Titel:
Nachbarklage gegen Vorbescheid zur Aufstockung eines Wohn- und Geschäftshauses
Normenketten:
BayBO Art. 6
BayBO 1969 Art. 7 Abs. 1
Leitsätze:
1. Dritte können sich gegen einen Vorbescheid nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn der angefochtene Vorbescheid rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind, sodass es für den Erfolg eines Nachbarrechtsbehelfs daher nicht genügt, wenn der Vorbescheid gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht – auch nicht teilweise – dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind; dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren auch keine umfassende Rechtskontrolle statt, vielmehr hat sich die gerichtliche Prüfung darauf zu beschränken, ob durch den Vorbescheid drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch vermitteln, verletzt werden. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Abstandsfläche bedarf als Ausgangspunkt stets einer Außenwand. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
3. Bebauungspläne, die vor dem Inkrafttreten der BayBauO 1982 erlassen wurden und keine abweichenden Abstandsflächenregelungen treffen, lassen die Abstandsflächenvorschriften der Bauordnung unberührt, was bedeutet, dass für Bauvorhaben grundsätzlich die Abstandsflächenvorschriften in der nunmehr geltenden Fassung der Bauordnung anzuwenden sind, auch wenn diese Bebauungspläne noch auf der Grundlage der früheren Abstandsflächenregelungen aufgestellt wurden und das Änderungsgesetz 1982 ein neues Abstandsflächensystem eingeführt hat. (Rn. 35-36) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Abstandsflächenverstoß, Satzungsregel nach Art. 7 Abs. 1 BayBO 1969, Bebauungsplan Nr. ..., Nachbarklage, drittschützende Vorschriften, Vorbescheid, Aufstockung, Bebauungsplan, Abstandsfläche, Abstandsflächenregelungen, Außenwand
Fundstelle:
BeckRS 2021, 44990
Tenor
I. Der Vorbescheid vom 24.1.2020 nach PlanNr. … wird hinsichtlich der Beantwortung der Frage 1.1 zum Bauordnungsrecht aufgehoben.
II. Die Beklagte und die Beigeladene haben die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerin wendet sich gegen einen der Beigeladenen erteilten Vorbescheid zur Aufstockung eines Wohn- und Geschäftshauses um drei Stockwerke auf dem Grundstück …-Str. 65, Fl.Nr. …, Gem. … (im Folgenden: Vorhabengrundstück). Das Anwesen ist gegenwärtig mit einem siebengeschossigen Wohn- und Geschäftsgebäude bebaut.
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Die Klägerin ist u.a. Eigentümerin der Fl.Nrn. … und …, jeweils Gem. … …, welche dem Vorhabengrundstück im Osten gegenüberliegen (im Folgenden: Nachbargrundstücke). Die Nachbargrundstücke sind mit zwei- und dreigeschossigen Gebäuden, welche zu Wohnzwecken und für eine Gaststätte genutzt werden, bebaut und Teil der sog. „…siedlung“. Zwischen Vorhabengrundstück und den Nachbargrundstücken verläuft die in diesem Bereich ca. 10,5 m breite … straße.
3
Das Vorhabengrundstück liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplans Nr. … der Beklagten - …platz (südlich), … straße (östlich) - vom 31. März 1971 (im Folgenden: Bebauungsplan). Der Umgriff des Bebauungsplans liegt südöstlich des …platzes. Die überplanten Grundstücke wurden zwischenzeitlich neu geordnet. Der Bebauungsplan setzt für das Vorhabengrundstück u.a. zehn Vollgeschosse als Höchstgrenze und einen Bauraum durch die Ausweisung von Baugrenzen fest. Überdies enthält der Bebauungsplan mehrere Darstellungen der „vorgeschlagenen Form der Baukörper“. Innerhalb des maßgeblichen Bauraums, der sich (zwischenzeitlich) über mehrere Grundstücke erstreckt, liegen drei „vorgeschlagene Baukörper“, welche „sternförmig“ um eine platzartige Freifläche herum angeordnet sind. § 7 des Bebauungsplans bestimmt: „Soweit sich im Bereich des an den …platz angrenzenden Bauraumes bei Verwirklichung der im Bebauungsplan vorgeschlagenen Form der Baukörper und der vorgeschlagenen Geschosszahlen Abstandsflächen ergeben, die geringer sind als die nach Art. 6 Bayerische Bauordnung vorgeschriebenen, werden die geringeren Abstandsflächen festgesetzt.“
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Am 13. November 2018 beantragte die Beigeladene die Erteilung eines Vorbescheids nach PlanNr. … Dabei wurde die Aufstockung des Bestandsgebäudes um drei Geschosse auf zehn Geschosse abgefragt (Abbruch des obersten Bestandsgeschosses und Neuerrichtung von vier Geschossen). Laut den dem Vorbescheidsantrag beigefügten Plänen erstreckt sich die nach Art. 6 Bayerische Bauordnung erforderliche Abstandsfläche über die Mitte der … straße hinaus bis auf die Nachbargrundstücke. Der Vorbescheid enthielt neben weiteren Fragen unter den Überschriften „Bauordnungsrecht“ und „Abstandsflächen“ folgende Frage (1.1):
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Ist die beantragte Erhöhung abstandsflächenrechtlich zulässig?
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Am 24. Januar 2020 erteilte die Beklagte der Beigeladene den streitgegenständlichen Vorbescheid. Die Frage 1.1 zum Bauordnungsrecht wurde positiv beantwortet. Die Aufstockung sei abstandsflächenrechtlich zulässig. Es sei § 7 des Bebauungsplans anzuwenden, wonach im Bereich des an den …platz angrenzenden Bauraumes verkürzte Abstandsflächen festgesetzt seien, wenn der Bauraum und die vorgeschlagene Baukörperform eingehalten würden.
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Mit Schriftsatz vom 11. Februar 2020, bei Gericht eingegangen am 13. Februar 2020, ließ die Klägerin durch ihre Bevollmächtigten Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben. Sie beantragt,
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Der mit Bescheid der … … vom 24.01.2020 erteilte Vorbescheid, Az. …, wird insoweit aufgehoben, als die zum Bauordnungsrecht gestellte Frage Ziff. 1.1 zu den Abstandsflächen positiv beantwortet worden ist.
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Zur Begründung ihrer Klage führte die Klägerin im Wesentlichen aus, dass § 7 des Bebauungsplans unbestimmt sei. Es sei nicht zu erkennen, für welchen Bereich die Festsetzung gelten solle, da der „…platz“ im Bebauungsplan nicht bezeichnet sei. Ferner sei es bei der Festsetzung abweichender Abstandsflächen notwendig, die Tiefe und Breite der Abstandsflächen ebenso abstrakt wie die Bauordnung festzulegen. Die Belange der Nachbarn seien nicht berücksichtigt worden, dies führe zu einem beachtlichen Fehler im Abwägungsergebnis. Überdies sei gegen die bei Erlass des Bebauungsplans geltenden Begründungs-, Bekanntmachungs- und Auslegungspflichten verstoßen worden. § 7 des Bebauungsplans beziehe sich ferner, selbst wenn er gültig wäre, nur auf eine Abweichung von Art. 6 Abs. 4 BayBO 1969 [Abstandsflächen auf demselben Grundstück zwischen gegenüberliegenden Gebäuden], dies gehe aus den Verfahrensakten zum Bebauungsplan hervor.
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Dem trat die Beklagte entgegen. Sie beantragt,
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§ 7 der Satzung sei bestimmt, da die vorgeschlagenen Baukörper in der Planzeichnung vermaßt seien und mit einer bestimmten Geschossigkeit festgesetzt wurden. Anhaltspunkte dafür, dass sich die Festsetzung nur auf die Abstandsflächen zwischen den Gebäuden innerhalb des Bauraumes beziehen solle, gebe der Wortlaut der Bestimmung nicht her. Die Abwägungsentscheidung sei nach Ermittlung der relevanten Belange getroffen worden, eine unzumutbare Beeinträchtigung hinsichtlich Belichtung, Belüftung und Besonnung liege nicht vor.
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Die Beigeladene beantragt ebenfalls,
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Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass § 7 der Satzung hinsichtlich seines räumlichen und sachlichen Geltungsbereichs bestimmbar sei und auch die Nachbargrundstücke erfasse. Die Anforderungen an die Bestimmtheit der von der Bayerischen Bauordnung abweichend festgesetzten Abstandsflächen dürften nicht überzogen werden. Hinsichtlich der formellen Anforderungen sei zwischenzeitlich Heilung eingetreten. Die Abwägung sei fehlerfrei erfolgt, die gerügten Mängel beträfen lediglich den Abwägungsvorgang und nicht das Abwägungsergebnis.
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Das Gericht hat am 13. Dezember 2021 eine mündliche Verhandlung durchgeführt, auf deren Protokoll Bezug genommen wird.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte und die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist begründet. Die Klägerin wird durch den streitgegenständlichen Vorbescheid hinsichtlich der positiven Beantwortung von Frage 1.1 zum Bauordnungsrecht - Abstandsflächen - in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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1. Nach Art. 71 Satz 1 BayBO kann vor Einreichung eines Bauantrags auf schriftlichen Antrag des Bauherrn zu einzelnen in der Baugenehmigung zu entscheidenden Fragen vorweg ein schriftlicher Bescheid (Vorbescheid) erlassen werden. Als feststellender Verwaltungsakt stellt der Vorbescheid im Rahmen der vom Bauherrn gestellten Fragen die Vereinbarkeit des Vorhabens mit den öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die Gegenstand der Prüfung sind, fest und entfaltet während seiner regelmäßigen Geltungsdauer von drei Jahren (Art. 71 Satz 2 BayBO) Bindungswirkung für ein nachfolgendes Baugenehmigungsverfahren.
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Dritte können sich gegen einen Vorbescheid nur dann mit Aussicht auf Erfolg zur Wehr setzen, wenn der angefochtene Vorbescheid rechtswidrig ist und diese Rechtswidrigkeit zumindest auch auf der Verletzung von im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden Normen beruht, die gerade dem Schutz des betreffenden Nachbarn zu dienen bestimmt sind (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2009 - 14 CS 08.3017 - juris Rn. 20, 22). Für den Erfolg eines Nachbarrechtsbehelfs genügt es daher nicht, wenn der Vorbescheid gegen Rechtsvorschriften des öffentlichen Rechts verstößt, die nicht - auch nicht teilweise - dem Schutz der Eigentümer benachbarter Grundstücke zu dienen bestimmt sind. Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren auch keine umfassende Rechtskontrolle statt, vielmehr hat sich die gerichtliche Prüfung darauf zu beschränken, ob durch den Vorbescheid drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch vermitteln, verletzt werden.
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2. Das Vorhaben verstößt gegen Art. 6 Abs. 2 Sätze 1 - 3 BayBO, wonach Abstandsflächen auf dem (Bau-)Grundstück selbst liegen müssen bzw. sich bis zur Mitte von (an das Baugrundstück angrenzenden) öffentlichen Verkehrsflächen (oder auf andere Grundstücke, wenn rechtlich oder tatsächlich gesichert ist, dass sie nicht überbaut werden) erstrecken dürfen. Die nach Art. 6 BayBO erforderlichen Abstandsflächen des Vorhabens kommen laut den zur Genehmigung gestellten Plänen auch auf den Nachbargrundstücken zu liegen (vgl. den genehmigten Abstandsflächenplan Nr. …*).
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Eine Verkürzung der Abstandsfläche vor der gegliederten Ostwand des Baukörpers gemäß § 7 des Bebauungsplans kommt nicht in Betracht. Diese Festsetzung ist unwirksam. Sie ist nicht von der Ermächtigungsgrundlage Art. 7 BayBO 1969 i.V.m. Art. 107 BayBO 1969 gedeckt.
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2.1. Nach Art. 7 Abs. 1 BayBO 1969 konnte in Bebauungsplänen nach Art. 107 Abs. 4 BayBO 1969 von Art. 6 Abs. 3 und 4 BayBO 1969 abgewichen werden.
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Nach Art. 6 Abs. 3 BayBO 1969 mussten die Abstandsflächen vor Wänden mindestens so tief sein wie die halbe Wandhöhe, bei Gebäuden mit einem Vollgeschoß jedoch mindestens 3 m, mit zwei und mehr Vollgeschossen mindestens 4 m. Sie mussten so breit wie die Gebäudewand sein. Um Aufenthaltsräume ausreichend zu belichten, mussten vor notwendigen Fenstern die Abstandsflächen mindestens so tief sein wie die Wandhöhe, bei Gebäuden mit einem Vollgeschoß jedoch mindestens 7 m, mit zwei Vollgeschossen mindestens 8 m, mit drei und mehr Vollgeschossen mindestens 9 m. Ausnahmen galten für Küchen. Die erforderliche Abstandsflächenbreite und -tiefe ergab sich mithin in Abhängigkeit zur jeweiligen Wandhöhe und -breite, wobei zusätzlich Mindestmaße nicht unterschritten werden durften.
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Voraussetzung für die Zulassung der Abweichung durch Bebauungsplan war insbesondere, dass ein ausreichender Brandschutz und eine ausreichende Belichtung und Lüftung gewährleistet waren. Ferner war vor notwendigen Fenstern (auch anderer Gebäude) ein Lichteinfallswinkel von höchstens 45° zur Waagerechten einzuhalten; die Waagerechte war in Höhe der Fensterbrüstung zu legen. Die Flächen für notwendige Nebenanlagen, insbesondere für Kinderspielplätze, Garagen und Stellplätze durften überdies nicht eingeschränkt werden, Art. 7 Abs. 1 Sätze 2-4 BayBO 1969. Für die Festsetzung geringerer Abstandsflächen waren ferner grundsätzlich besondere örtliche, planerische oder bauliche Verhältnisse erforderlich (vgl. BayVGH, B.v. 20.11.1986 - 2 CS 86.02888 - BayVBl. 1987, S. 337; U.v. 7.2.1994 - 2 B 89.1918 - BayVBl. 1994, 307; B.v. 27.10.1994 - 26 N 93.3634 - BeckRS 1994, 17343; VG München, B.v. 2.12.2021 - M 8 SN 21.5095 - juris Rn. 31 ff.; Hahn in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: 143. EL Juli 2021, Art. 6 Rn. 289; offen gelassen: BayVGH, B.v. 28.5.1993 - 1 N 91.1577 - BeckRS 1993, 124197).
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Eine abweichende Festlegung von Abstandsflächen im Bebauungsplan musste überdies ausdrücklich, klar und eindeutig zum Ausdruck kommen. Sie musste ersehen lassen, dass und in welchem Umfang die Abstandsflächen erweitert oder verringert wurden (vgl. BayVGH, B.v. 20.11.1986 - 2 CS 86.02888 - BayVBl. 1987, S. 337; U.v. 24.10.1989 - 2 B 87. 03944 - Urteilsumdruck S. 10, n.v.; U.v. 7.2.1994 - 2 B 89.1918 - BayVBl. 1994, 307; B.v. 27.10.1994 - 26 N 93.3634 - BeckRS 1994, 17343; B.v. 8.5.2019 - 15 NE 19.551, 15 NE 19.579 - juris Rn. 24; VG München, B.v. 2.12.2021 - M 8 SN 21.5095 - juris Rn. 32 ff.). Aus den Festsetzungen mussten sich also jeweils bestimmte Abstandsflächentiefen ablesen lassen. Das „andere Maß“ musste konkret festgesetzt werden, es genügte nicht, wenn es sich mittelbar aus anderen Regelungen ergab (vgl. BayVGH, B.v. 27.7.1983 - 15 CS 83 A. 1485 - BayVBl. 1983, 760; U.v. 5.11.2001 - 1 N 98.3742 - juris Rn. 38; Schwarzer/König, Bayerische Bauordnung, 3. Auflage 2000, Art. 7 Rn. 2; Molodovsky/Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, Stand: April 2001, Art. 7 Rn. 3.3.2.3; anders jedoch BayVGH, U.v. 27.10.1994 - 26 N 93.3634 - BeckRS 1994, 17343, der in einem Einzelfall die mittelbare Bestimmbarkeit der Abstandsflächentiefe in Anlehnung an die neue, ab 1994 geltende Rechtslage ausreichen ließ).
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Eine generelle, nicht vermaßte Verkürzung der Abstandsflächen für sämtliche Gebäude war unzulässig. Die allgemeine Festsetzung von Abstandsflächen, die sich bei Ausnutzung der Bebauungsplanfestsetzungen über das Maß der baulichen Nutzung ergaben, reichte nicht aus (BayVGH, B.v. 20.11.1986 - 2 CS 86.02888 - BayVBl. 1987, S. 337; Molodovsky/Famers/Waldmann, Bayerische Bauordnung, Stand: Juli 2021, Art. 6 Rn. 9.6.2; Hahn in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: 143. EL Juli 2021, Art. 6 Rn. 289).
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Art. 7 Abs. 1 BayBO 1969 ermächtigte die Gemeinden ferner zwar zur Abweichung von Art. 6 Abs. 3 und 4 BayBO 1969, jedoch nicht zu einer Regelung, bei der die Abstandsflächentiefe nicht, wie in Art. 6 Abs. 3 und 4 BayBO 1969 vorgeschrieben, unmittelbar in Relation zur Wandhöhe und ergänzend durch absolute Mindestmaße bestimmt wird, sondern nur mittelbar, nämlich über den Gebäudeabstand und die Gebäudehöhe, die sich aus den bauplanungsrechtlichen Festsetzungen ergeben. Eine solche Regelung bleibt nicht in dem System des Art. 6 Abs. 3 und 4 BayBO 1969. Sie kann deshalb nicht als eine Abweichung von Art. 6 Abs. 3 und 4 BayBO 1969, zu der allein Art. 7 Abs. 1 BayBO 1969 ermächtigte, angesehen werden (vgl. BayVGH, U.v. 5.11.2001 - 1 N 98.3742 - BeckRS 2001, 28519 zu den den streitgegenständlichen Regelungen im Wesentlichen entsprechenden Vorgängerregelungen Art. 6 und 7 BayBO 1962).
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2.2. § 7 des Bebauungsplans wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Durch die Regelung wird keine im obigen Sinne bestimmte oder bestimmbare abweichende Abstandsfläche getroffen, welche im System des Art. 6 Abs. 3 BayBO 1969 bleibt.
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§ 7 der Satzung bestimmt, dass soweit sich im Bereich des an den …platz angrenzenden Bauraumes bei Verwirklichung der im Bebauungsplan vorgeschlagenen Form der Baukörper und der vorgeschlagenen Geschosszahlen Abstandsflächen ergeben, die geringer sind als die nach Art. 6 Bayerische Bauordnung vorgeschriebenen, die geringeren Abstandsflächen festgesetzt werden.
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Im hier maßgeblichen Bereich werden 10 Vollgeschosse als Höchstgrenze festgesetzt, jedoch keine Trauf- oder Wandhöhe. Unklar bleibt hinsichtlich § 7 der Satzung, ob mit der dort genannten „vorgeschlagenen Geschosszahl“ als Anknüpfungspunkt an die verringerten Abstandsflächen jede Geschosszahl gemeint sein soll, die sich im festgesetzten Rahmen hält (ein bis zehn Geschosse) oder ob die Abweichung nur für die als Höchstgrenze festgesetzte Zahl der Vollgeschosse greifen soll. Überdies kann aus der „vorgeschlagenen Geschosszahl“ die Tiefe der Abstandsfläche nicht abgeleitet werden, da die Zahl der Vollgeschosse hinsichtlich der zulässigen Wandhöhe - anders als etwa die Traufhöhe - keinen Aufschluss gibt.
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Eine Abstandsfläche bedarf als Ausgangspunkt zudem stets einer Außenwand. § 7 des Bebauungsplans verweist auf „den Baukörper in der vorgeschlagenen Form“. In der Legende („Zeichenerklärung“) findet sich unter B) „Hinweise“ das entsprechende Zeichen „vorgeschlagenen Form der Baukörper“ (rosa kolorierte Fläche). Damit wird aber mit der „vorgeschlagenen Form der Baukörper“ schon keine Außenwand (mit den Mitteln des Bauplanungsrechts) als Ausgangspunkt der Abstandsfläche definiert, da es sich bei der „vorgeschlagenen Form der Baukörper“ ausschließlich um einen Hinweis ohne bindenden Charakter und keine verbindliche bauplanungsrechtliche Festsetzung handelt. Insoweit ist es auch unerheblich, dass die „vorgeschlagenen Baukörper“ nach Ansicht der Beklagten vermaßt sein sollen. Nur am Rande ist daher darauf hinzuweisen, dass die „Maße“ der „vorgeschlagenen Form der Baukörper“ dem Bebauungsplan allenfalls (aufgrund der Strichstärken nicht hinreichend genau) durch Abmessen entnommen werden können, eine Vermaßung findet sich gerade nicht.
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Aus den ausgewiesenen überbaubaren Flächen (Bauraum), der „vorgeschlagenen Zahl der Vollgeschosse“ und dem unverbindlichen Hinweis der „vorgeschlagenen Form der Baukörper“ lässt sich keine bestimmbare Tiefe für die erforderliche Abstandsfläche ableiten. Im Ergebnis lässt die Satzung unabhängig von der jeweiligen Wandhöhe alle Vorhaben zu, soweit diese im Bauraum „der vorgeschlagenen Form der Baukörper“ und einer „vorgeschlagenen Geschosszahl“ entsprechen. Damit wird jedoch keine vom Regelungssystem des Art. 6 BayBO abweichende bestimmte Abstandsfläche im obigen Sinne gesetzt, vielmehr wird das Abstandsflächenrecht dadurch ausgehebelt bzw. suspendiert (vgl. hierzu auch: BayVGH, B.v. 20.11.1986 - 2 CS 86. 02888 - BayVBl. 1987, S. 337 ff.).
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Da die Vorschrift aufgrund dessen keinen Bestand haben kann, kann offenbleiben, ob sie überdies hinsichtlich der Bezeichnung „im Bereich des an den …platz angrenzenden Bauraumes“ hinreichend bestimmt ist.
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2.3. Bebauungspläne, die - wie der streitgegenständliche Bebauungsplan - vor dem Inkrafttreten der BayBO 1982 erlassen wurden und keine abweichenden Abstandsflächenregelungen treffen, lassen die Abstandsflächenvorschriften der Bauordnung unberührt (Hahn in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: September 2021, Art. 6 Rn. 291). Dies gilt auch, wenn - wie hier - die getroffenen abweichenden Abstandsflächenregelungen unwirksam sind.
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Das bedeutet, dass für Bauvorhaben grundsätzlich die Abstandsflächenvorschriften in der nunmehr geltenden Fassung anzuwenden sind, obwohl diese Bebauungspläne noch auf der Grundlage der früheren Abstandsflächenregelungen aufgestellt wurden und das Änderungsgesetz 1982 ein neues Abstandsflächensystem eingeführt hat (Hahn in: Busse/Kraus, Bayerische Bauordnung, Stand: September 2021, Art. 6 Rn. 291).
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3. Auch auf die weiteren von den Beteiligten aufgeworfenen Fragestellungen kommt es mithin mangels Entscheidungserheblichkeit nicht mehr an. Dies gilt insbesondere auch dafür, ob § 7 des Bebauungsplans ausschließlich von den Abstandsflächen nach Art. 6 Abs. 4 BayBO 1969 (Abstandsflächen auf demselben Grundstück zwischen gegenüberliegenden Gebäuden) suspendieren wollte und die Nachbargrundstücke unberührt bleiben sollten. Nur am Rande sei daher angemerkt, dass die der Vorschrift zugrundeliegenden Verfahrensvorgänge auf eben diese Absicht der Plangeberin schließen lassen.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Es entspricht der Billigkeit, der Beigeladenen die Kosten hälftig aufzuerlegen. Diese hat einen Sachantrag gestellt und sich dadurch einem Kostenrisiko ausgesetzt, § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO.
40
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.