Inhalt

VG Ansbach, Urteil v. 22.09.2021 – AN 6 K 18.01194
Titel:

Zeitliche Dauer der Bewilligung von Leistungen der Eingliederungshilfe im schulischen Bereich

Normenkette:
SGB VIII § 35a, § 36, § 36a
Leitsatz:
Leistungen der Eingliederungshilfe im schulischen Bereich werden üblicherweise für ein Schuljahr bewilligt; entscheidet das zuständige Jugendamt abschlägig über einen solchen Antrag, so bezieht sich diese Ablehnung, ohne dass dies ausdrücklicher Klarstellung in dem ablehnenden Bescheid bedarf, auf ein Schuljahr, d. h. auf das nächste Schuljahr, beziehungsweise, wenn das Schuljahr begonnen hat, auf den Rest des noch laufenden Schuljahres. Bevor Hilfen auf Jahre hinaus selbst beschafft werden, muss der öffentliche Träger der Jugendhilfe, um nicht bloße Zahlstelle auf Dauer zu werden, spätestens nach Ende des üblichen Bewilligungszeitraumes (hier eines Schuljahres) also über den aus Sicht der Klägerin fortbestehenden Bedarf erneut in Kenntnis gesetzt werden. (Rn. 32 und 37)
Schlagworte:
Streitgegenstand und Zulässigkeit der Klage bei schulbezogenen Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe (hier: Dyskalkulietherapie), Voraussetzungen der Selbstbeschaffung, Eingliederungshilfe, schulbezogen, Dyskalkulietherapie, Selbstbeschaffung, Dauer
Fundstelle:
BeckRS 2021, 43750

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Mit ihrer Klage begehrt die Klägerin die Erstattung von Kosten für eine selbstbeschaffte Maßnahme der Eingliederungshilfe in Form der Dyskalkulietherapie.
2
Die Klägerin wurde am …2008 geboren. Ihre Eltern leben getrennt. Mit Schreiben vom 23. Juni 2017, das am 14. August 2017 bei dem Beklagten einging, beantragten die Eltern der Klägerin Hilfe aufgrund einer bei ihr festgestellten Rechenstörung.
3
Aus einem kinder- und jugendpsychiatrischen Gutachten des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie …, vom 4. August 2017, gehen folgende Diagnosen hervor: ADS (F 90.0), emotionale Störung des Kindesalters (F 93.8), klinische Rechenstörung, unterdurchschnittliche Intelligenz, Z. n. Herz-OP, getrennte leibliche Eltern, mittelgradige soziale Beeinträchtigung. Bei der Klägerin seien signifikant unterdurchschnittliche Leistungen in einem standardisierten Rechentest festgestellt worden. Von elf überprüften mathematischen Bereichen lägen zehn im kritischen Bereich. Somit sei eine klinische Rechenstörung zu diagnostizieren. Da bei der Klägerin zudem die Diagnose eines ADS bestehe und sich bereits eine begleitende emotionale Störung mit zahlreichen Ängsten und erheblicher Selbstunsicherheit herausgebildet habe, sei die Entwicklung der Störung hin zu einer seelischen Behinderung aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht wahrscheinlich geworden. Spezifische Hilfen seien sinnvoll und indiziert. Hierzu zähle eine spezifische Therapie der klinischen Rechenstörung. 40 Förderstunden seien anzusetzen.
4
Aus dem Jugendhilfebericht vom 1. Oktober 2017 geht hervor, dass es sich bei der Klägerin um ein aufgeschlossenes Kind mit vielen verschiedenen Interessen handle. Sie habe laut eigenen Angaben viele Freunde in der Schule. Bezüglich der Rechenstörung gebe es in der Schule keine Schwierigkeiten. Laut Stellungnahme der Schule sei das Verhalten der Klägerin wechselhaft. Sie habe zwar Freunde, sei aber auch häufig in Schwierigkeiten verwickelt. Es käme zu Vermeidungsverhalten im Fach Mathematik. Aus den Angaben des Kindes und der Mutter ergebe sich kein Integrationsrisiko.
5
Laut Jahreszeugnis der …Schule über das Schuljahr 2016/2017 ist die Klägerin eine fröhliche, beliebte und bisweilen auch eigenwillige Schülerin, die offen auf andere zugeht. Sie hat Spaß an Scherzen, was manchmal zu Unruhe führt, reagiert jetzt aber rasch auf Ermahnung. Ähnliche Ausführungen finden sich in den Jahreszeugnissen über die Schuljahre 2015/2016 und 2014/2015.
6
Die Klassenleiterin im Schuljahr 2016/2017 nahm am 13. September 2017 Stellung: Bei der Klägerin hätten sich immer größere Schwierigkeiten im Rechnen gezeigt. Es seien bereits Fördermaßnahmen durchgeführt worden. Ihr Verhalten gegenüber Mitschülern sei wechselhaft gewesen. So habe sie zwar einige Freundschaften in der Klasse gehabt, sei aber auch vor allem in den Pausen oft in Streitigkeiten verwickelt gewesen, habe versucht, andere zu dominieren oder gegeneinander auszuspielen. In der Klassengemeinschaft sei sie integriert gewesen.
7
Mit Schreiben vom 26. Oktober 2017 teilte der Beklagte den Eltern der Klägerin mit, dass er beabsichtige, ihren Antrag abzulehnen. Eine diagnostizierte Rechenstörung liege zwar vor, doch sei eine signifikante Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nicht festzustellen. Mit Schreiben vom 9. November 2017 erklärten die Eltern der Klägerin, an ihrem Antrag festzuhalten. Die Begründung werde folgen. Die Eltern der Klägerin erklärten daraufhin mit Schreiben vom 23. November 2017, die Dyskalkulie ihrer Tochter führe zu zahlreichen Ängsten und erheblicher Selbstunsicherheit. Die Klägerin resigniere sofort, sogar bei den einfachsten Aufgaben. Sie werde oft ausgegrenzt, da sie auch aggressiv werden könne. Sie habe Ängste beim Schlafengehen und wolle nicht allein schlafen. In der Entscheidungskonferenz am 29. Dezember 2017 wurde festgehalten, dass aus Sicht des Beklagten aus der Dyskalkulie kein Integrationsrisiko hervorgehe.
8
Mit Bescheid vom 3. Januar 2018 lehnte der Beklagte den Antrag auf Bewilligung ambulanter Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII ab. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass keine Teilhabebeeinträchtigung vorliege. Der Bescheid wurde laut Postzustellungsurkunde den Eltern jeweils am 5. Januar 2018 zugestellt.
9
Mit Schreiben vom 11. Januar 2018, das bei dem Beklagten am 15. Januar 2018 einging, erhob die Mutter der Klägerin Widerspruch. Nach Hinweis durch den Beklagten, dass auch der Vater der Klägerin den Widerspruch unterstützen müsse, wurde die Widerspruchsschrift am 2. Februar 2018 erneut und von Mutter und Vater der Klägerin unterschrieben eingereicht. Mit Schreiben vom 8. Februar 2018 begründeten die Eltern den Widerspruch: Die Klägerin werde von den Mitschülern oft ausgegrenzt, weil sie aggressiv werden könne. Die Klassenleiterin habe bestätigt, dass die Klägerin zunehmend aggressiv werde, andere Schüler schlage und Gegenstände beschädige. Es sei gegenwärtig so weit, dass die Klägerin die Pausen nicht mit anderen Schülern verbringen könne. Sie lenke auch andere Schüler im Unterricht ab. Diese Verhaltensschwierigkeiten hätten sich allmählich als eine Reaktion auf die Probleme im Fach Mathematik entwickelt.
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Aus einer Stellungnahme der Klassenleiterin vom 5. Februar 2018 geht hervor: Die Klägerin verfüge im Unterricht über eine sehr geringe Konzentrationsspanne. Sie sei teilweise nicht beschulbar und lenke andere Kinder dann mit ihrem Verhalten ab. Sie zeige sich in ihrem Verhalten zunehmend aggressiv, schlage andere Schüler, lache sie aus, wenn sie noch nicht so weit seien und beschädige Gegenstände von anderen Kindern. Momentan gebe es kaum einen Tag mehr, an dem sie die Pause mit anderen Kindern im Schulhof verbringen könne. Mit Schreiben vom 22. März 2018 legten die Eltern noch ein Gutachten des Facharztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie …, vor, wegen dessen Inhalts auf die Akte des Beklagten verwiesen wird.
11
Der Beklagte half dem Widerspruch nicht ab.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 23. Mai 2018 wies die Regierung von Mittelfranken den Widerspruch zurück. Eine Teilhabebeeinträchtigung bestehe nicht. Im Bereich der Teilleistungsstörung werde rechtlich eine Beeinträchtigung mit hoher Intensität gefordert. In der Schule seien zwar Probleme aufgetreten, eine totale Vereinzelung sei jedoch nicht zu beobachten. Die Klägerin habe Freunde in der Schule und sei Teil von Kinder- und Jugendgruppen.
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Die Klägerin ließ daraufhin, mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 21. Juni 2018, das am selben Tag per Telefax bei Gericht einging, Klage erheben und beantragen,
Der Bescheid der Beklagten vom 3. Januar 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides der Regierung von Mittelfranken vom 23. Mai 2018 wird aufgehoben.
14
Der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für eine Dyskalkulietherapie zu gewähren.
15
Zur Begründung wurde vorgetragen: Die Klägerin befinde sich seit dem 5. Juni 2018 durchgehend in psychotherapeutischer Behandlung. Die vorliegende Dyskalkulie führe zu Schulängsten über das übliche Maß hinaus, zum Abbruch sozialer Kontakte und zu eskalierenden häuslichen Konflikten. Es sei in der Rechtsprechung anerkannt, dass bei einer schweren Dyskalkulie der Eintritt seelischer Verletzungen und hierauf beruhender sozialer Funktionsstörungen naheliegend sei. Vorgelegt wurde hierzu eine psychotherapeutische Stellungnahme vom 9. Juli 2020, auf deren Inhalt verwiesen wird (Bl. 59 GA). Darüber hinaus sei es nicht zu dem erforderlichen, kooperativen Entscheidungsprozess gekommen.
16
Der Beklagte beantragte,
Die Klage wird abgewiesen.
17
Der Beklagte steht auf dem Standpunkt, eine Rechenstörung sei für sich genommen weder eine seelische Störung noch eine sonstige Krankheit, sondern sie stelle eine Teilleistungsschwäche dar, in deren Folgen psychosoziale Störungen auftreten könnten. Nur wenn zu einer fachärztlich bestätigten psychischen Störung eine Teilhabebeeinträchtigung komme, könne von einer seelischen Behinderung gesprochen werden (VG München, U.v. 22.2.2012 - M 18 K 11.1810). Weder den vorgelegten Zeugnissen noch dem Gutachten des Dr. … oder der Stellungnahme der Schule lasse sich entnehmen, dass die Möglichkeiten der Klägerin zur Teilhabe an der Gesellschaft nennenswert vom alterstypischen Zustand abwichen. Auch die im Klageverfahren vorgelegte psychotherapeutische Stellungnahme ändere nichts an der Beurteilung. Hinsichtlich etwaiger Ausführungen blieben die Ausführungen vage und nicht nachvollziehbar. In verfahrensrechtlicher Hinsicht sei die Entscheidung ebenfalls nicht zu beanstanden. Erforderlich sei eine fachliche Beurteilung, die den Fachkräften des Jugendamtes obliege, an der aber auch andere Stellen und insbesondere die betroffenen Kinder und deren Eltern zu beteiligen seien. Vorliegend hätten die Fachkräfte des Jugendamtes aufgrund ihrer umfassenden Kenntnis des sozialen Umfelds der Klägerin und ihres sozialpädagogischen Sachverstandes nachvollziehbar und zutreffend beurteilt, wie sich die Funktionsbeeinträchtigung auswirke. Soweit die Klägerin Verhaltensauffälligkeiten zeige, seien diese mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auf das Erziehungsverhalten der Eltern und die unterdurchschnittliche Intelligenz der Klägerin zurückzuführen.
18
Die Klägerseite replizierte hierauf, aus den vorgelegten Gutachten ergebe sich, dass infolge der gegebenen Teilleistungsstörung vom Vorliegen einer seelischen Störung auszugehen sei, die auch eine drohende Teilhabebeeinträchtigung in zumindest einem Lebensbereich mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge habe. Eingliederungshilfemaßnahmen hätten noch vor einer totalen Vereinzelung einzugreifen. Die Klägerin zeige sehr wohl auffälliges Verhalten. Die Ausführungen in der zuletzt vorgelegten Stellungnahme seien nicht vage und nicht nachvollziehbar. es werde bestritten, dass die Fachkräfte des Jugendamtes umfassende Kenntnis von dem sozialen Umfeld der Klägerin hätten.
19
Abschließend führte die Klägerseite aus, die Gewährung von Eingliederungshilfe hänge entgegen der Auffassung des Beklagten nicht davon ab, dass ein junger Mensch in seiner Teilhabe wesentlich beeinträchtigt sei. Dies zeige schon ein Vergleich mit den einschlägigen Vorschriften aus dem Erwachsenenrecht. Dass der Beklagte eine Prognoseentscheidung zu treffen habe, bedeute nicht, dass ihm hier ein Beurteilungsspielraum zukomme. Der Beklagte habe nicht hinreichend dargelegt, aufgrund welcher Feststellungen er zu der Überzeugung gelange, dass der Eintritt einer seelischen Behinderung nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen sei. Soweit ausgeführt werde, die Familie sei dem Allgemeinen Sozialdienst aufgrund verschiedener Gefährdungsmeldungen bekannt, sei dies noch im Einzelnen darzulegen. Ergänzend werde diesbezüglich Akteneinsicht beantragt. Inhalt der Therapie sei nicht nur die gezielte Behandlung der Rechenstörung, sondern auch das gesamte psychosoziale Geschehen. Hilfsweise komme eine Hilfe zur Erziehung in Betracht. Da der Beklagte einräume, dass Anspruch auf Schulbegleitung wegen der ADS-Diagnose bestehe, sei wohl auch eingeräumt, dass die Voraussetzungen des § 35a SGB VIII vorliegen.
20
In der mündlichen Verhandlung am 22. September 2021 erklärte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin auf entsprechenden gerichtlichen Hinweis, dass der Antrag der Klägerin seiner Auffassung nach nicht zeitbezogen gewesen sei und dass auch der streitgegenständliche Bescheid seiner Auffassung nach keine zeitliche Beschränkung enthalten habe. Weiterhin erklärte er, es gehe um die Erstattung selbstbeschaffter Therapiestunden (34 Stunden 2018, 46 Stunden 2019 und 12 Stunden 2020), für die jeweils 55,- EUR bezahlt worden seien. Hierzu legte er eine Aufstellung der pädagogischen Praxis „…“ vor.
21
Die Klägerin beantragte abschließend:
22
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für eine Dyskalkulietherapie durch Übernahme der Kosten in Höhe von 5.060,- EUR für die selbstbeschafften Therapiestunden bei „…“ gemäß vorgelegter Aufstellung zu gewähren.
23
Der Beklagte beantragte
24
Klageabweisung.
25
Wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung im Übrigen wird auf die Niederschrift in der Gerichtsakte verwiesen.
26
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Akten des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

27
I. Die Klage war abzuweisen, da sie teilweise nicht zulässig, im Übrigen aber unbegründet ist.
28
1. Soweit die Klägerin Kosten für die selbst beschaffte Dyskalkulietherapie, die ab Beginn des Schuljahres 2018/2019 und später angefallen sind, geltend macht, ist die Klage schon nicht zulässig; hilfsweise ist sie jedenfalls unbegründet.
29
a) Die Klage ist diesbezüglich nicht zulässig, da sich die Klägerin nicht vorab an den Beklagten gewandt hat.
30
aa) Vor Erhebung einer Verpflichtungsklage hat die Klägerseite ein Verwaltungsverfahren zu durchlaufen und muss sich dementsprechend vorab mit ihrem Anliegen an die zuständige Behörde gewandt haben (vgl. Sodan, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Auflage 2018, § 42 VwGO Rn. 37).
31
bb) Der am 14. August 2017 (Eingang bei dem Beklagten) gestellte Antrag auf Bewilligung einer Dyskalkulietherapie genügt diesen Anforderungen nur bezüglich des Schuljahres 2017/2018 und im Übrigen, hinsichtlich aller nachfolgenden Schuljahre, die hier Klagegegenstand sind, nicht, denn er konnte sich nicht auf Zeiträume nach Ende des Schuljahres 2017/2018 beziehen. Mit dem streitgegenständlichen Bescheid in der Fassung des entsprechenden Widerspruchsbescheides wurde lediglich über das Vorliegen der Voraussetzungen der Eingliederungshilfe im Schuljahr 2017/2018 entschieden, sodass mit dem Vorgehen gegen diesen Bescheid und der Klage auf Erstattung der Kosten der Selbstbeschaffung lediglich dieser Zeitraum zulässigerweise zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens gemacht werden konnte.
32
(1) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich auch die obergerichtliche Rechtsprechung angeschlossen hat, handelt es sich bei Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nicht um Dauerleistungen, d. h. um Leistungen, die einmal auf unbestimmte Zeit bewilligt werden, sondern um Leistungen, die nur für bestimmte Zeiträume oder Kontingente bewilligt werden. Ein Antrag auf die Bewilligung einer solchen Leistung, der abgelehnt wurde, kann daher nur in dem zeitlichen Umfang, in dem über ihn entschieden wurde, d. h. bezüglich des nächsten Bewilligungsabschnitts, Gegenstand einer Klage werden (vgl. BVerwG in ständiger Rechtsprechung, beispielsweise U.v. 26.11.1981 - 5 C 56/80 - BeckRS 1981, 5546; vgl. OVG Münster, B.v. 22.10.2012 - 12 E 1003/12 - juris).
33
(2) Leistungen der Eingliederungshilfe im schulischen Bereich werden üblicherweise für ein Schuljahr bewilligt; entscheidet das zuständige Jugendamt abschlägig über einen solchen Antrag, so bezieht sich diese Ablehnung, ohne dass dies ausdrücklicher Klarstellung in dem ablehnenden Bescheid bedarf, nach Auffassung der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Köln auf ein Schuljahr (vgl. VG Köln, U.v. 23.9.2020 - 26 K 756/18 - BeckRS 2020, 30126). Da sich eine Entscheidung des Jugendamtes auch im Falle einer Ablehnung damit maximal auf das nächste Schuljahr, beziehungsweise, wenn das Schuljahr begonnen hat, auf den Rest des noch laufenden Schuljahres bezieht, kann auch vorab nicht mehr als eine Entscheidung über diesen Antrag in diesem zeitlichen Umfang beantragt werden.
34
(3) Das Gericht folgt dieser Auffassung. Hätte der Beklagte die Leistung bewilligt, so wäre dies nicht auf Dauer geschehen; da es sich um eine Leistung handelt, die sich auf den schulischen Bereich bezieht, ist bei lebensnahem Verständnis davon auszugehen, dass mit dem Antrag vom 14. August 2017 lediglich eine Bewilligung für das Schuljahr 2017/2018 zu erreichen war. Im Falle einer Bewilligung hätte dann auch ein weiterer Antrag auf Fortsetzung der Hilfe im Schuljahr 2018/2019 gestellt werden müssen beziehungsweise hätte der Beklagte gesondert davon in Kenntnis gesetzt werden müssen, dass der Bedarf aus Sicht der Klägerin fortbesteht. Wird der Antrag abgelehnt, kann spiegelbildlich nichts anderes gelten. Der Beklagte konnte schon keine Leistung auf Dauer bewilligen und so konnte er auch die Leistung nicht für alle Zukunft ablehnen. Nach Ende des Schuljahres hätte die Beklagte also erneut über den Bedarf in Kenntnis gesetzt werden und ein erneutes behördliches Prüfungsverfahren hätte in der Folge stattfinden müssen. Die Klägerin wandte sich jedoch nicht an den Beklagten, sondern beschaffte die begehrte Hilfe auch weiterhin selbst, ohne dass sie dem Beklagten die Gelegenheit gab, das Verfahren nach § 36 SGB VIII noch einmal durchzuführen.
35
b) Hilfsweise ist die Klage diesbezüglich jedenfalls unbegründet, da dem Beklagten der (aus Sicht der Klägerin fortbestehende) Bedarf nicht vor der Selbstbeschaffung ab dem Schuljahr 2018/2019 mitgeteilt wurde.
36
aa) § 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII bestimmt, dass der zuständige Träger der öffentlichen Jugendhilfe nur dann zum Ersatz der Aufwendungen für selbst beschaffte Hilfen verpflichtet ist, wenn (unter anderem) der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vorab über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat.
37
bb) Nach oben Dargestelltem hätte, da sich die ablehnende Entscheidung des Jugendamtes nur auf das Schuljahr 2017/2018 bezog und beziehen konnte, die Klägerin den Beklagten vor jedem neuen Schuljahr darüber in Kenntnis setzen müssen, dass der Bedarf aus ihrer Sicht fortbestehe. Nur auf diese Weise wäre es dem Beklagten möglich gewesen, jeweils zu überprüfen, ob ein Bedarf tatsächlich (fort-)besteht. Gerade dann, wenn, wie vorliegend, Hilfen selbst beschafft werden, ist durchaus zu erwarten, dass im Laufe eines Schuljahres Änderungen eintreten, die sich auf den Bedarf auswirken und eine andere Gestaltung, auch einen erhöhten Umfang der Leistung (oder auch deren Einstellung) rechtfertigen. Bevor Hilfen auf Jahre hinaus selbst beschafft werden, muss der öffentliche Träger der Jugendhilfe, um nicht bloße Zahlstelle auf Dauer zu werden, spätestens nach Ende des üblichen Bewilligungszeitraumes (hier eines Schuljahres) also über das aus Sicht der Klägerin Fortbestehen des Bedarfs erneut in Kenntnis gesetzt werden. Anderenfalls drohen der Charakter der Jugendhilfeleistungen, keine Dauerleistung zu sein, und die Wertung des § 36a Abs. 3 SGB VIII, der zu verhindern bezweckt, dass das Jugendamt bloße Zahlstelle wird, unterlaufen zu werden.
38
cc) Zusammenfassend kann es nach den Wertungen des Kinder- und Jugendhilferechts und der Natur der begehrten Leistung nicht richtig sein, dass die Klägerin auf Grundlage eines einzigen Antrags und eines Hilfeplanverfahrens über Jahre hinaus Leistungen selbst beschafft. So wie auch im Falle einer Bewilligung das Fortbestehen der Voraussetzungen durch Stellung eines weiteren Antrags und einer weiteren Überprüfung im Rahmen eines Verfahrens nach § 36 SGB VIII erwiesen werden muss, muss auch im Falle einer Ablehnung, wenn der Zeitraum, für den eine Bewilligung bestenfalls erwartet werden konnte, verstreicht, das Fortbesten des Bedarfs erneut mitgeteilt werden. Auf Grundlage eines Antrags, zu dessen Untermauerung ein Gutachten vorgelegt wird, in dem von 40 Therapiestunden gesprochen wird (einem Kontingent, das normalerweise innerhalb eines Schuljahres aufgebraucht ist), kann die Klägerin keine 92 Therapiestunden selbst beschaffen.
39
2. Soweit die Klägerin die Erstattung von Kosten für selbst beschaffte Hilfen im Schuljahr 2017/2018 begehrt, ist ihre Klage zulässig, aber unbegründet, da die Voraussetzungen der Bewilligung von Eingliederungshilfe nach § 35a Abs. 1 SGB VIII nicht vorlagen und damit auch keine Selbstbeschaffung zulässig war, § 36a Abs. 3 Nr. 3 SGB VIII.
40
aa) Nach § 35a Abs. 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (§ 35 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII). Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder oder Jugendliche dabei dann, wenn eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).
41
bb) In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist das Vorgehen des Beklagten nicht zu beanstanden.
42
Die Vorgaben des § 36 SGB VIII wurden insgesamt eingehalten. Insbesondere kann dem Beklagten nicht durchgreifend zur Last gelegt werden, den die Klägerin begutachtenden Facharzt Dr. … bei der Klärung der Frage, ob eine Teilhabebeeinträchtigung vorliegt oder droht, nicht mehr zurate gezogen zu haben. Ob eine Beeinträchtigung der seelischen Gesundheit vorliegt, ist auf der Grundlage fachärztlicher Einschätzung zu beurteilen. Ob hingegen eine Teilhabebeeinträchtigung vorliegt oder droht, ist im Rahmen sozialpädagogischer Beurteilung zu bestimmen und ist nicht mehr Aufgabe eines Psychotherapeuten (vgl. Bohnert, in: Gsell/Krüger/Lorenz/Reymann, Beck-Online Großkommentar, Stand: 1.7.2021, § 35a SGB VIII Rn. 46), sodass es jedenfalls im vorliegenden Fall aufgrund der hier gegebenen Umstände - die für das Schuljahr 2017/2018 vorliegenden Dokumente zeigen deutlich, dass eine Teilhabebeeinträchtigung zumindest damals nicht drohte (dazu unten mehr) - nicht zu beanstanden ist, dass der Beklagte nicht noch einmal Rücksprache hielt und die Teilhabebeeinträchtigung verneinte.
43
cc) Im Schuljahr 2017/2018 war eine Beeinträchtigung der Teilhabe nicht vorhanden und sie drohte auch nach den damals eingeholten und dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen nicht.
44
Eine Beeinträchtigung der Teilhabe liegt vor, wenn die Fähigkeit des Betroffenen zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt ist, wenn also nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass der Betroffene aktiv, selbstbestimmt und altersgemäß soziale Funktionen und Rollen in den verschiedenen Lebensbereichen wie Familie, Freundeskreis, Schule und Freizeit ausüben kann (vgl. OVG Weimar, U.v. 19.1.2017 - 3 KO 656/16 - BeckRS 2017, 128900, Rn. 36). Eine solche Beeinträchtigung droht, wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII). Für die Bewilligung von Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII genügt bereits das Drohen einer Teilhabebeeinträchtigung.
45
Eine Teilhabebeeinträchtigung drohte jedoch im Schuljahr 2017/2018 nicht. Aus den vorgelegten Zeugnissen, den Aussagen der Eltern und den Stellungnahmen der Schule geht insgesamt hervor, dass die Klägerin zwar nicht selten Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern hatte, dass aber diese Probleme jedenfalls damals nicht das Maß einer Teilhabebeeinträchtigung erreichten. Die Klägerin wurde eben auch als durchaus integrierte und geachtete Schülerin beschrieben, die zudem diversen Aktivitäten außerhalb der Schule nachging. Sie wurde als aufgeschlossenes Kind mit vielseitigen Interessen beschrieben; nach ihren eigenen Angaben soll sie viele Freunde gehabt haben. Seitens der Schule wurde erklärt, dass sie fröhlich und beliebt gewesen sei und offen auf andere zugehe. Trotz der bestehenden Probleme ergibt sich aus den vorliegenden Unterlagen nicht das Bild einer der totalen Vereinzelung anheimfallenden Schülerin; auch völlige Schulverweigerung oder gravierende Schulängste waren jedenfalls damals nicht ersichtlich. Die zuletzt vorgelegte, psychotherapeutische Stellungnahme vom 9. Juli 2020 vermag an dieser Einschätzung nichts zu ändern. Eine Teilhabebeeinträchtigung im Bereich der Teilleistungsstörungen wie Legasthenie und Dyskalkulie wird jedoch in der Rechtsprechung nur unter diesen strengen Voraussetzungen angenommen (vgl. OVG Koblenz, B.v. 26.3.2007 - 7 E 10212/07 - NJW 2007, 1993 ff, 1994).
46
Ob sich dies später änderte, kann vorliegend offenbleiben, da die Klage diesbezüglich nicht zulässig beziehungsweise wegen unterbliebener Mitteilung des Hilfebedarfs nicht begründet ist (s. oben).
47
3. Nach alledem war die Klage abzuweisen.
48
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 161 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nach § 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708, 711 ZPO.