Inhalt

VG München, Urteil v. 16.09.2021 – M 10 K 19.5956
Titel:

Feststellung des Verlusts des Rechts des EU-Bürgers auf Einreise und Aufenthalt

Normenkette:
FreizügG/EU § 2 Abs. 1, § 6 Abs. 1
Leitsatz:
Bei einem EU-Bürger, der innerhalb von drei Jahren mit hoher Rückfallgeschwindigkeit eine Vielzahl an Straftaten begangen und sich auch durch verschiedene Inhaftierungen nicht von der Begehung weiterer Straftaten hat abhalten lassen, besteht prognostisch eine Wiederholungsgefahr für die Begehung weiterer Vermögensdelikte und damit in Zusammenhang stehender Körperverletzungsdelikte, die die Feststellung des Verlusts des Rechts des EU-Bürgers auf Einreise und Aufenthalt gem. § 6 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU rechtfertigen. (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verlustfeststellung, Wiederholungsgefahr, Keine persönlichen Bindungen im Bundesgebiet, Rückfallgeschwindigkeit, Alkoholkonsum
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 27.04.2022 – 10 ZB 22.440
Fundstelle:
BeckRS 2021, 44977

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
2
Der Kläger wurde am …  1974 geboren, ist polnischer Staatsangehöriger und reiste 2018 in die Bundesrepublik ein.
3
Er besuchte in Polen acht Jahre lang die Schule. Anschließend absolvierte er eine technische Ausbildung und war in der Folge als Automechaniker, Maurer und Schlosser tätig. In der Bundesrepublik Deutschland hatte er mehrere Arbeitsstellen, einer meldepflichtigen Tätigkeit ist er nicht nachgegangen und lebte in mehreren Obdachlosenunterkünften. In Polen lebte der Kläger in Scheidung. Er hat dort eine erwachsene Tochter. In der Bundesrepublik Deutschland hat er keine Verwandten.
4
Mit Urteil des Amtsgerichts Tiergarten vom 17. September 2018 wurde der Kläger wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe in Höhe von 100 Tagessätzen zu jeweils 15 EUR verurteilt.
5
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 26. November 2018 wurde der Kläger wegen Erschleichens von Leistungen zu einer Geldstrafe in Höhe von 15 Tagessätzen zu jeweils 20 EUR verurteilt.
6
Mit Urteil des Amtsgerichts Würzburg vom 29. November 2018 wurde der Kläger wegen Erschleichens von Leistungen zu einer Geldstrafe in Höhe von 20 Tagessätzen zu jeweils 40 EUR verurteilt.
7
Mit Urteil des Amtsgerichts Köln vom 4. Dezember 2018 wurde der Kläger wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen zu jeweils 3 EUR verurteilt.
8
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 23. Januar 2019 wurde der Kläger wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe in Höhe von 50 Tagessätzen zu jeweils 5 EUR verurteilt.
9
Mit Urteil des Amtsgerichts Ulm vom 5. Februar 2019 wurde der Kläger wegen Erschleichens von Leistungen zu einer Geldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen zu jeweils 5 EUR verurteilt.
10
Mit Urteil des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 17. April 2019 wurde der Kläger wegen Erschleichens von Leistungen zu einer Geldstrafe in Höhe von 50 Tagessätzen zu jeweils 5 EUR verurteilt.
11
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 23. April 2019 wurde der Kläger wegen Diebstahls in zwei Fällen in Tatmehrheit mit Erschleichen von Leistungen zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung ausgesetzt wurde. Später wurde die Bewährungsentscheidung widerrufen. Der Verurteilung lag unter anderem zugrunde, dass der Kläger am 23. März 2019 eine Flasche Champagner im Wert von 9,90 EUR sowie 15 Flakons Parfum im Gesamtwert von 337,75 EUR entwendete.
12
Mit Urteil des Amtsgerichts Rosenheim von 5. Juni 2019 wurde der Kläger wegen Erschleichens von Leistungen zu einer Geldstrafe in Höhe von 120 Tagessätzen zu jeweils 5 EUR verurteilt.
13
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 5. Juli 2019 wurde der Kläger wegen Diebstahls in Tateinheit mit Hausfriedensbruch zu einer Freiheitsstrafe von 5 Monaten verurteilt. Der Verurteilung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Am 30. April 2019 entwendete der Kläger sechs Parfums im Gesamtwert von 169,70 EUR. Bei Tatbegehung hielt er sich im Zwischengeschoss des Hauptbahnhofs in München auf, obwohl ihm, wie er wusste, das Betreten der Räumlichkeiten durch ein Hausverbot untersagt war. Nach den Feststellungen des Strafurteils war der Kläger bei der Tatbegehung nicht unerheblich alkoholisiert und in seiner Schuldfähigkeit eingeschränkt.
14
Unter anderem wegen dieser Tat befand sich der Kläger von 30. April 2019 bis 12. Dezember 2019 in Haft.
15
Mit Schreiben vom 2. September 2019 hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Verlustfeststellung an.
16
Mit Schreiben vom 5. September 2019 äußerte der Kläger, nach Haftentlassung einen Arbeitsplatz finden und einen Deutschkurs besuchen zu wollen.
17
Mit Bescheid vom 4. November 2019, dem Kläger ausgehändigt am 5. November 2019, stellte die Beklagte fest, dass der Kläger sein Recht auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet verloren habe (Nr. 1), ordnete gegen den Kläger ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an und befristete dieses auf die Dauer von vier Jahren (Nr. 2). Nach erfülltem Strafanspruch des Staates und Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht werde der Kläger aus der Haft abgeschoben. Sollte er aus der Haft entlassen werden, bevor die Abschiebung durchgeführt werden könne, sei der Kläger verpflichtet, das Bundesgebiet bis spätestens vier Wochen nach Haftentlassung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise werde der Kläger nach Polen abgeschoben (Nr. 3).
18
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass im Fall des Klägers nach § 6 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU) der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt festzustellen sei. Der Kläger habe die Tat (vom 30. April 2019) unter offener und einschlägiger Bewährung und nur etwa eine Woche nach Verurteilung zu der Bewährungsstrafe begangen. Die Rückfallgeschwindigkeit sei mithin extrem hoch. Im Rahmen der Gefahrenprognose nach § 6 Abs. 2 FreizügG/EU müsse davon ausgegangen werden, dass der Kläger auch künftig im Bundesgebiet straffällig werden würde. Er sei offensichtlich nur deshalb in das Bundesgebiet eingereist, um hier Diebstähle zu begehen. Diebstähle in der Art, wie sie durch den Kläger begangen worden seien, erforderten ein hohes Maß an krimineller Energie. Sein Verhalten, das von Professionalität und Erfahrungswerten geprägt sei, mache deutlich, dass sich der Kläger für die Erlangung persönlicher Vorteile bedenkenlos über die deutsche Rechtsordnung hinwegsetze. Es sei nicht davon auszugehen, dass die bisherigen Verurteilungen den Kläger davon abschrecken würden, erneut Straftaten im Bundesgebiet zu begehen. Im Rahmen der Interessenabwägung nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sei festzustellen, dass der Kläger nicht nachweislich über gesicherte Arbeits- und Wohnverhältnisse verfüge. Es könne davon ausgegangen werden, dass der Kläger auch zukünftig nicht fähig sein werde, einer Erwerbstätigkeit nachzukommen. Von einer sozialen und/oder wirtschaftlichen Integration in der Bundesrepublik Deutschland könne vor dem Hintergrund der rechtskräftigen Verurteilungen und des klägerischen Verhaltens nicht ausgegangen werden. Einer sozialen Integration stünden auch die Inhaftierungszeiten entgegen. Familiäre oder sonstige soziale Bindungen im Bundesgebiet seien nach Aktenlage nicht ersichtlich und seien auch nicht geltend gemacht worden. Gründe, die den Kläger an einer Rückkehr in das Heimatland Polen hindern würden, lägen somit nicht vor. Wegen des hohen Ranges des Individualrechtsgutes Eigentum müsse bei Straftaten, die gegen dieses gerichtet seien, die rechtlichen Möglichkeiten der Gefahrenabwehr ausgeschöpft und die bei dem Kläger bestehende Wiederholungsgefahr von der Allgemeinheit abgewendet werden. Im Übrigen wird auf die Begründung Bezug genommen.
19
Mit Schreiben vom 27. November 2019, eingegangen am 29. November 2019 hat der Kläger Klage gegen den Bescheid erhoben. Er führte aus, keinen Kontakt mit seiner Familie zu haben. Er sei geschieden und seine Tochter habe kein Interesse an ihm. Er sei nach Deutschland gekommen und habe Arbeit gesucht, aber falsche Leute getroffen. Er wisse, dass er Fehler gemacht habe und deshalb abgeschoben werden solle. Er wolle darum bitten, ihm noch eine letzte Chance zu geben. Er werde sein Bestes geben, um in Zukunft nicht straffällig zu werden.
20
Mit Schriftsatz vom 17. Dezember 2019 beantragt die Beklagte:
21
Die Klage wird abgewiesen.
22
Zur Begründung verwies sie auf den angefochtenen Bescheid und die vorgelegte Behördenakte.
23
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 3. März 2020 wurde der Kläger wegen Diebstahls in Tatmehrheit mit versuchter Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Der Verurteilung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Am 14. Dezember 2019 entwendete der Kläger in den Geschäftsräumen der Firma „… …“ am …platz in … zwei Parfums im Gesamtwert von 29,98 EUR. Nachdem zwei Ladendetektive den Kläger in das Detektivbüro verbracht und die gestohlene Ware gesichert hatten, wurde der Kläger ihnen gegenüber verbal aggressiv und holte schließlich zu einem Faustschlag gegen einen der Detektive aus. Dieser konnte den Schlag jedoch abwehren und wurde nicht getroffen. Laut der Urteilsbegründung habe nicht ausgeschlossen werden können, dass der Kläger aufgrund seiner Alkoholisierung bei der Begehung der Tat in seiner Einsichts- und Steuerungsfähigkeit vermindert gewesen sei. Während der Verhandlung habe der Kläger angegeben, nur noch lückenhaft Erinnerungen an den Vorfall zu haben, da er erheblich alkoholisiert gewesen sei. Auch in der Vergangenheit habe er nach eigenen Angaben bereits Diebstahlstaten begangen, um sich seinen regelmäßigen Alkoholkonsum finanzieren zu können. Eine Strafaussetzung zur Bewährung sei nicht in Frage gekommen. Eine positive Sozialprognose könne nicht gestellt werden. Die streitgegenständlichen Taten seien nur zwei Tage nach der letzten Haftentlassung begangen worden.
24
Unter anderem aufgrund der Tat vom 14. Dezember 2019 befand sich der Kläger vom 14. Dezember 2019 bis 22. März 2021 in Haft.
25
Mit rechtskräftigem Strafbefehl des Amtsgerichts München vom 20. Mai 2021 wurde der Kläger wegen Erschleichens von Leistungen zu einer Geldstrafe in Höhe von 30 Tagessätzen zu je 15 EUR verurteilt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Kläger am 4. April 2021 mit einem Zug der Deutschen Bahn gefahren war, ohne den Fahrpreis in Höhe von 36,40 EUR zu entrichten.
26
Mit im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung am 16. September 2021 noch nicht rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts München vom 20. Juli 2021 wurde der Kläger zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt, wobei zwei Verfahren verbunden worden waren. Ausweislich der Antragsschrift auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren in einem der verbundenen Verfahren entwendete der Kläger am 3. Mai 2021 in München insgesamt fünf Parfums.
27
Ab 28. Mai 2021 befand sich der Kläger erneut in Haft.
28
Ausweislich des Führungsberichts der Justizvollzugsanstalt … vom 16. Juli 2021 ist der Kläger seit dem 17. Juni 2021 in einem Unternehmerbetrieb zur Arbeit eingeteilt. Seine Arbeitsleistung werde als gut bewertet und der Kläger sei fleißig. Von den mit dem Kläger befassten Bediensteten werde dieser als lässig, gesellig, verträglich und freundlich beschrieben. Die vollzugliche Führung entspreche der Hausordnung, disziplinarische Auffälligkeiten habe es nicht gegeben. Auch während der mehrfachen Vorinhaftierungen in der Justizvollzugsanstalt habe sein Verhalten keinen Anlass zur Beanstandung gegeben. Bei dem Kläger liege eine Suchtbehaftung vor. Laut Aufnahmeersuchen des Amtsgerichts München vom 29. Mai 2020 sei er alkoholabhängig, zudem sei er bei einer seiner Vorinhaftierungen positiv auf Drogen getestet worden. Eine Kontaktaufnahme zur externen Suchtberatung habe bislang nicht stattgefunden.
29
Mit Schreiben vom 12. August 2021 gab der Kläger im vorliegenden Verfahren an, ein Alkoholproblem zu haben. Er habe in Polen eine dreimonatige und eine sechsmonatige Suchttherapie gemacht. In Deutschland habe er keine Verwandten.
30
In der mündlichen Verhandlung am 16. September 2021 gab der Kläger an, kein Problem damit zu haben, nach Polen zurückzukehren. Er könne jedoch nach seiner Haftentlassung in Deutschland bei einem Kollegen in dessen Baufirma arbeiten.
31
Der Vertreter der Beklagten änderte Nummer 3 Satz 2 des angefochtenen Bescheids in der mündlichen Verhandlung dahingehend ab, dass der Kläger, sollte er aus der Haft entlassen werden, bevor die Abschiebung durchgeführt werden könne, verpflichtet sei, das Bundesgebiet bis spätestens einen Monat nach Haftentlassung und Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht zu verlassen.
32
Der Kläger beantragt in der mündlichen Verhandlung:
33
Der Bescheid der Beklagten vom 4. November 2019 wird aufgehoben.
34
Hinsichtlich des übrigen Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtssowie die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

35
A. Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der angefochtene Bescheid vom 4. November 2019 ist in seiner aktuellen Fassung rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
36
I. Rechtsgrundlage für die Feststellung des Verlusts des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ist § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU.
37
Nach dieser Vorschrift kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden.
38
Ob der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der Behördenentscheidung aufgrund seiner beruflichen Situation die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU erfüllte, kann offen bleiben, da das Bestehen eines Freizügigkeitsrechts keine Voraussetzung für die Feststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU ist (vgl. VG München, U.v. 13.2.2020 - M 10 K 18.6271 - BeckRS 2020, 7932 Rn. 47 ff. m.w.N.; U.v. 15.7.2021 - M 10 K 19.4620 - juris). Ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU mit der Folge der erhöhten Anforderungen an die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU hat der Kläger, der sich seit dem Jahr 2018 und damit noch keine fünf Jahre in der Bundesrepublik aufhält, nicht erworben.
39
II. Die Beklagte hat den Verlust des Rechts des Klägers auf Einreise und Aufenthalt gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU in zutreffender Weise aus Gründen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit festgestellt.
40
1. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um eine Verlustfeststellung zu begründen, § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt, § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU.
41
Das Gericht teilt die Einschätzung der Beklagten, dass die Umstände, die den vom Kläger begangenen Straftaten zugrunde lagen, ein persönliches Verhalten erkennen lassen, welches eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere, die Grundinteressen der Gesellschaft berührende Gefährdung der öffentlichen Ordnung im Sinne des § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU darstellt.
42
Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Wiederholungsgefahr ist der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (EuGH, U.v. 29.4.2004 - C-482/01 und C-493/01 - EuZW 2004, 402).
43
Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (vgl. EuGH, U.v. 27.10.1977 - 30/77 „Bouchereau“ - BeckRS 2004, 73063). Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende, unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 2.9.2009 - 1 C 2.09 - NVwZ 2010, 389); bei gewichtigeren Straftaten reicht danach eine geringere Wahrscheinlichkeit der erneuten Straftatbegehung aus, um eine solche Gefährdung zu begründen (BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10.12 - BeckRS 2013, 47815). Aus den verwertbaren Straftaten sowie den sonstigen hinzutretenden Umständen ist also prognostisch abzuleiten, wie hoch auf Seiten des Betroffenen das Risiko der Begehung erneuter Straftaten und damit erneuter Verstöße gegen die öffentliche Ordnung ist.
44
Gemessen an diesen Vorgaben ist bei dem Kläger prognostisch eine Wiederholungsgefahr für die Begehung weiterer Vermögensdelikte und damit in Zusammenhang stehender Körperverletzungsdelikte gegeben.
45
Der Kläger hat zwischen seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2018 und seiner Inhaftierung im April 2019 mit hoher Rückfallgeschwindigkeit insgesamt 10 einschlägige Vermögensdelikte (Diebstahl, Erschleichen von Leistungen) begangen (abgeurteilt mit Entscheidungen vom 17.9.2018, 26.11.2018, 29.11.2018, 4.12.2018, 23.1.2019, 5.2.2019, 17.4.2019, 23.4.2019, 5.6.2019 und 5.7.2019). Dabei sticht insbesondere hervor, dass der Kläger am 30. April 2019 straffällig wurde (abgeurteilt mit Entscheidung vom 5.7.2019), obwohl er nur eine Woche zuvor, am 23. April 2019, durch das Amtsgericht München erstmals zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war. Auch die Inhaftierung vom 30. April 2019 bis 12. Dezember 2019 konnte den Kläger nicht von der Begehung weiterer Delikte abhalten. Stattdessen wurde der Kläger seither dreimal wegen weiterer Taten verurteilt (Entscheidungen vom 3.3.2020, 20.5.2021 und 20.7.2021). Am 14. Dezember 2019 - und damit nur zwei Tage nach seiner Entlassung - machte sich der Kläger wegen Diebstahls in Tatmehrheit mit versuchter Körperverletzung strafbar. Insoweit ist ebenfalls zu beachten, dass den Kläger auch die streitgegenständliche Verlustfeststellung vom 4. November 2019 einschließlich der dagegen gerichteten Klage nicht von der Tat am 14. Dezember 2019 abhalten konnte. Gleiches gilt für die Taten vom 4. April 2021 und 3. Mai 2021, wobei auch hier zu beachten ist, dass der Kläger erst am 22. März 2021 aus der Haft entlassen worden war. Daher besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger auch nach Entlassung aus der aktuellen Haft sein strafbares Verhalten fortsetzen wird. Durchgreifende Anhaltspunkte für eine nachhaltige Verhaltensänderung sind nicht ersichtlich. Der Kläger hat vielfach gezeigt, dass ihn weder Geld- noch Haftstrafen oder der drohende Verlust des Freizügigkeitsrechts von weiteren Delikten abhalten können. Dass im Zusammenhang mit der Begehung derartiger Delikte auch die Gefahr besteht, dass der Kläger gewalttätig wird, zeigt die Tat vom 14. Dezember 2019. Eine fehlende Akzeptanz der geltenden Rechtsordnung ist offensichtlich.
46
Zu Lasten des Klägers ist auch zu berücksichtigen, dass sowohl die Tat vom 30. April 2019 als auch die Tat vom 14. Dezember 2019 unter nicht unerheblichem Alkoholeinfluss begangen wurden. Auch wenn in den dem Gericht vorliegenden Strafurteilen keine Alkoholabhängigkeit festgestellt wurde, liegt hierin ein Aspekt, der sich im Rahmen der Prognose negativ auswirkt. Ausweilich des Führungsberichts der Justizvollzugsanstalt … vom 16. Juli 2021 liegt bei dem Kläger eine Suchtbehaftung vor. Ausweislich des Urteils vom 3. März 2020 hat der Kläger im dortigen Verfahren selbst angegeben, in der Vergangenheit Diebstahlstaten begangen zu haben, um seinen regelmäßigen Alkoholkonsum finanzieren zu können. Eine Therapie hinsichtlich der Alkoholproblematik hat der Kläger in der Bundesrepublik nicht durchlaufen (vgl. zum Erfordernis einer erfolgreichen Therapie für den Wegfall der Wiederholungsgefahr: BayVGH, B.v. 8.4.2019 - 10 ZB 18.2284 - juris Rn. 12 m.w.N.). Wie gerade sein Verhalten in der Bundesrepublik zeigt, hatten die beiden nach Angaben des Klägers in Polen absolvierten Therapien keinen anhaltenden Erfolg. Es ist daher sowohl davon auszugehen, dass sich das Risiko für erneute Straftaten unter Alkoholeinfluss erhöhen wird, als auch davon, dass der Kläger weiterhin versuchen wird, seinen Alkoholkonsum durch Diebstahlstaten zu finanzieren.
47
Damit liegt eine hohe Wiederholungsgefahr hinsichtlich der Begehung weiterer Eigentumssowie Körperverletzungsdelikte und damit eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Kläger vor.
48
2. Die Entscheidung der Beklagten über die Verlustfeststellung stellt sich auch unter Berücksichtigung der Umstände nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU als ermessensfehlerfrei dar.
49
Gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sind bei der Entscheidung insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.
50
Es ist vorliegend rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Beklagte in ihrer Güter- und Interessenabwägung den öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung des Klägers gegenüber seinen persönlichen Interessen am Verbleib im Bundesgebiet den Vorzug gegeben hat.
51
Das öffentliche Interesse wiegt vorliegend schwer. Der Kläger hat innerhalb von drei Jahren mit hoher Rückfallgeschwindigkeit eine Vielzahl an Straftaten begangen; es besteht eine konkrete Wiederholungsgefahr.
52
Demgegenüber ist insbesondere keine besonders schützenswerte soziale, familiäre und wirtschaftliche Verwurzelung des Klägers im Bundesgebiet festzustellen. Der Kläger befindet sich erst seit dem Jahr 2018 im Bundesgebiet. Er hat hier weder eine eigene Kernfamilie noch Verwandte. Einer meldepflichtigen beruflichen Tätigkeit ist der Kläger in der Bundesrepublik nicht nachgegangen, sodass eine wirtschaftliche Integration des Klägers kaum stattgefunden hat. Auch wenn der Kläger angegeben hat, nach seiner Entlassung in einer Baufirma arbeiten zu können, wurde hierzu kein Nachweis vorgelegt. Zudem wäre ein Interesse des Klägers an einer künftigen Beschäftigung im Bundesgebiet im Hinblick auf die beträchtlichen Interessen der Bundesrepublik jedenfalls nicht durchschlagend.
53
Auch im Übrigen sind keine Umstände erkennbar, weshalb dem Kläger eine Reintegration in Polen, wo er aufgewachsen ist und lange gelebt hat, nicht zumutbar sein sollte. Insbesondere hat der Kläger nach seinen eigenen Äußerungen in der mündlichen Verhandlung „kein Problem“ damit, nach Polen zurückzugehen.
54
III. Auch die von der Beklagten in Nummer 2 des angegriffenen Bescheids auf der Grundlage von § 7 Abs. 2 Satz 5 und 6 FreizügG/EU getroffene Befristung der Sperre zur Wiedereinreise und zum Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet für die Dauer von vier Jahren ist insbesondere vor dem Hintergrund fehlender familiärer Bindungen des Klägers im Bundesgebiet rechtlich nicht zu beanstanden. Nach § 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU wäre grundsätzlich eine Frist von über fünf Jahren möglich gewesen, sodass die Beklagte den zulässigen Rahmen bei weitem nicht ausgeschöpft hat.
55
IV. Schließlich stellt sich auch Nummer 3 des streitgegenständlichen Bescheids in seiner aktuellen Fassung als rechtmäßig dar. Die für den Fall, dass der Kläger aus der Haft entlassen wird, bevor seine Abschiebung durchgeführt wird, in Nummer 3 Satz 2 gesetzte Ausreisefrist von einem Monat ab Haftentlassung und Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht stützt sich auf § 7 Abs. 1 Satz 2 und 3 FreizügG/EU. Die Abschiebung wurde zutreffend auf der Grundlage von § 7 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU bzw. § 11 Abs. 2 FreizügG/EU a.F. i.V.m. § 59 Abs. 5 AufenthG angedroht.
56
B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung fußt auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.