Inhalt

VG München, Urteil v. 12.10.2021 – M 30 K 17.48115
Titel:

Erfolgreiche Klage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots (Sierra Leone, Homosexualität)

Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1, § 34, § 38 Abs. 1, § 77 Abs. 1 S. 1, Abs. 2
AufenthG § 11, § 59, § 60 Abs. 5, Abs. 7
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann das bloße Bestehen von Rechtsvorschriften, nach denen homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, allein nicht als Verfolgungsmaßnahme qualifiziert werden. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die sich aus der Homosexualität eines Asylsuchenden ergebenden erschwerten Zugangsmöglichkeiten zum Arbeits- und Wohnungsmarkt können aufgrund der derzeit bestehenden wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse in Sierra Leone im Einzelfall bei Vorliegen einer nicht lediglich unerheblichen Einschränkung der Erwerbsfähigkeit zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG führen. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Herkunftsland: Sierra, Leone, Homosexualität, Erwerbsminderung durch psychische Erkrankung, Existenzminimumsicherung (verneint), Abschiebungsverbote (bejaht), Asylantrag, Sierra Leone, Furcht vor Verfolgung, anderweitige Verfolgung, staatliche Schutzgewährung, Abschiebungsverbot, Sicherung des Existenzminimums, verminderte Erwerbsfähigkeit, psychische Erkrankung, unmenschliche Verhältnisse
Fundstelle:
BeckRS 2021, 42582

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 7. September 2017 wird in den Nrn. 4. bis 6. aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Sierra Leone vorliegen.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger ⅔ und die Beklagte ⅓.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein nach eigenen Angaben am … geborener sierra-leonischer Staatsangehöriger vom Volke der Limba, stellte am 8. Dezember 2014 einen Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (fortan: Bundesamt).
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Der Kläger gab bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 30. August 2016 an, dass er im Jahr 2012 aus Sierra Leone ausgereist und über Guinea, Nigeria, Ägypten, Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn im Oktober 2014 nach Deutschland eingereist sei. Sein Vater sei bereits während des Bürgerkriegs getötet worden. Seine Mutter, welche außerhalb von Freetown lebe, habe er nie besucht. Zusätzlich habe er noch einen Stiefbruder von einer anderen Frau seines Vaters und einen vermögenden etwa 60 Jahre alten Onkel väterlicherseits, bei welchem er aufgewachsen sei. Er sei sechs Jahre lang zu Primary School gegangen und habe diese auch abgeschlossen. Eine Ausbildung habe er nie erlernt. Auf der Straße habe er Waren verkauft. Befragt zu seinem Verfolgungsschicksal erklärt der Kläger, dass er aufgrund seiner Homosexualität verfolgt werde. Da sein Onkel ihn wegen seiner sexuellen Orientierung geschlagen habe, habe er diesen im Alter von 14 Jahren verlassen und stattdessen auf der Straße gelebt. Dieser habe anderen Personen auch von der klägerischen Homosexualität erzählt, weshalb er sozial ausgegrenzt worden sei. Aus dem Land geflohen sei er aber, weil er, nachdem man ihm beim Geschlechtsverkehr mit einem anderen Mann erwischt habe, einen Monat lang auf der Polizeistation festgehalten habe. Als er nach einem Monat eine gerichtliche Anhörung erhalten hätte, sei er während der Gerichtsverhandlung auf die Toilette gegangen und durch das Fenster des Gerichts geflohen und habe sich sofort nach Gambia abgesetzt. Bei einer Rückkehr befürchte er, wieder ins Gefängnis gesteckt zu werden.
3
Bei einer ergänzenden Anhörung am 10. August 2017 erklärte der Kläger, dass ihm hinsichtlich der letzten Anhörung ein Fehler hinsichtlich seines Reiseweges unterlaufen sei. Er habe nicht sagen wollen, dass er in der Nacht nach Gambia geflohen sei, sondern vielmehr in die Stadt … in Sierra Leone. Des Weiteren führte der Kläger näher zu seiner Homosexualität aus. Im Wesentlichen trägt er vor, dass er im Alter von 14 Jahren, nach dem gemeinsamen Duschen und dem sich dabei vollziehenden Geschlechtsverkehr mit seinem Cousin, sich seiner Homosexualität gewahr geworden sei. Auch in der Folge habe er immer wieder Männer getroffen. In … halte er sich häufiger, ungefähr zweimal in der Woche, im „Sub“ auf. Dort gäbe es Beratungen; außerdem könne er sich dort mit anderen Männern austauschen. In Sierra Leone habe er nur seinem Onkel von seiner Homosexualität erzählt. Auch seine beiden Cousins und seine Cousine hätten hiervon gewusst. Nach seinem Outing bei seinem Onkel, sei er von diesem aus der Wohnung geschmissen worden. In Deutschland führte er eine Beziehung mit einem Mann. Da dieser bereits 66 Jahre alt sei, hätten sie eine offene Beziehung. Hinsichtlich der Ereignisse im Gericht trägt der Kläger vor, dass er drei Stunden lang auf seinen Gerichtstermin gewartet habe. Während dieser Zeit sei er von einem Polizisten begleitet worden. Dieser habe sich jedoch einmal für fünf bis zehn Minuten fortbewegt, um sich etwas zu essen zu holen. Während dieser Zeit sei er alleine gewesen. Aus dem Gericht konnte er fliehen, da er Bauchschmerzen vorgetäuscht hätte und ihn dann ein Polizist dann bis vor die Toilette begleitet und vor der Tür Wache gehalten habe. Er sei dann ungefähr eine halbe Stunde lang auf der Toilette gewesen und habe eine Art Knetmasse, welche sehr, sehr hart aber brüchig gewesen sei und um die gesamte Fensterscheibe befestigt war, mit seinen Fingernägeln gelöst; so habe er fliehen können. Das Fenster habe eine ungefähre Größe von 45 cm Breite und 60 cm Höhe gehabt. Durch dieses Loch habe er sich dann hindurchbewegt und sei auf der unmittelbar anliegenden H.-straße herausgekommen.
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Das Bundesamt lehnte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 7. September 2017 Gesch.-Z.: … ab. Eine Flüchtlingseigenschaft wurde nicht zuerkannt (Nr. 1), der Antrag auf Asylanerkennung wurde abgelehnt (Nr. 2), der subsidiäre Schutzstatus wurde ebenfalls nicht zuerkannt (Nr. 3). Des Weiteren wurde festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorlägen (Nr. 4). Im Übrigen wurde die Abschiebung angedroht (Nr. 5) und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung führt das Bundesamt aus, dass der Kläger eine begründete Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft gemacht habe. Dessen Angaben zu den fluchtauslösenden Ereignissen sein arm an Details, vage und oberflächlich gewesen. Insgesamt seien die Ausführungen widersprüchlich und nicht nachvollziehbar. Zwar würden die Angaben hinsichtlich der vorgetragenen Homosexualität des Klägers nicht in Zweifel gezogen, doch bestünden hinsichtlich der konkreten fluchtauslösenden Ereignisse Widersprüche und Ungereimtheiten; dies beträfe insbesondere die Ausführungen hinsichtlich seiner Inhaftierung, der Vorführung vor Gericht sowie die anschließende Flucht. Während der Kläger bei seiner ersten Anhörung am 30. August 2016 vortrug, dass vor seiner Flucht seine Gerichtsverhandlung stattgefunden habe, erklärte er im Rahmen der zweiten Anhörung, dass er drei Stunden lang auf eine Gerichtsverhandlung gewartet hätte, bevor er geflohen sei. Weiter erscheint es ungewöhnlich, dass ein Polizist den Kläger für die Dauer von fünf bis zehn Minuten völlig unbeaufsichtigt und alleine zurücklasse; weshalb der Kläger diesen Moment nicht zur Flucht genutzt habe, erscheint ebenso verwunderlich. Wirklichkeitsfern erscheine weiterhin, dass es dem Kläger möglich gewesen sein soll, innerhalb von 30 Minuten ein verschlossenes Fenster durch das Lösen einer Art Knetmasse mit den Fingern aufzubrechen und es diesem auch noch durch das laufenlassen des Wasserhahns und der Erzeugung von „Grummelgeräuschen“ gelungen sein soll, den Polizisten zu überlisten. Auch der subsidiäre Schutzstatus sei nicht zuzuerkennen; ebenso wenig seien Abschiebungsverbote festzustellen. Der Kläger sei ledig und befinde sich im arbeitsfähigen Alter. Er unterliege auch keinerlei Unterhaltsverpflichtungen. Krankheitsbedingte Einschränkungen seien weder ausreichend vorgetragen noch lägen diese nach den Erkenntnissen des Bundesamtes vor. Es sei daher davon auszugehen, dass der Kläger in der Lage sein werde, sich einen Lebensunterhalt zu sichern. Aus dem vorgelegten Attest ergäbe sich ferner kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Im Übrigen wird auf die Bescheidsbegründung Bezug genommen.
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Der Kläger ließ durch seinen Prozessbevollmächtigten gegen diesen Bescheid am 22. September 2017 Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben. Zu ihrer Begründung lässt er vortragen, dass ihm aufgrund seiner Homosexualität eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zustehe. Darüber hinaus bestünde ein Abschiebungsverbot im Sinne von § 60 Abs. 7 AufenthG. Er sei psychisch sehr belastet gewesen und deswegen in ärztlicher Behandlung. In seinem Heimatland könne er nicht behandelt werden und müsse damit rechnen, bei einer Rückkehr gesundheitlich beeinträchtigt zu werden. Er leide an einer gemischten schizoaffektiven Störung (ICD10: F25.2 G). Dabei handele es sich um eine dauerhafte Erkrankung, welche für eine signifikante Besserung des aktuellen Zustands eine Behandlung von mindestens zwei bis drei weiteren Jahren erfordere. Im Falle eines Behandlungsabbruchs sei von einer massiven gesundheitlichen Verschlechterung in Form einer paranoiden Psychose auszugehen und einer erheblichen Suizidgefahr.
6
Der Kläger beantragt,
1. Den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 07.09.2017, Geschäftszeichen: …, zugestellt am 11.09.2017, aufzuheben.
2. Die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass die Voraussetzungen zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen, hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des AufenthG bestehen.
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Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Dem Kläger stehe aufgrund der geltend gemachten Erkrankung(en) kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG zu. Den Anforderungen des § 60 Absatz 2c AufenthG werde die übermittelte fachärztliche Stellungnahme vom 8. August 2019 offenkundig nicht gerecht. Nichts anderes gelte für die übrigen ärztlichen Dokumente, welche bislang vom Kläger eingereicht worden sein. Hierzu führt das Bundesamt näher aus.
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Im Übrigen wird auf die Gerichtsakte, die vorgelegten Behördenakten sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 7. Oktober 2021 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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I. Die zulässige Klage ist teilweise begründet. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamts vom 7. September 2017 ist hinsichtlich der Nummern 4. bis 6. rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, da dieser zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG bezüglich einer Abschiebung nach Sierra Leone hat. Die auf der Ablehnung des Asylantrags als unbegründet beruhende Ausreiseaufforderung mit 30tägiger Ausreisefrist und die Abschiebungsandrohung gemäß §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG und dessen Befristung sind in der Folge ebenfalls zu beanstanden. Im Übrigen ist die Klage unbegründet.
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1. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) weder einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 ff. AsylG noch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG.
12
1.1 Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischer Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Von einer Verfolgung kann nur dann ausgegangen werden, wenn dem Einzelnen in Anknüpfung an die genannten Merkmale gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die wegen ihrer Intensität den Betroffenen dazu zwingen, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielten Rechtsverletzung fehlt es regelmäßig bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Herkunftsland zu erleiden hat, etwa infolge von Naturkatastrophen, Arbeitslosigkeit, einer schlechten wirtschaftlichen Lage oder infolge allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolution und Kriegen (vgl. OVG Münster, U.v. 28.3.2014 - 13 A 1305/13.A - juris Rn. 21 f. m.w.N.). Eine Verfolgung kann dabei gem. § 3c AsylG ausgehen von einem Staat, Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebietes beherrschen oder von nichtstaatlichen Akteuren, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Weiter darf für den Ausländer keine innerstaatliche Fluchtalternative bestehen (§ 3e AsylG), deren Inanspruchnahme zumutbar ist. Bei der Bewertung der Frage, ob die Furcht eines Ausländers vor Verfolgung begründet ist, ist es gemäß § 3b Abs. 2 AsylG unerheblich, ob er tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
13
Subsidiärer Schutz ist einem Ausländer zuzuerkennen, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). Die §§ 3c bis 3e AsylG gelten entsprechend (§ 4 Abs. 3 AsylG).
14
Die Furcht vor Verfolgung sowie die Gefahr eines ernsthaften Schadens ist begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32). Die Tatsache, dass ein Drittstaatsangehöriger bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ist gem. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Betroffene erneut von solcher Verfolgung bedroht wird.
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Hinsichtlich einer individuellen Verfolgung oder Bedrohung muss das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich ein Ausländer insbesondere hinsichtlich individueller Gründe für einen asylrechtlichen Schutzstatus befindet, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung. Dabei sind die Herkunft, der Bildungsstand und das Alter des Asylsuchenden sowie sprachliche Schwierigkeiten zu berücksichtigen. Dem Ausländer obliegt es aber dennoch, gegenüber dem Tatsachengericht einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern. Daher ist Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ein geeigneter Vortrag, welcher den Asylanspruch hinsichtlich der in die eigene Sphäre des Asylsuchenden fallenden Ereignissen - insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen - lückenlos trägt (vgl. BVerwG, U.v. 8.5.1984 - 9 C 141/83 - juris Rn. 11). Der Ausländer muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen; er muss kohärente und plausible wirklichkeitsnahe Angaben machen (vgl. BVerwG, B.v. 21.7.1989 - 9 B 239/89 - NVwZ 1990, 171; BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 109/84 - NVwZ 1985, 658; BVerwG, U.v. 8.5.1984 - 9 C 141/83 - juris Rn. 11). Bei erheblichen Widersprüchen oder Steigerungen im Sachvortrag sowie in Fällen, in welchen der Vortrag nach den Erkenntnismaterialien, der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, kann dem Asylsuchenden in der Regel nur bei einer überzeugenden Auflösung der Unstimmigkeiten geglaubt werden (vgl. VGH Kassel, U.v. 4.9.2014 - 8 A 2434/11.A - juris Rn. 15; VGH Mannheim, U.v. 27.8.2013 - A 12 S 2023/11 - juris Rn. 35; BVerwG, B.v. 23.5.1996 - 9 B 273/96 - juris Rn. 2; B.v. 21.7.1989 - 9 B 239/89 - NVwZ 1990, 171; U.v. 8.2.1989 - 9 C 29/87 - juris Rn. 8; U.v. 23.2.1988 - 9 C 273/86 - juris Rn. 11; B.v. 12.9.1986 - 9 B 180/86 - juris Rn. 5; U.v. 16.4.1985 - 9 C 109/84 - NVwZ 1985, 658).
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1.2 In Anwendung dieser Maßstäbe liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3 ff. AsylG oder des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG beim Kläger nicht vor.
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1.2.1 Der klägerische Vortrag, dieser sei wegen seiner Homosexualität von der Polizei festgenommen und vor Gericht gestellt worden sowie der in diesem Zusammenhang ergangene Vortrag zur Flucht aus dem Gerichtsgebäude sind - unabhängig von der nach der Überzeugung des Gerichts bestehenden homosexuellen Orientierung des Klägers - nicht glaubhaft. Diesbezüglich wird auf die ausführlichen Gründe des streitgegenständlichen Bescheids nach § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen; der Kläger ist der Bescheidsbegründung in der mündlichen Verhandlung auch nicht entgegengetreten.
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1.2.2 Auch aus der zur Überzeugung des Gerichts bestehenden homosexuellen Orientierung des Klägers ergeben sich keine Ansprüche aus §§ 3 ff., 4 AsylG.
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1.2.2.1 Zwar ist aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks von dem Kläger das Gericht davon überzeugt, dass dieser homosexuell ist. Der Kläger hat überzeugend und widerspruchsfrei seine homosexuelle Ausrichtung geschildert und die Fragen des Gerichts, insbesondere zu seinem inneren „Coming out“ beantwortet. So schilderte der Kläger nachvollziehbar, wie er im Jungendalter für sich selbst entdeckte, dass er sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlte. Dabei schilderte er auch seine aufgrund seiner sexuellen Orientierung zunächst bestehenden inneren Konflikte und Ängste und wie er diese für sich überwunden hat. Der Kläger schilderte des Weiteren offen und detailliert, wie er in Deutschland seine sexuellen Neigungen lebt und sich der in … vorhandenen …-Szene angeschlossen hat; in diesem Zusammenhang ist insbesondere auf das in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Buch über Geschichten von …-Schutzsuchenden zu verweisen, welches auch einen Artikel über den Kläger enthält. Darüber hinaus sind die klägerischen Aussagen von dessen ehrenamtlichen Helfer beim Sub e.V. … glaubhaft und glaubwürdig unterstrichen worden.
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1.2.2.2 Dem Kläger droht wegen seiner Homosexualität innerhalb Sierra Leones aber mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keine anderweitige Verfolgung i.S.v. § 3a AsylG oder ein ernsthafter Schaden i.S.v. § 4 AsylG (vgl. stRspr: VG Augsburg, U.v. 23.2.2021 - Au 4 K 20.3005 - juris; U.v. 10.1.2018 - Au 4 K 17.32392 - juris, VG Regensburg, U.v. 9.11.2020 - RN 14 K 18.31212 - juris; U.v. 15.5.2019 - RO 14 K 19.30269 - juris; VG München, U.v. 7.9.2020 - M 30 K 17.47275 - juris; U.v. 28.10.2018 - M 30 K 17.40322 - juris; U.v. 9.11.2018 - M 30 K 17.43175 - juris). Der Begriff der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ ist ein Akt der wertenden tatrichterlichen Erkenntnis auf möglichst gesicherter Tatsachengrundlage (Wittmann in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 8. Edition Stand: 1.5.2021, § 3 Rn. 27 m.w.N.). Es gilt das Regelbeweismaß der vollen richterlichen Überzeugung, mit der Folge, dass es einer im besonderen Maße umfassenden Auswertung aller Erkenntnisquellen zur allgemeinen Lage im Herkunftsland bedarf; wobei das Gericht hierauf aufbauend bei einer unübersichtlichen Tatsachenlage und nur bruchstückhaften Informationen aus einer Vielzahl von Einzelinformationen eine zusammenfassende Bewertung vornehmen muss (BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 37.18 - BeckRS 2019, 19682 Rn. 19).
21
Zwar weisen die dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel darauf hin, dass es ein formal nicht außer Kraft gesetztes Gesetz aus der britischen Kolonialzeit aus dem Jahr 1861 gibt, nach welchem Homosexualität zwischen Männern in Sierra Leone untersagt und mit Freiheitsstrafe bedroht ist (vgl. u.a. Ministerie van Justitie en Veiligheid, Immigratieen Naturalisatiedienst (fortan JenV), Sierra Leone: Positie van LHBT´ers, 28.1.2021, S. 11, 13; Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes zu Sierra Leone v. 11.8.2021; USDOS - U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2016 v. 3.3.2017, 2017 v. 20.4.2018, 2018 v. 13.3.2019, 2019 v. 11.3.2020 sowie 2020 v. 30.3.2021; BFA Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, 3.5.2017). Diese Quellen gehen jedoch davon aus, dass dieses Gesetz in der Praxis gerade nicht angewendet wird. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann das bloße Bestehen von Rechtsvorschriften, nach denen homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, allein nicht als Verfolgungsmaßnahme qualifiziert werden (vgl. EuGH, U.v. 7.11.2013 - C-199/12, C-200/12, C-201/12 - NVwZ 2014, 312). Aus dem bloßen Bestehen eines entsprechenden Gesetzes in Sierra Leone, welches aber in der Praxis nicht angewandt wird, kann sich demnach noch keine relevante Bedrohung für den Kläger ergeben. Hieran ändert auch die sich aus den Erkenntnismitteln ergebende Dokumentation von Verhaftungen von …-Personen nichts (vgl. hierzu und nachfolgend JenV, Sierra Leone: Positie van LHBT´ers, 28.1.2021, S. 13.). Zwar gab es in dem Zeitraum von Dezember 2015 bis Frühjahr 2018 insgesamt fünf Vorgänge an Verhaftungen, wobei die Polizei fast alle Personen nach spätestens einem Tag - wenngleich in einigen Fällen gegen Kaution - wieder freigelassen hat. Dies allein führt aber nicht dazu, dass die geforderte Intensität einer Verfolgungshandlung vorläge, zumal für die Zeit ab dem Frühjahr 2018 bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung in den gerichtlichen Erkenntnismitteln keine weiteren Verhaftungen und Festnahmen durch die Polizei oder Strafanzeigen in Sierra Leone dokumentiert sind.
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Den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ist ferner zu entnehmen, dass Homosexualität von vielen Teilen der Bevölkerung abgelehnt und als Verstoß gegen traditionelle Normen und Werte betrachtet wird (vgl. Reise- und Sicherheitshinweise des Auswärtigen Amtes zu Sierra Leone vom v. 11.8.2021; USDOS - U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2016 v. 3.3.2017, 2017 v. 20.4.2018, 2018 v. 13.3.2019, 2019 v. 11.3.2020 sowie 2020 v. 30.3.2021; BFA Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, 3.5.2017). So belegte Sierra Leone auf dem Global LGBT Acceptance Index (GAI) in dem Zeitraum 2000-2004 mit 4,2 Punkten den Rang 119 und sank im Zeitraum 2012-2017 auf 3,1 Punkte und den Rang 134 ab (JenV, Sierra Leone: Positie van LHBT´ers, 28.1.2021, S. 18). Erkenntnisse, dass eine Ausgrenzung von …-Personen durch Teile der Gesellschaft im Allgemeinen die Intensität einer schutzrelevanten Bedrohung i.S.d. § 3a AsylG oder § 4 AsylG erreichen würden, liegen aber nicht vor (so auch VG Augsburg, U.v. 10.1.2018 - Au 4 K 17.32392 - beck-online Rn 17). So wird zwar berichtet, dass …-Personen neben der Ablehnung und Leugnung durch die eigene Familie auch Schwierigkeiten bei der Wohnungs- und Jobsuche haben (JenV, Sierra Leone: Positie van LHBT´ers, 28.1.2021, S. 18f., 22f.). Privathotels würden doppelte Preise für gleichgeschlechtliche Bewohner verlangen; Ladenbesitzer bei Verdacht auf einen Umgang mit einem …-Kunden die Annahme von Geld ablehnen (JenV, Sierra Leone: Positie van LHBT´ers, 28.1.2021, S. 19). Auch bei der Suche nach medizinischer Hilfe komme es zur Diskriminierung (JenV, Sierra Leone: Positie van LHBT´ers, 28.1.2021, S. 23). Diese allgemeinen Berichte sind aber zur Überzeugung des Gerichts nicht geeignet, bei einer Rückkehr des Klägers eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Einzelfall schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte (§ 3a Abs. 1 AsylG) bzw. einen ernsthaften Schaden (§ 4 AsylG) anzunehmen.
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Auch liegen keine Erkenntnisse dahingehend vor, dass staatliche Stellen in Sierra Leone Personen mit homosexueller Orientierung grundsätzlich keinen Schutz gewähren würden (so auch BayVGH, B.v. 23.11.2017 - 9 ZB 17.30302 - juris Rn 4; B.v. 27.3.2018 - 9 ZB 18.30439 - juris Rn 6). Zwar weisen die Erkenntnismittel darauf hin, dass es vereinzelt zu Übergriffen gekommen sein soll und staatliche Behörden nicht streng genug hiergegen vorgingen (vgl. USDOS - U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2016 v. 3.3.2017, 2017 v. 20.4.2018, 2018 v. 13.3.2019 sowie 2019 v. 11.3.2020; Amnesty International, Länderreport 2014/15 zu Sierra Leone v. 25.2.2015; Länderreport 2019 zu Sierra Leone v. 8.4.2020). Vereinzelt geschilderte Übergriffe belegen jedoch nicht die grundsätzliche Schutzunwilligkeit oder Schutzunfähigkeit des Staates (vgl. BayVGH, B.v. 23.11.2017 - 9 ZB 17.30302 - juris Rn 4; B.v. 27.3.2018 - 9 ZB 18.30439 - juris Rn 6). So ergeben sich aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln Anzeichen für eine langsame Annäherung zwischen der Regierung und Polizei und der …-Minderheit. So hat die Regierung Sierra Leones im Jahr 2018 eine Organisation für Transsexuelle registriert (USDOS - U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2019, 11.3.2020 und 2020 v. 30.3.2021) und die Human Rights Commission Sierra Leone (HRCSL) ermutigt, weiterhin das Bewusstsein für … in der Gesellschaft Sierra Leones zu verbessern (JenV, Sierra Leone: Positie van LHBT´ers, 28.1.2021, S. 17). Auch berichten …-Organisationen, dass die Polizei …-Personen trotz vorhandener Vorurteile mit deutlich vermehrtem Verständnis behandelt (USDOS - U.S. Department of State, Country Reports on Human Rights Practices 2020 v. 30.3.2021, S. 22).
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2. Der Kläger hat aber aufgrund der individuellen, nicht verallgemeinerungsfähigen Umstände dieses Einzelfalls einen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG.
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2.1 Es ist davon auszugehen, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Sierra Leone unmenschlichen Verhältnissen i.S.v. Art. 3 EMRK ausgesetzt wäre.
26
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschliche oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene für den Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Auch wenn es an einem verantwortlichen Akteur für eine erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK fehlt, können auch schlechte humanitäre Verhältnisse ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen (VGH BW, U.v. 12.10.2018 - A 11 S 316/17 - juris Rn 164 m.w.N.), allerdings nur in besonderen Ausnahmefällen, wenn außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Dabei können außergewöhnliche individuelle Umstände auch solche sein, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden (VGH BW, a.a.O. Rn 172 m.w.N.). Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren und somit die jeweiligen Gesamtumstände zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zur Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw. (BayVGH, U.v. 23.3.2017 - 13a B 17.30030 - juris Rn 23; VGH BW, a.a.O. Rn 174 m.w.N.).
27
Auch wenn es sich bei den national begründeten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und dem nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 - 10 C 14.10 - juris Leitsatz), lässt sich der nationale Maßstab für eine extreme Gefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht auf die in § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK getroffene Regelung übertragen. Erforderlich, aber auch ausreichend, ist vielmehr die tatsächliche Gefahr („real risk“), d.h. es muss eine ausreichend reale, nicht nur auf bloßer Spekulation, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr bestehen, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2010 - 10 C 11/09 - juris Rn. 14; VGH BW, a.a.O. Rn 183 ff.).
28
2.2 Unter Berücksichtigung dieser rechtlichen Maßstäbe und vorliegend gegebenen besonderen Einzelfallumstände ist in Bezug auf eine Abschiebung nach Sierra Leone ein Abschiebungsverbot festzustellen.
29
2.2.1 Bei einer Rückkehr in sein Heimatland wird der Kläger sehr schwierige humanitäre und wirtschaftliche Verhältnisse vorfinden, die nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichts für sich jedoch noch kein Abschiebungsverbot begründen.
30
Sierra Leone gehört trotz seines Rohstoffreichtums zu den ärmsten Ländern der Erde. Nach den Jahren des Bürgerkriegs erholt sich das Land wirtschaftlich nur langsam. Sierra Leone ist eines der am wenigsten entwickelten Länder der Welt. Die Wirtschaft Sierra Leones ist geprägt von der Landwirtschaft (überwiegend kleinbäuerliche Subsistenzwirtschaft) und der Rohstoffgewinnung. Das Land ist mit einem Bruttoinlandsprodukt von ca. 4,2 Milliarden US-Dollar und einem Pro-Kopf-Einkommen von ca. 526,5 US-Dollar (FCDO, Foreign, Commonwealth & Development Office, Economic Factsheet, Stand April 2021) eines der ärmsten Länder der Welt und belegt nach dem Human Development Index von 2019 Rang 182 der 189 untersuchten Länder. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 70%) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 1,25 bis 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung; die Arbeitslosenrate im Land ist sehr hoch wobei die Jungendarbeitslosigkeit ein besonderes Problem darstellt (Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Stiftung’s Transformation Index (BTI) 2020 - Sierra Leone Country Report, Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, 2020; Westphal in LIPortal, Sierra Leone, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Stand Dezember 2020). Staatliche oder nichtstaatliche finanzielle Fördermöglichkeiten wie Sozial- oder Arbeitslosenhilfe existieren nicht. Erwerbslose, Kranke, Behinderte und ältere Menschen sind ganz besonders auf die Unterstützung der traditionellen Großfamilie angewiesen. Auch nichtstaatliche oder internationale Hilfsorganisationen bieten in der Regel keine konkreten Hilfen zum Lebensunterhalt. Die Wirtschaft wird mit etwa 54,3% am Bruttoinlandsprodukt vom landwirtschaftlichen Sektor dominiert; der Dienstleistungssektor trägt mit 31,1% und der Industriesektor mit 5,2% zum Bruttoinlandsprodukt bei (FCDO ebd.). Die Mehrheit versucht mit Gelegenheitsjobs oder als Händler/in ein Auskommen zu erwirtschaften. Die Subsistenzwirtschaft wird in Familien oft parallel oder alternativ genutzt, um den Lebensunterhalt zu sichern (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Sierra Leone, Wien am 4.7.2018). Ungelernten Arbeitslosen gelingt es nur durch Hilfstätigkeiten, Gelegenheitsarbeiten (z.B. im Transportwesen), Kleinhandel (z.B. Verkauf von Obst, Süßigkeiten, Zigaretten) und ähnlichen Tätigkeiten etwas Geld zu verdienen und in bescheidenem Umfang ihren Lebensunterhalt sicher zu stellen (vgl. zu damals noch prekäreren Verhältnissen: OVG NRW, B.v. 6.9.2007 - 11 A 633/05.A - juris Rn 28). Die Lebensumstände in Sierra Leone sind also als äußerst schwierig zu bezeichnen. Man geht aber davon aus, dass sich ein junger, gesunder und arbeitsfähiger Mann in Sierra Leone ein Existenzminimum - wenn auch nur durch Gelegenheitsjobs - erwirtschaften kann. (vgl. VG Regensburg, U.v. 11.02.2019 - RN 14 K 17.3514 - juris).
31
Die medizinische Versorgung ist in Sierra Leone nach wie vor schwierig und es herrscht ein ausgeprägter Mangel an Fachärzten (vgl. BFA Republik Österreich a.a.O.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Informationszentrum Asyl und Migration, Glossar Islamische Länder - Band 17 Sierra Leone, Mai 2010).
32
2.2.2 Die tatsächlichen individuellen Umstände des Klägers werden es ihm aber nicht ermöglichen, seinen Lebensunterhalt im Rahmen der vorliegend gegebenen humanitären und wirtschaftlichen Verhältnisse in Sierra Leone zu sichern.
33
Dabei ist zunächst klarzustellen, dass aus Sicht des Gerichts die homosexuelle Orientierung des Klägers und die damit einhergehenden Schwierigkeiten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt für sich genommen noch zu keinem Abschiebeverbot führen; auf obige Ausführungen wird Bezug genommen. Die sich hieraus ergebenden erschwerten Zugangsmöglichkeiten zum Arbeits- und Wohnungsmarkt können aber aufgrund der derzeit bestehenden wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse in Sierra Leone im Einzelfall bei Vorliegen einer nicht lediglich unerheblichen Einschränkung der Erwerbsfähigkeit zu einem Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG führen.
34
In dem vorliegenden Einzelfall besteht aufgrund der klägerischen Erkrankung eine derart - nicht lediglich unerheblich - verminderte Erwerbsfähigkeit, dass der Kläger nicht in der Lage sein wird, mit seiner lediglich geringen Schulbildung und Berufserfahrung im Einzelverkauf in den schwierigen humanitären und wirtschaftlichen Verhältnissen Sierra Leones sich ein Existenzminium zu sichern. Ein soziales Auffangnetz einer (Groß-)Familie wird der Kläger bei einer Rückkehr ebenfalls nicht vorfinden.
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Das Gericht stützt seine Überzeugung von der - nicht lediglich unerheblich - verminderten Erwerbsfähigkeit auf seinen vom Kläger gewonnen Eindruck in der mündlichen Verhandlung sowie die vorgelegten ärztlichen Atteste. Der Kläger gab u.a. an, dass seine psychische Erkrankung ihn bei der Arbeit behindere und er Angst habe, über diese mit seinem Vorgesetzten zu sprechen. Während der gesamten mündlichen Verhandlung wirkte der Kläger sehr angespannt, unsicher und zurückgezogen. Die Körpersprache vermittelte ein Bild einer schwachen körperlichen Konstitution. Der klägerische Vortrag und der gewonnene persönliche Eindruck des Gerichts werden durch die vorgelegten ärztlichen Atteste jedenfalls hinsichtlich der - nicht lediglich unerheblich - verminderten Erwerbsfähigkeit bestätigt. Es kann dahinstehen, ob die vorgelegten ärztlichen Atteste die im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG ebenfalls einzuhaltenden Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG erfüllen, da sich das Abschiebeverbot vorliegend nicht unmittelbar aus der Erkrankung selbst ergibt, sondern aus der Gesamtschau der individuellen Umstände des Klägers, insbesondere seiner - nicht lediglich unerheblich - verminderten Erwerbsfähigkeit und der mit der sexuellen Orientierung einhergehenden Schwierigkeiten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt. Aufgrund der Gesamtschau aller dem Gericht vorliegenden ärztlichen Atteste steht zu dessen Überzeugung fest, dass der Kläger an einer psychischen Erkrankung leidet, die dessen Erwerbsfähigkeit nicht nur unerheblich mindert. Der Kläger befindet sich aufgrund eines psychischen Leidens jedenfalls seit dem Dezember 2014 in ärztlicher Behandlung, das letzte fachärztliche Attest datiert auf den … Juni 2021. Das fachärztliche Attest vom … November 2018 von … … bescheinigt dem Kläger eine seit Jahren behandlungsbedürftige, ernsthafte psychiatrische Erkrankung, die zur Erhaltung der erreichten seelischen Stabilität mit akuten Schwankungen und einer eingeschränkten Arbeitsfähigkeit neben der fortlaufenden medikamentösen Substitution eine Langzeit-Psychotherapie unabdingbar mache. Das ärztliche Attest des … … vom … Juni 2021 bescheinigt dem Kläger eine reduzierte psychische Belastbarkeit und empfiehlt die Unterbringung in einem Einzelzimmer zur Verhinderung einer Verschlechterung oder Chronifizierung der psychischen Erkrankung.
36
Der Kläger wäre daher zur Wiederherstellung und Erhalt einer das Existenzminimum sicherungsfähigen Erwerbsfähigkeit auf eine weitere Betreuung und Behandlung zwingend angewiesen, welche er im Herkunftsland jedoch - unabhängig von der Frage ihrer Finanzierbarkeit - nicht erhalten würde. Aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln geht hervor, dass das „Sierra Leone Psychiatric Teaching Hospital“ im Ort … das einzige psychiatrische Krankenhaus des Landes ist (WHO, Sierra Leone, Mental Health, 2017 - abgerufen unter https://afro.who.int/countries/health-topics?country=874 - Stand: 6.3.2019; Mental health in Sierra Leone, BJPSYCH International, Volume 17 Number 1, Februar 2020). Als Folge des Bürgerkriegs sind psychische Erkrankungen weit verbreitet (BAMF, Länderinformation, Band 17, Mai 2010). Die WHO schätzt, dass in Sierra Leone jeder vierte Mensch in seinem Leben an einer psychischen Erkrankung leiden wird (WHO, a.a.O). Im Jahr 2018 benötigten ungefähr eine Million Menschen in Sierra Leone eine ärztliche Behandlung wegen verschiedener psychischer Erkrankungen wie Depressionen oder Schizophrenie (Süddeutsche Zeitung, Kettenmenschen, 3.3.2018). Derzeit sind neben dem Leiter des „Sierra Leone Psychiatric Teaching Hospital“ nur noch ein weiterer Psychiater des Militärs und ein halbpensionierter Psychiater und früherer Leiter des Krankenhauses tätig; das Krankenhaus verfügt über eine Anzahl von ca. 150 Betten, ca. 19 ausgebildeten und ca. acht in Ausbildung befindlichen Krankenschwestern (Mental health in Sierra Leone, BJPSYCH International, Volume 17 Number 1, Februar 2020). Dass der Kläger unter diesen Umständen Zugang zu einer ausreichenden Behandlung und Betreuung erhält, ist zur Überzeugung des Gerichts ausgeschlossen.
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3. Die auf der Ablehnung des Asylantrags als unbegründet beruhende Ausreiseaufforderung mit 30tägiger Ausreisefrist und die Abschiebungsandrohung gemäß §§ 34, 38 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG sowie das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 AufenthG und dessen Befristung sind in der Folge der Rechtswidrigkeit des Bescheids in der Ziffer 4 ebenfalls rechtswidrig. Dem Kläger steht aufgrund des Bestehens eines Abschiebeverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG ein Bleiberecht zu. Daher sind sowohl die Ausreiseaufforderung, Abschiebungsandrohung als auch das Einreise- und Aufenthaltsverbot rechtswidrig.
38
II. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO mit einer Gewichtung des Asylantrags i.S.v. § 13 AsylG von ⅔ und der nationalen Abschiebungsverbote von ⅓. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
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III. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis ergeben sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.