Titel:
Kostenerhebung für Identitätsfeststellung bei gleichzeitig präventiver und repressiver Maßnahme der Polizei
Normenkette:
BayPAG Art. 13, Art. 75 Abs. 3, Art. 93 S. 2
Leitsätze:
1. Soweit nach Art. 93 S. 2 BayPAG Kosten nach dem BayPAG auch dann erhoben werden können, wenn auf Grund desselben Lebenssachverhalts neben präventiven Maßnahmen auch repressive Maßnahmen nach der StPO oder dem OWiG getroffen wurden, gilt dies unabhängig von der Kostenpflichtigkeit der repressiv veranlassten Maßnahmen. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Identitätsfeststellung auf der Grundlage des Art. 13 PAG dient der Gefahrenabwehr, weil sie dazu dient, potentielle Störer aus der Anonymität zu reißen und sie so vor der Begehung von (weiteren) Störungen bzw. Straftaten abzuhalten. (Rn. 24 – 27) (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Schutz privater Rechte obliegt der Polizei grundsätzlich nur im Rahmen ihrer Aufgabe nach Art. 2 Abs. 1 BayPAG, also der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kostenerhebung für Identitätsfeststellung, Kostenbescheid, Gemengelage, Kostenfreiheit polizeilichen Handelns, strafrechtliche Verantwortlichkeit, Abwehr von Gefahren
Fundstelle:
BeckRS 2021, 44317
Tenor
1. Die Kostenrechnung des Polizeipräsidiums Oberfranken vom 11.03.2020 wird aufgehoben.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagte darf die Vollstreckung durch den Kläger durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 v.H. des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 v.H. des zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen einen Kostenbescheid des Polizeipräsidiums (PP) Oberfranken vom 11. März 2020.
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Einer Zeugenerklärung des PHM … vom 29. August 2019 zu einem Geschehen vom 10. August 2019 auf dem Marktplatz und im Bereich des Bahnhofs in … ist Folgendes zu entnehmen:
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Der zu diesem Zeitpunkt nicht im Dienst befindliche und dort anwesende Polizeibeamte PHM … habe beim Parken seines Privat-Pkw am Marktplatz in … im Bereich der Hausnr. … eine ca. 20-köpfige Personengruppe bemerkt, die sich vor einen roten Pkw Marke Golf GTI mit dem amtlichen Kennzeichen … gestellt und den Fahrer an der Durchfahrt in Richtung … gehindert habe. Die Personen hätten begonnen auf den Fahrer einzuschreien, ihn unter anderem als „Nazischwein“ und „Scheiß Nazi“ beschimpft und hätten mit den Füßen gegen die Front des Pkw getreten. Der Fahrer sei daraufhin rückwärts und entgegen der Einbahnstraße den Marktplatz entlanggefahren. Ein hinter ihm stehender Pkw Audi A 1 habe nur durch seitliches Ausscheren einen Zusammenstoß verhindern können. Die Personengruppe habe den VW Golf verfolgt. Dabei sei es zu einzelnen Flaschenwürfen und weiteren Tritten gegen den Pkw aus der Personengruppe heraus gekommen. PHM … habe von der Hausnr. … aus einen Notruf veranlasst, weil er ein Einschreiten als Einzelperson wegen des hohen Aggressionspotenzials der Gruppe nicht für möglich gehalten habe. Zwischenzeitlich sei es zu einem Verkehrsunfall zwischen dem Fahrer des VW Golf GTI und einem unbeteiligten Pkw Skoda Fabia gekommen. Die Unfallstelle sei von der Personengruppe umringt worden. PHM … habe sich gegenüber der Personengruppe als Polizeibeamter zu erkennen gegeben. Eine Legitimierung mittels Dienstausweises sei zu diesem Zeitpunkt nicht möglich gewesen, weil sich dieser in seinem Pkw befunden habe. Durch Schieben und Drücken hätten er und weitere Passanten die sowohl verbal als auch körperlich hochgradig aggressive Personengruppe vom Unfallort weg in Richtung Marktplatz Hausnr. … bewegen können. Auf Höhe der Hausnr. … seien die Personen in Kleingruppen geflüchtet. Nachdem er erneut einen Notruf abgesetzt habe, sei er zur Unfallstelle zurück. Nachdem er abgeklärt habe, dass niemand eine Sofortversorgung benötigte, sei er mit seinem Pkw in Richtung Bahnhof gefahren, um die Personengruppe erneut aufzunehmen. In der B2. straße habe er eine ca. 10-köpfige Personengruppe festgestellt, die durch die bereits genannten Passanten festgehalten worden sei. Er habe sich nun mittels Dienstausweis legitimiert und den Personen innerhalb der Gruppe mehrmals den Grund der Festhaltung bekannt gegeben. Diese hätten sich immer wieder entfernen wollen. Er sei von einer männlichen Person konfrontiert worden, der sich als Hauptaggressor der Gruppe herauskristallisiert habe. Dieser habe immer wieder versucht, sich an ihm vorbei zu schieben. Er habe dann diese männliche Person gegen die Wand gedrückt und fixiert, woraufhin er von einer weiblichen Person attackiert worden sei. Die männliche Person habe mehrfach versucht, die Arme des Polizeibeamten wegzuschlagen und sich zu befreien. Da es ihm wegen der heftigen Gegenwehr nicht gelungen sei, die männliche Person mittels Grifftechnik unter Kontrolle zu bringen, habe er sie am Boden fixiert. Diese habe sich weiterhin stark gewehrt. Die übrigen Personen hätten versucht, die fixierte Person zu befreien, wobei er selbst Kratzspuren am Rücken, an den Armen und Händen sowie Hämatome an beiden Oberarmen erlitten habe. Aufgrund der Gegenwehr habe er die Fixierung aufgeben müssen. Durch die Mithilfe der Passanten habe man die Personen bis zum Eintreffen der weiteren Einsatzkräfte festhalten können. Während der gesamten Dauer des Vorfalls sei er aus der Gruppe heraus als „Nazi“, „Arschloch“, „Spast“, „dummer Dorfpolizist“ beschimpft worden. Einzeltäter könne er nicht nennen. Die Einsatzkräfte vor Ort hätten die weitere Bearbeitung übernommen.
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PHM … hat Strafantrag wegen Körperverletzung und Beleidigung gestellt.
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Nach Anhörung mit Schreiben vom 31. Januar 2020 erließ das PP Oberfranken gegen den Kläger den Kostenbescheid vom 11. März 2020 und forderte ihn zur Zahlung eines Rechnungsbetrags in Höhe von 54,00 EUR gemäß Art. 93 Satz 2 PAG i.V.m. Art. 75 Abs. 3 PAG, § 1 Nr. 6 und Nr. 7 PolKV, § 2 PolKV und Art. 10 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 5 KG auf.
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Zur Begründung wurde ausgeführt, dass am 10. August 2019 gegen 17.00 Uhr in der B2. straße in … gegen den Kläger zur Durchsetzung polizeilicher Maßnahmen unmittelbarer Zwang habe angewendet werden müssen. Dieser sei gem. Art. 93 Satz 2 PAG i.V.m. Art. 75 Abs. 3 PAG kostenpflichtig. Der Festhaltegriff und die Fixierung seien erforderlich gewesen, weil der Kläger versucht habe, den kontrollierenden Beamten mit der Faust zu schlagen. Der Kläger habe sich ferner extrem uneinsichtig verhalten und habe versucht, sich mit aller Gewalt aus dem Griff des Beamten zu lösen. Infolge des Verdachts auf Landfriedensbruch sei er aufgefordert worden, seine Personalien zur Sachverhaltsaufklärung anzugeben. Anstatt der Aufforderung nachzukommen, habe er versucht tätlich gegen den Beamten vorzugehen. Es habe kein milderes Mittel zur Wahl gestanden als die Anwendung unmittelbaren Zwangs, um den Angriff zu unterbinden.
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Gegen diesen Kostenbescheid ließ der Kläger durch seine Bevollmächtigte mit einem am 25. März 2020 eingegangenen Schriftsatz Klage erheben und beantragen,
den Kostenbescheid vom 11. März 2020 aufzuheben.
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Zur Begründung wurde mit Schriftsatz vom 4. August 2020 vorgetragen, dass bereits keine verfassungsgemäße sowie taugliche Ermächtigungsgrundlage für die Kostenerhebung vorliege. Die seit dem 1. Januar 2020 eingeführte Regelung des Art. 93 Satz 2 PAG setze die Unschuldsvermutung außer Kraft. Wenn Maßnahmen nach der StPO zu treffen gewesen seien, sei in einem strengen formalisierten Prozess zu klären, ob die Schuld nachgewiesen werden könne oder nicht. Wenn dem nicht so sei, sei die betroffene Person freizusprechen. Durch die vorliegende Regelung könnten Kosten auferlegt werden, ohne dass zuvor nach einem rechtsstaatlichen Verfahren die Schuld nachgewiesen werde. Dadurch werde in die Rechte des Beschuldigten eingegriffen und Art. 6 Abs. 2 EMRK verletzt bzw. in Gänze aufgehoben. Es entspreche dem Rechtsstaat, dass eine Person, deren Schuld nicht nachgewiesen sei, keine Kosten zu tragen habe. Eine Umkehrung dessen bedeute die Umkehrung der Unschuldsvermutung in ihr Gegenteil. Dies werde durch den vorliegenden Bescheid untermauert, der davon ausgehe, dass „infolge des Verdachts des Landfriedensbruchs“ eine Aufforderung zur Personalienkontrolle erfolgt sei. Vorliegend stehe in der Rede, ob eine Straftat erfolgt sei, nicht, ob eine Gefahr vorgelegen habe.
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Es sei nicht dargelegt, dass der Kläger „Störer“ i.S.v. Art. 7 PAG gewesen sein soll. Dass zum Zeitpunkt, als sich eine 10-köpfige Personengruppe auf Höhe der … befunden habe, eine Gefahr von dieser Gruppe bzw. dem Kläger ausgegangen sei, werde nicht dargelegt. Die Personalienkontrolle sei ausweislich des Bescheids repressiver Natur gewesen. Selbst wenn man Art. 93 Satz 2 PAG für verfassungsmäßig halte, liege in jedem Fall keine Maßnahme der StPO neben einer polizeilichen Maßnahme vor.
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Mit Schriftsatz vom 25. August 2020 beantragte der Beklagte
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Mit dem Gesetz zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts vom 18. Mai 2018 könnten Kosten auch dann erhoben werden, wenn aufgrund desselben Lebenssachverhalts präventive und repressive Maßnahmen getroffen würden. Insbesondere bei sogenannten Gemengelagen, in denen die Polizei sowohl repressiv als auch präventiv agieren könne und wolle, seien strafprozessuale und gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen grundsätzlich nebeneinander anwendbar. Dies gelte auch für die anschließende Kostenerhebung.
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Die Festhaltung des Klägers habe der Feststellung seiner Identität zur Strafverfolgung (§ 163b StPO) als auch der Verhinderung weiterer Straftaten (Landfriedensbruch, Sachbeschädigung, Beleidigung, Körperverletzung, etc.) und dem Schutz privater Rechte (Beteiligung am Verkehrsunfall des angegriffenen Pkw-Fahrers) gedient. Da der Kläger tätlich gegen den Beamten habe vorgehen wollen, habe zur Abwehr einer Gefahr unmittelbarer Zwang angewendet werden müssen.
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Die Unschuldsvermutung werde nicht außer Kraft gesetzt. Im anschließenden oder parallel laufenden Strafverfahren werde entschieden, ob der Kläger für die Straftaten verantwortlich gemacht werden könne. Eine Vormerkung der hier streitgegenständlichen Gebühr für die Anwendung unmittelbaren Zwangs erfolge nicht.
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Der Kläger sei eingangs auch festgehalten worden, um eine Personalienfeststellung für ein etwaiges Strafverfahren zu ermöglichen. Es werde aber die Auffassung vertreten, dass diese daneben auch dem Schutz privater Rechte gedient habe. Der angegriffene Pkw-Fahrer habe ein Interesse an der Identitätsfeststellung für etwaige zivilrechtliche und strafrechtliche Schritte. Eine Beteiligung des Klägers an dem Verkehrsunfall sei nicht auszuschließen gewesen. Spätestens als der Kläger PHM … tätlich angegriffen habe, sei die Fixierung auch zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit des eingesetzten Polizeibeamten und damit unstrittig als präventive polizeiliche Maßnahme erfolgt.
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Durch sein Verhalten habe der Kläger eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit in Form der Unversehrtheit der Rechtsordnung dargestellt. Andere Zwangsmittel, die insbesondere den Schutz des Beamten vor den Angriffen des Klägers gewährleistet hätten, seien nicht geboten gewesen. Die sofortige Anwendung zur Abwendung der Gefahr sei notwendig gewesen. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Art. 4 PAG sei gewahrt. Der Kläger sei als Veranlasser gemäß Art. 2 Abs. 1 KG der richtige Adressat der Maßnahme. Gründe für eine Unbilligkeit der Kostenerhebung seien nicht ersichtlich und auch nicht vorgetragen worden.
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In der mündlichen Verhandlung wurde PHM … als Zeuge vernommen. Hinsichtlich der Zeugenaussage sowie des weiteren Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Behörden- und Gerichtsakte Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO).
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg, da die Kostenrechnung vom 11. März 2020 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Der Kostenbescheid vom 11. März 2020 ist formell rechtmäßig ergangen, insbesondere erfolgte eine vorherige Anhörung des Klägers.
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2. Die materiellrechtlichen Voraussetzungen für eine Kostenerhebung liegen jedoch nicht vor, da ein Tätigwerden des PHM …zu zumindest gleichzeitig präventiven Zwecken nicht gegeben war.
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a. Vorab sei angemerkt, dass das Gericht die klägerische Auffassung nicht teilt, mit Art. 93 Satz 2 Bayerisches Polizeiaufgabengesetz (PAG) liege eine taugliche Rechtsgrundlage deshalb nicht vor, weil damit zum einen ein Verstoß gegen die Gesetzgebungskompetenz des Bundes und zum anderen ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung im Strafverfahren gegeben sei.
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Dass der Bundesgesetzgeber in Wahrnehmung der konkurrierenden Kompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG Rechtsfolgen ausschließen wollte, die das Landesrecht an das gefahrenabwehrende Handeln der Polizei knüpft, ist nicht ersichtlich. Namentlich den strafverfahrensrechtlichen Kostenregelungen (§§ 464 ff. StPO) lässt sich nichts dafür entnehmen (BVerwG, B.v. 22.6.2001 - NVwZ 2001, 1285 - juris). Nach Art. 93 Satz 2 PAG können daher Kosten nach dem BayPAG auch dann erhoben werden, wenn auf Grund desselben Lebenssachverhalts neben präventiven Maßnahmen auch repressive Maßnahmen nach der StPO oder dem OWiG getroffen wurden. Dies gilt unabhängig von der Kostenpflichtigkeit der repressiv veranlassten Maßnahmen (vgl. BeckOK PolR Bayern/Unterreitmeier, 16. Ed. 15.3.2021, PAG Art. 93 Rn. 21-24).
22
Die Neufassung des Polizeiaufgabengesetzes (Gesetz zur Neuordnung des bayerischen Polizeirechts v. 18.5.2018, BayGVBl 2018, S. 301 ff.) stellt mit der Einfügung von Art. 93 Satz 2 PAG im Zusammenhang mit einer Kostenerhebung für polizeiliches Handeln klar, dass auch bei Vorliegen eines Anfangsverdachts einer Straftat iSv § 152 StPO ein Rückgriff auf präventiv-polizeiliche Ermächtigungsgrundlagen rechtlich nicht ausgeschlossen ist, sodass insbesondere bei sog. Gemengelagen, in denen die Polizei sowohl repressiv als auch präventiv agieren kann und will, strafprozessuale und gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen grundsätzlich nebeneinander anwendbar bleiben (LT-Drs. 17/20425, S. 93 f.; BeckOK PolR Bayern/Unterreitmeier, 16. Ed. 15.3.2021, PAG Art. 93 Rn. 7-13.3).
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b. Als lex specialis zum Kostengesetz normiert Art. 93 PAG Ausnahmen von der grundsätzlichen Kostenfreiheit polizeilichen Handelns (Art. 3 Abs. 1 Nr. 10 Satz 1 KG). Danach dürfen nach Art. 93 Satz 1 i.V.m. Art. 75 Abs. 3 PAG für die Anwendung unmittelbaren Zwangs Kosten erhoben werden.
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Bei Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 1 PAG kann die Polizei nach Art. 13 Abs. 2 PAG die zur Feststellung der Identität erforderlichen Maßnahmen treffen und insbesondere Personen anhalten. Diese können auch festgehalten werden, wenn die Identität nicht auf andere Weise oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten festgestellt werden kann.
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Die Identitätsfeststellung auf der Grundlage des Art. 13 PAG dient der Gefahrenabwehr. Die konkrete Polizeimaßnahme, vorliegend das Festhalten zur Identitätsfeststellung, muss erfolgt sein, um die Schutzzwecke des Art. 13 Abs. 1 PAG zu verfolgen. Soweit daneben im Rahmen strafverfolgender Tätigkeiten Identitätsfeststellungen erforderlich sind und durchgeführt werden, besagt Art. 93 Satz 2 PAG lediglich, dass auch dann Kosten (für das präventive Tätigwerden) verlangt werden können, wenn neben einer Maßnahme der Strafverfolgung ein Tätigwerden zur Gefahrenabwehr vorliegt.
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Art. 13 Abs. 1 Nr. 1 PAG dient insbesondere der Verhütung oder Unterbindung von Straftaten, Ordnungswidrigkeiten oder verfassungsfeindlichen Handlungen (vgl. Nr. 13.3 VollzBek PAG), daneben der Gefahrerforschung oder Gefahrenvorsorge, die im Vorfeld konkreter Gefahren eine niedrigere Eingriffsschwelle genügen lässt; in diesem Sinne verstanden dient die Identitätsfeststellung der weiteren Aufklärung einer Gefahrenlage oder eines durch Tatsachen begründeten Gefahrenverdachts, indem das Gefährdungspotential am Geschehen beteiligter Personen festgestellt und überprüft wird, ob jemand Störer ist oder nicht. Art. 13 Abs. 1 Nr. 1b PAG gestattet eine Identitätsfeststellung, um gefährliches Handeln bereits in einem frühzeitigen Stadium, also schon im Vorfeld einer klassischen konkreten Gefahr, zu unterbinden (BeckOK PolR Bayern/Senftl, 16. Ed. 15.3.2021, PAG Art. 13 Rn. 9 f.).
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Eine Personenfeststellung kann ein Mittel zur Gefahrenabwehr sein, wenn sie dazu dient, potentielle Störer aus der Anonymität zu reißen und sie so vor der Begehung von (weiteren) Störungen bzw. Straftaten abhalten kann (vgl. VGH BW, U.v. 14.12.2010 - 1 S 338/10 - juris, unter Verweis auf BayVGH, U.v. 2.12.1991 - 21 B 90.1066 - BayVBl 1993, 429). An einer präventiven Maßnahme besteht insbesondere dann kein Zweifel, wenn auch das äußere Erscheinungsbild der Maßnahme dem entspricht (vgl. BayVGH, U.v. 2.12.1991, a.a.O).
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Nach der Durchführung der mündlichen Verhandlung ergibt sich für das Gericht eindeutig, dass PHM … bei der Anwendung unmittelbaren Zwangs ausschließlich zu repressiven Zwecken handeln wollte, dies auch so kommunizierte und letztlich auch lediglich repressiv tätig geworden ist. Aus seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass er außerdem zur Abwehr einer Gefahr hätte tätig werden wollen bzw., dass aus seiner Sicht eine solche Gefahr überhaupt bestanden hätte.
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Zur Gesamtlage nach dem Zusammenstoß der beiden Pkw am Marktplatz in …befragt, gab der Zeuge an, dass sich die unfriedliche Personengruppe zunächst geteilt habe und dann in verschiedene Richtungen geflüchtet sei. Er sei davon ausgegangen, dass sich zumindest ein Teil der Personen in Richtung Bahnhof bewegen würde, da dies seiner Einschätzung nach der schnellste Weg gewesen sei, um … zu verlassen. Als er dann in der … auf die Personengruppe gestoßen sei, habe diese für ihn den Eindruck vermittelt, dass sie sich in Richtung Bahnhof bewegen wollte. Er hat dies so geschildert, dass diese Personen in Richtung Bahnhof gedrängt haben und von den Passanten, die auch schon am Marktplatz eingeschritten waren, hieran gehindert worden sind. Der Zeuge hat weiter ausgesagt, als Grund der Festhaltung die im Raum stehenden Straftaten (Sachbeschädigung, evtl. Körperverletzung) genannt zu haben und dass die Identität zur Strafverfolgung festgestellt werden müsse. Seiner Einschätzung nach hätten sich die Personen „aus dem Staub machen wollen“. Auf die konkrete Frage, ob seiner Einschätzung nach die Gefahr weiterer Aktionen im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang - wie vorher am Marktplatz - vorgelegen habe, hat der Zeuge gesagt, er könne dies nicht mit Gewissheit sagen und wolle keiner Person etwas unterstellen. Es sei jedenfalls so gewesen, dass, sobald man nachlässig geworden sei, die Personen versucht hätten wegzulaufen.
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Den Aussagen des Zeugen ist zusammenfassend zu entnehmen, dass keine konkreten Anhaltspunkte dafür erkennbar waren, dass die Personengruppe, so sie denn freigekommen wäre, weitere Straftaten begangen und die öffentliche Sicherheit und Ordnung erneut gestört hätte. Der Eindruck des Zeugen war so, dass er davon ausging, die Personengruppe und damit auch der Kläger, wolle sich einer möglichen Strafverfolgung durch Flucht entziehen. Ein Festhalten des Klägers zu präventiven Zwecken war vom Zeugen weder beabsichtigt noch lagen aus seiner Sicht belastbare Anhaltspunkte dafür vor, dass es zu einem erneuten Aufflammen der Aggressionen kommen werde. Insbesondere hat der Zeuge dem Kläger gegenüber geäußert, dass die Personalien zum Zweck der Strafverfolgung erhoben werden sollten. Weiter hat der Zeuge angegeben, dass sich seiner Einschätzung nach der Kläger deshalb gewehrt habe, weil er einer Feststellung seiner Personalien entgehen wollte.
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Soweit der Beklagte im Laufe des gerichtlichen Verfahrens weitere Gesichtspunkte vorgebracht hat, die für ein präventives Handeln sprechen sollen, ist hierzu auszuführen, dass sich diese nicht mit den Angaben von PHM … decken und dem Handeln des Polizeibeamten nachträglich wohl eine andere/weitere Zielsetzung geben sollen.
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Für das Verhindern weiterer Straftaten (Beleidigungen, Körperverletzung, Sachbeschädigung, vgl. Schriftsatz vom 25. August 2020) fehlen - wie ausgeführt - jegliche Anhaltspunkte.
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Den Ausführungen des Beklagten kann nicht gefolgt werden, wonach der unmittelbare Zwang gegen den Kläger auch deshalb präventiv erfolgt sei, um die genannten befürchteten (weiteren) Gefahren vom Zeugen selbst abzuwenden. Der Zeuge hat hierzu ausgesagt, dass sich der Kläger immer wieder seinem Zugriff entziehen und flüchten wollte. Zum Selbstschutz des Zeugen wäre es somit ausreichend gewesen, vom Kläger abzulassen. Dies hätte aber dem alleinigen Zweck der Maßnahme des Zeugen widersprochen, die Identität des Klägers für weitere Strafverfolgungsmaßnahmen festzustellen. So gab der Zeuge in der mündlichen Verhandlung an, dass sich der Kläger als Hauptredner herauskristallisiert habe. Als sich der Kläger habe entfernen wollen, habe er ihn an der Wand fixiert. Aus diesem Grund kam es dann auch zu einer Schlagbewegung des Klägers gegen den Zeugen, die ins Leere gegangen sei, da die Gruppe ihn vom Kläger weggezogen habe. Der Zeuge entschloss sich sodann, den Kläger am Boden zu fixieren. Dabei befürchtete er nach seiner Aussage aber nicht, dass noch weitere Schläge vom Kläger ausgehen würden. Er habe sich lediglich vergegenwärtigt, dass möglicherweise von dritter Seite ein Schlag gegen ihn, z.B. auf den Kopf hätte erfolgen können. Die Anwendung unmittelbaren Zwangs diente damit nicht dazu, Schäden vom Zeugen abzuwenden, sondern die Identitätsfeststellung sicherzustellen, die die Kollegen vornehmen sollten, um eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Klägers prüfen zu können.
34
Soweit der Straftatbestand des Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte im Raum steht, verhielt es sich so, dass der Widerstand des Klägers nach dem Eindruck des Zeugen nur dazu diente, sich der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu entziehen und ein darüberhinausgehender Zweck als die Flucht nicht erkennbar war. Die Ansicht des Beklagten, bei jedem Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte handele der Polizist zugleich zur Gefahrenabwehr (in eigener Person) sowie der Verhinderung der Begehung einer weiteren Straftat, kann das Gericht nicht teilen. Zumindest wenn wie hier der Widerstand nur dazu dient, sich dem Zugriff des Polizisten zu entziehen und nach der Intention des Polizisten nicht der Schutz der eigenen Person maßgeblich ist, sondern ein Festhalten erfolgt, um die Identitätsfeststellung zur Strafverfolgung zu ermöglichen, bleibt es bei natürlicher Betrachtungsweise des Lebenssachverhalts bei einer repressiven Tätigkeit der Polizei. Ein präventives Handeln im Sinne einer Gefahrenabwehr wäre in diesem Fall nur eine im Nachhinein erfolgte künstliche Interpretation eines Sachverhalts, der sich so nicht ereignet hat.
35
Im Hinblick auf den Schutz privater Rechte Dritter besteht die Befugnis nur innerhalb des insoweit begrenzten polizeilichen Aufgabenbereichs gem. Art. 2 Abs. 2 (Subsidiaritätsgrundsatz). Der Schutz privater Rechte obliegt der Polizei grundsätzlich nur im Rahmen ihrer Aufgabe nach Art. 2 Abs. 1 PAG, also der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung. Eine Situation der Gefahrenabwehr lag vorliegend, wie bereits ausgeführt, nicht vor. Praktische Bedeutung kommt der Identitätsfeststellung im Rahmen von Art. 13 Abs. 1 Nr. 6 PAG z.B. bei nicht strafbaren (insbesondere fahrlässigen) Sachbeschädigungen und Verkehrsunfällen zu; die Polizei stellt in diesen Fällen die Personalien des Schädigers bzw. Unfallverursachers fest und teilt sie dem Geschädigten mit, um diesem die Verwirklichung seines (offensichtlichen) Rechts zu ermöglichen (vgl. BeckOK PolR Bayern/Senftl, 16. Ed. 15.3.2021, PAG Art. 13 Rn. 17). Eine derartige Fallkonstellation war vorliegend aber nicht gegeben. Das Festhalten durch den Zeugen erfolgte nach § 163b StPO zum Zweck der Verfolgung einer Straftat und damit repressiv. Zusätzliche zu den im Rahmen der strafrechtlichen Ermittlungen zu erhebenden weiteren notwendigen Informationen bedurfte es nicht. Auch weitere Sachbeschädigungen waren nicht zu erwarten.
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Da die Voraussetzungen für eine Kostenerhebung nach Art. 93 Satz 2, Art. 75 Abs. 3 und Art. 13 Abs. 2 PAG nicht vorliegen, ist die Kostenrechnung vom 11. März 2020 rechtswidrig und aufzuheben.
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3. Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens nach § 154 Abs. 1 VwGO zu tragen.
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4. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung basiert auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.