Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 25.11.2021 – AN 3 K 20.02587
Titel:

Abgrenzung zwischen Dachterrasse einer Grenzgarage und Balkon eines Wohngebäudes, bauliche Einheit (verneint), Entprivilegierung (verneint)

Normenketten:
BayBO Art. 68 Abs. 1
BayBO Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2
BayBO - Art. 6 Abs. 7 S. 1 Nr. 1
Schlagworte:
Abgrenzung zwischen Dachterrasse einer Grenzgarage und Balkon eines Wohngebäudes, bauliche Einheit (verneint), Entprivilegierung (verneint)
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 25.04.2023 – 9 ZB 22.434
Fundstelle:
BeckRS 2021, 43751

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte oder die Beigeladene vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer der Beigeladenen erteilten Baugenehmigung, soweit sich diese auf eine oberhalb der Garage und weiterer Räume errichtete „Dachterrasse“ bezieht.
2
Die Kläger sind Eigentümer des Grundstücks FlNr. … der Gemarkung … (… Straße …) in …, welches mit einem Einfamilienhaus bebaut ist. Das Grundstück der Kläger grenzt direkt östlich an das Grundstück der Beigeladenen FlNr. … der Gemarkung … (… Straße …) in … an.
3
Das Grundstück der Beigeladenen ist ebenfalls mit einem Einfamilienhaus mit Dachgeschosswohnung bebaut. An der westlichen Grundstücksgrenze zum Grundstück der Kläger hin befinden sich zwei Garagen, welche vom Einfamilienhaus durch einen kleinen Durchgang getrennt sind. Südlich angrenzend an die beiden Garagen befindet sich ein nicht von den Garagen aus begehbarer Abstellraum für Gartengeräte.
4
Beide Grundstücke liegen im Geltungsbereich des qualifizierten Bebauungsplans …, welcher als Art der baulichen Nutzung ein allgemeines Wohngebiet festsetzt.
5
Im Zuge eines im Jahr 2009 genehmigungsfrei gestellten und durchgeführten Neubaus des Dachstuhls des Einfamilienhauses der Beigeladenen wurde nach Aussage des beauftragten Architekten die mit dem Wohnhaus verbundene Holzkonstruktion über die Fläche des Durchgangs zwischen Haus und Garage sowie über das Dach der östlichen Garage erweitert. Die so entstandene Fläche wird seitdem vom Wohnungseigentümer der Dachgeschosswohnung als „Balkon“ genutzt. Der dabei entstandene Höhenversatz dieses „Balkons“ von und dem Dach der weiter westlich liegenden Grenzgarage beträgt 51 cm. Auf dem Garagendach befindet sich eine pergolaähnliche Konstruktion mit offenem Dach, welche nicht mit dem Wohngebäude verbunden ist. Als Umwehrung bzw. Geländer dienen Stabmattenfelder.
6
Mit Bauantrag vom 13. Dezember 2019 beantragte die Beigeladene die Erteilung einer Baugenehmigung zur Nutzungsänderung sowie zum Ausbau des Dachgeschosses zu einer Wohnung und zur Errichtung eines Carports auf dem Grundstück FlNr. … Ausweislich der in den Bauvorlagen befindlichen Schnittpläne ist die konstruktive Änderung der „Dachterrasse“ Teil des Bauantrags. Die „Dachterrasse“ ragt um 5,33 m westlich aus dem bestehenden Gebäude heraus. Das bisher einen Abschluss zum Garagendach herstellende Mauerwerk soll dabei entfernt werden und durch Stahlträger, welche sich auf dem Garagendach abstützen, ersetzt werden. Vier der Stahlträger befinden sich im Durchgang, zwei Stahlträger, welche den westlichen Teil der „Dachterrasse“ abstützen sollen, ruhen auf der Dachhaut der Garagen bzw. davor. Der so entstehende „Balkon“ ist umwehrt und besitzt eine eigene Bodenkonstruktion. Eine Dachkonstruktion oder Pergolakonstruktion ist nicht vorgesehen. Der Abstand zwischen westlicher Balkonumwehrung und der Grundstücksgrenze beträgt 3,11 m.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 26. Oktober 2020 wurde der Beigeladenen die Baugenehmigung für das beantragte Vorhaben erteilt. Gleichzeitig wurden in dem Bescheid vier Befreiungen von den Festsetzungen des einschlägigen Bebauungsplans gewährt, welche die Anzahl der Vollgeschosse, die Baugrenze Richtung Norden durch das Carport, die Baugrenze Richtung Norden durch die Treppe und die Wandhöhe für die Zwerchhäuser betreffen.
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Mit Schriftsatz vom 30. November 2020 - hier eingegangen am gleichen Tag - ließen die Kläger durch ihren Bevollmächtigten Klage gegen die Baugenehmigung erheben. Zur Begründung wird mit Schriftsatz vom 2. Februar 2021 in tatsächlicher Hinsicht im Wesentlichen ausgeführt, dass im Jahr 2009 das ursprünglich auf dem Beigeladenengrundstück errichtete Einfamilienhaus baulich verändert worden sei. Durch die Veränderungen sei ein neues Dachgeschoss entstanden. Es seien Gauben eingebaut und auf dem grenzständigen Nebengebäude, in welchem sich zwei Garagenstellplätze und ein Raum für Gartengeräte befänden, sei 2018 eine Dachterrasse mit Zugang von der Dachgeschosswohnung etabliert worden, welche in der Folge mit einer dauerhaften Überdachung versehen worden sei. Die mit der Klage vorgelegte Baugenehmigung beziehe sich auf einen Zustand, der zum Zeitpunkt des Bauantrags bereits verwirklicht gewesen sei. Was in den Plänen als Neubau beschrieben werde, sei bereits verwirklicht worden. Die Beigeladene mache von der Terrasse - auch während der Wintermonate - intensiven Gebrauch. Die Beigeladene und andere Personen, die sich mit ihrer Zustimmung dort aufhielten, rauchten, telefonierten und beobachteten die Kläger auf deren Grundstück und kommentierten provokativ deutlich hörbar deren Tun. Die Kläger hätten den Eindruck, dass die Beigeladene jede Gelegenheit nutze, um sie zu provozieren.
9
In rechtlicher Hinsicht wird ausgeführt, dass die Baugenehmigung, soweit sie sich auf die Herstellung einer Dachterrasse auf dem grenzständigen Nebengebäude beziehe, rechtswidrig sei. Gebäude, die an der Grenze ohne Einhaltung von Abstandsflächen errichtet seien, könnten nicht zum Aufenthalt von Personen dienen. Durch die Dachterrasse verliere das grenzständige Nebengebäude seine Privilegierung, so dass es mit der geschaffenen Aufenthaltsfläche gegen das einzuhaltende und den Schutz der Kläger bezweckende Abstandsflächenrecht verstoße. Es sei eine nachbarschützende Vorschrift verletzt. Eine Garage, welche eine Dachterrasse vorweise, die zum Aufenthalt von Menschen oder für Wäscheaufhängevorrichtungen bestimmt sei, sei ohne Einhaltung einer Abstandsfläche nicht mehr nach Art. 6 Abs. 9 BayBO a.F. (mittlerweile Art. 6 Abs. 7 BayBO n.F.) privilegiert und müsse grundsätzlich die regulären Abstandsflächen einhalten. Grundsätzlich sei bei einer Klage, die sich gegen eine Baugenehmigung richte, die unter Verletzung nachbarschützender Bestimmungen zustande gekommen sei, die gesamte Baugenehmigung aufzuheben. Sofern jedoch das Vorhaben in dem Umfang, in dem es durch seine Verwirklichung keine nachbarschützenden Vorschriften verletze, genehmigungsfähig und auch durch den Bauherrn gewollt sei, scheide eine völlige Aufhebung der Baugenehmigung aus. Insofern sei nur ein Teil der Baugenehmigung aufzuheben, nämlich derjenige, der Nachbarrechte verletze. Da davon auszugehen sei, dass die Beigeladene auch dann von der Baugenehmigung Gebrauch machen wolle, wenn die Dachterrasse als rechtswidriges Bauteil beseitigt werde, sei die Baugenehmigung nur partiell aufzuheben.
10
Die Kläger beantragen mit Schriftsatz vom 2. Februar 2021 sinngemäß, den Bescheid der Beklagten vom 26. Oktober 2020 aufzuheben, soweit er sich auf die oberhalb der Garagen, des Geräteraums und des Durchgangs etablierte Dachterrasse einschließlich Zugang von der Wohnung bezieht.
11
Mit Schriftsatz vom 22. Februar 2021 beantragt die Beklagte,
die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung wird in tatsächlicher Hinsicht ausgeführt, dass dem Bauantrag eine Kontaktaufnahme seitens der Klägerin zu 2. vorangegangen sei. Bei Sichtung der Unterlagen sei festgestellt worden, dass die im Freistellungsverfahren damals erfolgte Maßnahme „Neubau eines Dachstuhls“ aus dem Jahr 2009 nicht die Voraussetzungen eines Genehmigungsfreistellungsverfahrens erfüllt habe und außerdem planabweichend eine weitere Wohneinheit und eine weitere Dachterrasse errichtet worden seien. Der daraufhin angeforderte Bauantrag zur Überprüfung der Genehmigungsfähigkeit sei unverzüglich eingereicht worden. Der Antrag habe die bei der Baumaßnahme im Jahr 2009 nicht beantragten, aber erforderlichen Befreiungen hinsichtlich der Anzahl der Vollgeschosse, der Überschreitung der Baugrenze Richtung Norden sowie der Wandhöhe für die Zwerchhäuser beinhaltet. Außerdem sei Gegenstand der Rückbau der widerrechtlich errichteten Dachterrasse zu einem Balkon.
13
In rechtlicher Hinsicht wird ausgeführt, dass der Baugenehmigungsbescheid rechtmäßig sei und die Kläger nicht in ihren Rechten verletze. Der von den Klägern beanstandete Teil der Baugenehmigung beziehe sich lediglich auf den Rückbau der bereits errichteten, nicht genehmigungsfähigen Dachterrasse zu einem von der Garage unabhängigen Balkon. Da die errichtete Dachterrasse nicht genehmigungsfähig sei, sei mit dem Bauantrag ein Rückbau beantragt worden. Es solle ein von der Garage unabhängiger Balkon entstehen. Dieser habe zu der Garage und dem Geräteraum nur einen statisch konstruktiven Bezug. Der am Ende des Balkons existierende Träger, der auf der Garage aufliege, diene lediglich zur statischen Unterstützung. Man könne somit die Garage komplett abreißen und den Stahlträger nach unten ziehen, womit der Balkon alleine, ohne Garagengebäude weiter existieren könne. Die Garage verliere deshalb nicht ihre abstandsflächenrechtliche Privilegierung. Der beantragte Balkon halte die erforderlichen Abstandsflächen zum Nachbargrundstück ein. Die tatsächliche Umsetzung des Rückbaus werde seitens des Landratsamts verfolgt.
14
Mit Schriftsatz vom 4. März 2021 beantragt die Beigeladene,
die Klage abzuweisen.
15
Zur Begründung ist ausgeführt, dass sich die Klage letzten Endes nur auf die vorhandene Dachterrasse ohne die Überdachung beziehen könne. Der Bauantrag bezwecke eine Entkopplung von Garage und Dachterrasse, so dass der gegenwärtige Zustand, welcher durch die Eltern der Beigeladenen ehemals hergestellt worden sei, eben nicht beibehalten werde. Die bisherige Dachterrasse werde künftig, wie es bei einem Balkon üblich sei, schwebend hergestellt bzw. mit Stahlstützen gesichert. Für eine ausreichende statische Befestigung würden die von der beauftragten Architektin geplanten Stützträger eingebracht, so dass eine direkte Verbindung zur Garage nicht mehr bestehe. Der Status quo zum heutigen Tage liege darin, dass diese Maßnahme der Beseitigung der direkten Verbindung zwischen Dachterrasse und Garage noch nicht umgesetzt sei, da noch einige letzte Details zu klären seien. Exakt dieses Vorhaben sei beantragt und mit dem Bescheid vom 26. Oktober 2020 auf Seiten des Landratsamts genehmigt worden. Hinsichtlich des aktuellen Zustands sei seitens der Beigeladenen der vom Landratsamt geforderte Rückbau akzeptiert worden, welcher nunmehr angegangen werde. Die Abstandsflächen für die Balkonanlage seien eingehalten.
16
Mit Schriftsatz vom 1. April 2021 erwidert der Klägerbevollmächtigte hierauf nochmals und führt aus, dass die Dachterrasse statisch auf dem Garagengebäude laste. Ohne Garagengebäude könne die Dachterrasse in der vorhandenen Form nicht existieren. Aus den aktenkundigen Schnittzeichnungen sei ersichtlich, dass auch nach dem Entfernen des Mauerwerks die statische Lastübertragung von der Dachterrasse auf das Garagengebäude erfolge. Da Bauwerke aus unterschiedlichen Materialien hergestellt werden könnten, könne es keinen Unterschied machen, ob die Lastübertragung von der Dachterrasse auf das Garagengebäude durch Mauerwerk oder durch eine Stahlkonstruktion vorgenommen werde. Die nach der Planung statisch auf das Garagengebäude ablastende Terrasse sei auf der grenzständigen Garage errichtet und führe dazu, dass die Garage nicht mehr als abstandsflächenrechtlich privilegiertes Nebengebäude betrachtet werden dürfe.
17
Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichts- und Behördenakte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 20. Oktober 2021 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

18
Über die Klage konnte aufgrund des in der mündlichen Verhandlung am 20. Oktober 2021 ausgesprochenen Verzichts der Beteiligten ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
19
Das Gericht geht davon aus, dass die von der Klägerseite vorgenommene Begrenzung des Klageantrags nur auf den Teil der Baugenehmigung, der die „Dachterrasse“ oberhalb der Grenzdoppelgarage betrifft, zulässig ist. Es handelt sich bei der nach einer ggf. erfolgten Aufhebung des abgrenzbaren Teilaspekts „Dachterrasse“ verbleibenden „Rumpfgenehmigung“ noch immer um einen rechtlich sinnvollen Inhalt einer Baugenehmigung durch Legalisierung des Dachgeschossausbaus, weshalb eine Aufhebung nur „soweit“ nach § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Betracht kommt.
20
Die zulässige Klage ist jedoch unbegründet, da die Baugenehmigung vom 26. Oktober 2020 im Hinblick auf den Aufbau über der Grenzdoppelgarage rechtmäßig ist und die Kläger insofern nicht in eigenen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
21
Einen Rechtsanspruch auf Aufhebung einer Baugenehmigung, die gemäß Art. 68 Abs. 1 BayBO zu erteilen ist, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften, die im bauaufsichtlichen Genehmigungsverfahren zu prüfen sind, entgegenstehen, haben Nachbarn nicht schon dann, wenn die Baugenehmigung objektiv rechtswidrig ist. Einem Kläger kommt im Rahmen einer Drittanfechtungsklage gegen eine an einen Dritten gerichtete Baugenehmigung mithin kein Vollüberprüfungsanspruch zu. Vielmehr kann der Kläger als Nachbar nur solche Rechtsverletzungen ins Feld führen, die auf Normen beruhen, die in qualifizierter und individualisierter Weise gerade auch dem Schutz des Klägers dienen (BVerwG, U.v. 6.10.1989 - 4 C 14/87 - juris, BayVGH, B.v. 26.5.2020 - 15 ZB 19.2231 - juris Rn. 8).
22
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung im Rahmen einer Drittanfechtungsklage ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Behördenentscheidung. Eine davon abweichende Verlagerung auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung kommt allerdings dann in Betracht, wenn sich die Sach- und Rechtslage zugunsten des Genehmigungsinhabers verändert hat, da kein Grund besteht, eine in der Vergangenheit rechtswidrig erteilte Genehmigung aufzuheben, wenn sie mittlerweile sofort wieder erteilt werden müsste (BVerwG, B.v. 23.4.1998 - 4 B 40/98 - juris Rn. 3 m.w.N. = NVwZ 1998, 1179).
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1. Drittschützende Normen, deren Verletzung der Klage zum Erfolg verhelfen könnten, könnten sich hier allenfalls aus dem Abstandsflächenrecht, welches nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 Buchst. b) BayBO im Rahmen des vereinfachten Genehmigungsverfahrens auch Prüfungsgegenstand ist, ergeben.
24
Die Abstandsflächenregelungen des Art. 6 BayBO sind für den Eigentümer des Nachbargrundstücks drittschützend (BayVGH, U.v. 21.7.2020 - 15 B 19.832 - juris Rn. 22 = NVwZ-RR 2020, 1004).
25
Eine Verletzung dieser Norm scheidet jedoch aus. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen.
26
a) Das Gericht fasst die auf der Dachhaut der Garage errichtete Konstruktion als Balkon und damit als Teil des Wohngebäudes auf. Der von der Klägerseite vertretenen Auffassung, dass es sich um eine Dachterrasse und damit um einen unselbständigen Teil der Garage handelt, folgt das Gericht nicht (dazu b). Die durch den Balkon ausgelösten Abstandsflächen sind - trotz insoweit unvollständiger Bauvorlagen - mit Sicherheit eingehalten.
27
Die Abstandsflächenpflichtigkeit eines Balkons ergibt sich schon im Umkehrschluss aus Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BayBO (Art. 6 Abs. 8 Nr. 2 BayBO a.F.). Diese Ausnahmevorschrift von der Abstandsflächenpflicht greift im vorliegenden Fall nicht, da insofern schon die für das Hervortreten zulässigen Maße nach Art. 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b BayBO deutlich überschritten sind.
28
Die von einem Balkon ausgelöste Abstandsfläche ist im Hinblick auf ihre Tiefe gemäß Art. 6 Abs. 4 Satz 2 BayBO nach dem höchsten Punkt der Umwehrung zu bestimmen (BayVGH, B.v. 10.7.2015 - 15 ZB 13.2671 - juris Rn. 16 = BayVBl 2016, 311). Die Maße zur Bestimmung dieses Punktes fehlen in den Bauvorlagen. Dennoch kann eine Verletzung der Abstandsfläche mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Spätestens bei Zugrundelegung der für die Beigeladene günstigen Veränderungen der BayBO durch das „Gesetz zur Vereinfachung baurechtlicher Regelungen und zur Beschleunigung sowie Förderung des Wohnungsbaus“ vom 23. Dezember 2020 (GVBl. S. 663), kann die nach Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO erforderliche Abstandsflächentiefe von 0,4 H sicher eingehalten werden. Der Abstand der Umwehrung zum Ende der Grenzdoppelgarage - und damit zur Grundstücksgrenze zu den Klägern - beträgt laut den Bauvorlagen 3,11 m. Dies würde unter Zugrundlegung einer Abstandsflächentiefe von 0,4 H eine Höhe der Umwehrung von 7,77 m über der natürlichen Geländeoberfläche zulassen. Angesichts der Tatsache, dass die Grenzgarage nur ca. 2,40 m hoch ist, ist ein Verstoß ausgeschlossen.
29
Aus dem gleichen Grund wäre auch eine Rechtsverletzung der Kläger aufgrund bestehender Unbestimmtheit der Bauvorlagen in einem nachbarrechtsrelevanten Bereich mit Sicherheit ausgeschlossen (vgl. dazu BayVGH, B.v. 26.5.2020 - 15 ZB 19.2231 - juris Rn. 11 m.w.N.).
30
b) Eine Verletzung der Abstandsflächen durch eine „Entprivilegierung der Grenzgarage“ aufgrund einer auf deren Dachhaut errichteten Dachterasse liegt hier - entgegen Klägermeinung - nicht vor.
31
Nach Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO sind Garagen in den Abstandsflächen und ohne Einhaltung eigener Abstandsflächen zulässig, wenn sie - neben baulich dimensionalen Grenzen -ohne Aufenthaltsräume errichtet werden. Dieses abstandsflächenrechtliche Privileg kann eine Garage wieder verlieren, wenn eine bauliche Einheit mit einer nicht privilegierten Anlage besteht (BayVGH, B.v. 15.1.2018 - 15 ZB 16.2508 - juris Rn. 12 m.w.N.). Unter welchen Voraussetzungen eine bauliche Einheit im Hinblick auf die hier im Raum stehende Frage der Abgrenzung zwischen einem (zum Wohngebäude zählenden) Balkon und einer zur Entprivilegierung führenden (zur Grenzgarage zählenden) Dachterrasse anzunehmen ist, ist obergerichtlich nicht entschieden (offenlassend BayVGH, B.v. 10.7.2015 - 15 ZB 16.2508 - juris Rn. 15 = BayVBl 2016, 311).
32
Das Gericht geht davon aus, dass die auf der Dachhaut der Grenzdoppelgarage liegende Konstruktion als Balkon und nicht als Dachterrasse aufzufassen ist. Dies ergibt sich aus den baulichen Besonderheiten (aa) und unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der abstandsflächenrechtlichen Privilegierung von Art. 6 Abs. 7 BayBO (bb).
33
aa) Die bauliche Ausführung spricht für einen Balkon. Es bleibt festzuhalten, dass die Anforderungen an einen Balkon im Mindestmaß eine eigenständige Bodenplatte (insofern wohl zustimmend BayVGH, B.v. 10.7.2015 - 15 ZB 16.2508 - juris Rn. 14 = BayVBl 2016, 311) sowie eine eigenständige Umwehrung umfassen. Beides ist laut den Bauvorlagen gegeben.
34
Im konkreten Fall stützt sich der Balkon gemäß den Bauvorlagen zusätzlich mit fünf seiner sechs tragenden Stützen auf den Erdboden. Nur einer der Träger - ohne dass es nach Meinung des Gerichts spezifisch auf diese Zahlen ankäme - kommt auf der Dachhaut der Grenzgarage zum Liegen. Insofern trägt hier das Argument des Beklagten, dass die Grenzgarage auch entfernt werden könnte und der Balkon (mit nach unten verlängerten Trägern) in exakt gleicher Ausführung und Lage errichtet werden könnte.
35
bb) Auch Sinn und Zweck des Abstandsflächenrechts bzw. der abstandsflächenrechtlichen Privilegierung nach Art. 6 Abs. 7 BayBO tragen diese Auffassung.
36
Auch wenn obergerichtlich immer noch Uneinigkeit über diese Frage zu herrschen scheint (vgl. BayVGH, U.v. 21.7.2020 - 15 B 19.832 - juris Rn. 22 = NVwZ-RR 2020, 1004), geht der Gesetzgeber mittlerweile von einer den Sozialfrieden wahrenden Funktion des Abstandsflächenrechts aus (vgl. LT-Drs. 18/8547 S. 13). Diese Schutzkomponente wird für das Gericht anhand der Vorschrift des Art. 6 Abs. 7 BayBO über die Privilegierung bestimmter Anlagen durch mangelnde Abstandsflächenpflicht deutlich. Gemein ist allen nach Art. 6 Abs. 7 BayBO privilegierten Anlagen, dass sie nicht zum Aufenthalt von Menschen bestimmt sind oder sein dürfen. Nur in diesem Fall kommt ein gänzlicher Verzicht auf die Einhaltung von Abstandsflächen überhaupt in Betracht. Art. 6 Abs. 7 BayBO soll Flächen für bestimmte Nebenanlagen schaffen (vgl. BayVGH, B.v. 23.7.2012 - 2 ZB 12.1209 - juris Rn. 13). Dagegen ist die Funktion der Vorschrift gerade nicht, andere (eventuell sogar abstandsflächenpflichtige) Anlagen zu „verhindern“, was sich schon daraus ergibt, dass die privilegierten Anlagen in den Abstandsflächen anderer Anlagen zulässig sind. Mithin muss also unter dem Aspekt des Schutzzwecks nur ein „Übergreifen“ vor allem im Sinne einer unkontrollierbaren Vermischung von Aufenthaltsnutzung und privilegierten Anlagen ausgeschlossen werden.
37
Eine solch unkontrollierbare Vermischung wird hier schon durch die durchgehende Umwehrung des Balkons verhindert. Es besteht weder eine Zugangsmöglichkeit zu den Garagenräumen oder den Abstellräumen vom Balkon, noch kann die Dachhaut der Grenzgarage (außerhalb der Balkonfläche) unproblematisch zum Aufenthalt genutzt werden.
38
Mithin ist von einem, die Abstandsflächen einhaltenden Balkon auszugehen, der keine bauliche Einheit mit der Grenzgarage bildet oder zu deren „Entprivilegierung“ führt.
39
2. Weitere drittschützende Vorschriften sind nicht substantiiert vorgetragen oder sonst ersichtlich. Soweit man in dem klägerischen Vorbringen die Behauptung der Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme wegen Einsichtsmöglichkeiten vom Balkon auf das Klägergrundstück erblicken mag (vgl. BayVGH, B.v. 15.1.2018 - 15 ZB 16.2508 - juris Rn. 20 f.), liegt diese auch in der Sache nicht vor. Schon aus den allgemein zugänglichen Satellitenaufnahmen des Klägergrundstücks sowie den zuletzt eingereichten Bildern der Beigeladenen wird ersichtlich, dass die Hauptaufenthaltsräume der Kläger sowie der wohl größte Aufenthaltsbereich des klägerischen Gartens nach Süden hin situiert sind, während sich der Balkon an der Ostgrenze des Klägergrundstücks befindet. An der Ostgrenze befinden sich weiter die Sicht hemmende größere Bäume und auch nur ein kleinerer „Grünstreifen“ des klägerischen Grundstücks, so dass schon deswegen eine Verletzung des Gebots der Rücksichtnahme durch den Balkon zu verneinen ist.
40
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Da sich die Beigeladene durch Stellung eines Sachantrags auf Klageabweisung selber einem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit gemäß § 162 Abs. 3 VwGO, ihr einen Kostenerstattungsanspruch zuzusprechen. Die Regelung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.