle seiner Rückkehr beachtlich wahrscheinlich. Bei einer Einreise des Klägers über den Internationalen Flughafen von Addis Abeba und einer Weiterreise von dort in seine Heimatregion im östlichen Teil des Bundesstaates Oromia wird der Kläger mit dem Kampfgebiet nicht in räumlichen Kontakt kommen.
95
4. Des Weiteren bestehen zu Gunsten des Klägers auch keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
96
Bei den nationalen Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - juris; BayVGH, U.v. 21.11.2014 - 13a B 14.30284 - juris).
97
Da das Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid allein eine Abschiebung nach Äthiopien angedroht hat, kommt es für die Feststellung von Abschiebungsverboten ausschließlich auf die Situation in Bezug auf Äthiopien an.
98
Einer Abschiebung des Klägers nach Äthiopien stehen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegend nicht entgegen.
99
Insbesondere besteht vorliegend nicht die Gefahr, dass der Kläger nicht in der Lage sein wird, nach seiner Rückkehr nach Äthiopien sein Existenzminimum zu decken - sogleich unter a. sowie b. jeweils unter (1).
100
a. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht.
101
(1) Eine Verletzung von Art. 3 EMRK (sowie von Art. 4 GRCh, der Art. 3 EMRK entspricht, vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh), kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei „nichtstaatlichen“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein „verfolgungsmächtiger Akteur“ (siehe § 3c AsylG), fehlt, wenn die humanitären Gründe mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Hygiene und Gesundheitsversorgung „zwingend“ sind (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris, Rn. 12 m.v.N.). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) aufweisen (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 - 41 738/10, Paposhvili/Belgien - NVwZ 2017, 1187 Rn. 174; EuGH, U.v. 16.2.2017 - C-578/1, C. I. u.a. - NVwZ, 691, Rn. 68). Dieses Mindestmaß kann erreicht sein, wenn der Ausländer seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 - 1 B 25.18 - juris Rn. 11).
102
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer drohenden menschenunwürdigen Verelendung setzt dabei keine „Extremgefahr“ voraus, die für die Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG notwendig ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018, 1 B 25.18 - juris Rn. 13). Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner Rechtsprechung (EuGH, Urteile v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim - JZ 2019, 999, Rn. 89 ff., und C-163/17, Jawo, InfAuslR 201 9, 236, Rn. 90 ff.) unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (U.v. 21.1 .2 0 1 1, 30696/09, M.S.S. / Belgien und Griechenland, NVwZ 2011, 413, Rn. 252 ff.) darauf ab, ob sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45/18 - juris, Rn. 12; OVG Hamburg, U.v. 18.12.2019 - 1 Bf 132/17.A - juris, Rn. 39).
103
Gemessen an diesen Grundsätzen besteht unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Äthiopien sowie den eigenen Angaben des Klägers in der Anhörung vor dem Bundesamt sowie in der mündlichen Verhandlung am 10. September 2021 nach Überzeugung des Gerichts vorliegend nicht die Gefahr, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien nicht in der Lage sein wird, nach seiner Rückkehr nach Äthiopien sein Existenzminimum zu decken.
104
Das Gericht folgt insoweit zunächst der Begründung des angefochtenen Bescheids und sieht hinsichtlich der bereits dort berücksichtigten Punkte von einer weiteren Darstellung der Gründe ab, § 77 Abs. 2 AsylG.
105
Auch bei Berücksichtigung von Umständen, die erst nach Erlass des angefochtenen Bescheids eingetreten sind, wie etwa die sich durch Heuschreckenplage, Dürrekatastrophe, Tigray-Konflikt und COVID-19-Pandemie / in diesem Zusammenhang national wie international ergriffener Pandemieschutzmaßnahmen ergebenden Auswirkungen auf die allgemeine Versorgungslage, Wirtschaft und Arbeitsmarkt in Äthiopien geht das Gericht davon aus, dass es dem Kläger weiterhin möglich sein wird, für sein Existenzminimum durch eigene Erwerbstätigkeit, gegebenenfalls mit zusätzlicher Unterstützung seiner Familie decken zu können.
106
(2) Auch ist den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Äthiopien nicht zu entnehmen, dass derzeit in der Hauptstadt Addis Abeba, über dessen Internationalen Flughafen eine Abschiebung aus der Bundesrepublik nach Äthiopien in der Regel erfolgt (siehe AA, Lagebericht v. 14. Juni 2021, S. 20 f) oder in der im östlichen Teil des Bundesstaates Oromia gelegenen Herkunftsregion des Klägers, derzeit eine Situation allgemeiner Gewalt herrscht.
107
b. Ebenso wenig besteht ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
108
Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Für die Annahme einer „konkreten Gefahr“ im Sinne der Norm genügt nicht jede bloße Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in geschützte Rechtsgüter zu werden. Vielmehr ist auch hier der asylrechtliche Prognosemaßstab der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ anzuwenden, und zwar unabhängig davon, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht.
109
(1) Liegen - wie hier - die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbotes wegen schlechter humanitärer Bedingungen nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung allein relevante extreme Gefahrenlage aus (vgl. VGH Bad.-Württ., U.v. 9.11.2017 - A 11 S 789/17 - juris Rn. 282).
110
(2) Auch in Äthiopien derzeit bestehende allgemeine Gesundheitsgefahren begründen vorliegend kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1
AufenthG zu Gunsten des Klägers. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Gefahr einer Ansteckung mit dem auch in Äthiopien grassierenden Sars-Cov-2-Virus und einer anschließenden COVID-19-Erkrankung.
111
Beruft sich ein Ausländer auf allgemeine (hier: Gesundheits) Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, wie etwa die sämtliche Menschen in Äthiopien treffende Gefahr einer Ansteckung mit dem Sars-Cov-2-Virus und einer daran anschließenden COVID-19-Erkrankung, wird Abschiebungsschutz grundsätzlich ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt.
112
Allerdings kann ein Ausländer in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch bei Fehlen einer solchen generellen Regelung ausnahmsweise dann individuellen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund der im Zielstaat herrschenden allgemeinen Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn in diesem Fall gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V. m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassungs wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren.
113
Zwar besteht auch für den Kläger im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien, wie für jeden anderen Menschen in Äthiopien auch, die Gefahr, sich dort mit SARS-CoV-2 anzustecken und infolge dessen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden. Jedoch ist die Gefahr hinsichtlich des Klägers nicht derart extrem, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien „sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgesetzt würde (vgl. zu diesem Maßstab: BVerwG, U.v. 17.10.2006 - 1 C 18/05 -, juris Rn. 16) und deshalb aus verfassungsrechtlichen Gründen die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG entfällt.
114
So kann eine COVID-19-Erkrankung zwar bei schwerem Verlauf zum Tod führen oder zumindest schwere, dauerhafte bzw. lange andauernde gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen. Auch hängt der Grad der Gefahr, im Falle eines schweren Verlaufes zu sterben, neben individuellen Faktoren wie etwa der gesundheitlichen Disposition des Erkrankten sowie der bei Ansteckung ausgesetzten Virusmenge u.a. auch von allgemeinen Umständen wie Qualität und Kapazitäten der vor Ort vorhandenen medizinischen Behandlung (Personal / Intensivbetten / Sauerstoff etc.) sowie den vor Ort ergriffenen Infektionsschutzmaßnahmen ab. Jedoch ist der Kläger jung, gesund und ohne Vorerkrankungen und weist auch im Übrigen keinen Risikofaktor für einen schweren Verlauf im Falle einer Infektion auf.
115
(3) Individuelle gesundheitliche Gründe in der Person des Klägers, die einer Abschiebung nach Äthiopien entgegenstehen könnten, sind weder vorgetragen worden noch anderweitig ersichtlich.
116
5. Auch die verfügte Abschiebungsandrohung sowie die vorgenommene Befristung des Einreiseund Aufenthaltsverbotes begegnen keinerlei rechtlichen Bedenken.
117
Klarzustellen ist hierbei, dass die nach § 11 Abs. 1 AufenthG a. F. getroffene Entscheidung über die Befristung eines gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes unter Geltung des am 21.08.2019 in Kraft getretenen § 11 AufenthG in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.08.2019 (BGBl I, Satz 1294) als behördliche Anordnung eines solchen Verbots auszulegen ist (vgl. zur zuvor erfolgten Auslegung in Übereinstimmung mit der RL 2008/115/EG - Rückführungsrichtlinie - BVerwG, Beschluss v. 13.07.2017 - 1 VR 3/17, juris).
118
Auch ist weder vorgetragen noch ersichtlich, dass das Bundesamt insoweit nicht (mehr) i. S. d. § 114 Satz 1 VwGO pflichtgemäß von dem ihm nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eröffneten Ermessen bezüglich der Länge der Frist Gebrauch gemacht hätte.
119
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
120
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.