Titel:
Erfolglose Klage gegen bauordnungsrechtliche Beseitigungsverfügung
Normenketten:
BayBO Art. 55 Abs. 1, Art. 76 S. 1
BauGB § 34
BauNVO § 23 Abs. 2 S. 2 und § 23 Abs. 5
Leitsätze:
1. Als nähere Umgebung iSd § 34 Abs. 1 BauGB ist dabei der Bereich anzusehen, innerhalb dessen sich einerseits das Vorhaben auf die benachbarte Bebauung und andererseits diese Bebauung auf das Baugrundstück prägend auswirkt (BVerwG BeckRS 9998, 162042; VGH München BeckRS 2010, 36735). (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bodenrechtlich beachtliche und bewältigungsbedürftige Spannungen sind dadurch gekennzeichnet, dass das Vorhaben die vorhandene Situation in bauplanungsrechtlich relevanter Weise verschlechtert, stört oder belastet und das Bedürfnis hervorruft, die Voraussetzungen für seine Zulassung unter Einsatz der Mittel der Bauleitplanung zu schaffen (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beseitigungsanordnung einer Glaseinhausung samt Überdachung, kein Einfügen hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche, bodenrechtliche Spannungen, Bauordnungsrecht, Beseitigungsverfügung, Glaseinhausung, formelle Baurechtswidrigkeit, materielle Baurechtswidrigkeit, Genehmigungsfähigkeit, unbeplanter Innenbereich, Einfügen, nähere Umgebung, überbaubare Grundstücksfläche, faktische Baulinie, negative Vorbildwirkung
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 10.01.2022 – 9 ZB 21.2816
Fundstelle:
BeckRS 2021, 42424
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich gegen eine gegen ihn seitens der Beklagten verfügten Beseitigungsanordnung.
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1. Der Kläger betreibt auf dem Grundstück F H1. straße (Fl.Nr. …5 der Gemarkung S … ) eine Gaststätte in Form einer Shisha-Bar. Im Zuge einer am 20. August 2019 durchgeführten Ortseinsicht wurde seitens der Beklagten festgestellt, dass an der südlichen Fassade des Wohn- und Geschäftsgebäudes auf dem Grundstück Fl.Nr. …5 der Gemarkung S … eine Glaseinhausung mit einer Tiefe von 2,50 m und einer Länge von 14,15 m mit einer Markisen-Überdachung errichtet wurde. Das vorgenannte Grundstück, auf dem die bauliche Anlage errichtet wurde, liegt im unbeplanten Innenbereich.
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Nachdem die Anlage bereits errichtet worden war, beantragte der Kläger hierfür unter dem 9. September 2019 die (nachträgliche) Erteilung einer Baugenehmigung. Mit Schreiben der Beklagten vom 14. November 2019 wurde der Kläger darüber informiert, dass für das errichtete Bauwerk eine Baugenehmigung nicht in Aussicht gestellt werden könne. Gleichzeitig wurde der Kläger unter Fristsetzung bis zum 6. Dezember 2019 zur Beseitigung der errichteten Glaswand mit Überdachung aufgefordert.
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Nachdem im Rahmen einer am 6. Dezember 2019 durchgeführten Ortseinsicht festgestellt wurde, dass die errichtete Glaseinhausung mit Überdachung noch immer nicht beseitigt worden war, erließ die Beklagte am 10. Dezember 2019 folgenden Bescheid: Der Kläger wird verpflichtet, die errichtete Glaswand samt Überdachung an der südlichen Fassade des Anwesens F H1. straße (Fl.Nr. …5 der Gemarkung S … ) in S … bis spätestens 17. Januar 2020 zu beseitigen (Ziffer I.). Die Eigentümer des Grundstücks F H1. straße werden verpflichtet, die Beseitigung der Glaswand samt Überdachung auf dem unter Ziffer I. dieses Bescheids genannten Grundstück zu dulden (Ziffer II.). Falls der Kläger der in Ziffer I. der im Bescheid festgelegten Verpflichtung nicht nachkommt, wird ein Zwangsgeld in Höhe von 2.000,00 EUR zur Zahlung fällig (Ziffer III.).
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Begründet wurde der Bescheid im Wesentlichen damit, dass die errichtete Glaswand samt Überdachung ohne erforderliche Baugenehmigung errichtet worden seien. Die bauliche Anlage sei auch nicht genehmigungsfähig, da sie sich hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht einfüge. Der hier maßgebliche Bereich entlang der N H1. Straße sehe eine faktische Baulinie vor. Die Beseitigungsanordnung sei auch nach pflichtgemäßen Ermessen ausgesprochen worden. Das Interesse daran, baurechtswidrige Zustände zu unterbinden, überwiege vorliegend die Interessen des Klägers. Auch das angedrohte Zwangsgeld und die eingeräumte Frist zur Beseitigung der Anlage seien vorliegend verhältnismäßig. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf den Bescheid vom 10. Dezember 2019 Bezug genommen.
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2. Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 7. Januar 2020, eingegangen bei Gericht am 8. Januar 2020, ließ der Kläger gegen den vorgenannten Bescheid Klage erheben und sinngemäß beantragen,
Der Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 2019 wird aufgehoben.
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Begründet wurde die Klage im Wesentlichen damit, dass die hier in Streit stehende bauliche Anlage genehmigungsfähig sei, da der Erteilung einer Baugenehmigung keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstünden. Die Glaseinhausung samt Überdachung sei aus Gründen des Schallschutzes nötig. Das Vorhaben füge sich auch ein. Eine faktische Baulinie sei im hier maßgeblichen Bereich nicht erkennbar. Die Beseitigungsanordnung sei zudem jedenfalls ermessensfehlerhaft, da es in der Nähe Bezugsfälle gebe, bei denen ebenfalls über die Baulinie hinaus gebaut worden sei und deren Beseitigung bislang nicht verlangt wurde.
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3. Mit Schriftsatz vom 24. Februar 2020 beantragt die Beklagte,
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Zur Begründung bezog sich die Beklagte auf die Gründe im streitgegenständlichen Bescheid. Ergänzend wurde ausgeführt, dass aufgrund der negativen Vorbildwirkung des Vorhabens bodenrechtlich beachtliche Spannungen begründet würden. Darüber hinaus stelle die Glaswand mit Überdachung bauplanungsrechtlich auch keine Nebenanlage im Sinne von § 14 BauNVO dar. § 23 Abs. 5 BauNVO, der die Möglichkeit der Errichtung von Nebenanlagen auf nicht überbaubaren Grundstücksflächen eröffne, sei daher im vorliegenden Fall nicht anwendbar. Aus den genannten Gründen sei die Anlage auch nicht genehmigungsfähig. Die verfügte Beseitigungsanordnung sei auch verhältnismäßig und damit insgesamt rechtmäßig und verletze daher den Kläger nicht in seinen Rechten.
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4. Aufgrund Beschlusses vom 16. November 2020 erhob das Gericht am 4. März 2021 durch die Einnahme eines Augenscheins Beweis über die örtlichen und baulichen Verhältnisse im Bereich des Grundstücks Fl.Nr. …5 der Gemarkung S … Auf das Protokoll über den Augenschein vom 4. März 2021 und die dabei angefertigten Lichtbilder wird Bezug genommen.
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5. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren und im Verfahren W 4 K 20.435 sowie auf die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, weil die Beteiligten hierauf im Rahmen des Augenscheintermins verzichtet haben (vgl. § 101 Abs. 2 VwGO).
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Die zulässige Klage ist nicht begründet.
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Das Gericht geht dabei davon aus, dass sich die Klage nur insoweit gegen den Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 2019 richtet, als sich die darin enthaltenen Verfügungen gegen den Kläger richten (§ 88 VwGO). Der Bescheid der Beklagten vom 10. Dezember 2019 ist insoweit rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Die hier streitgegenständliche Beseitigungsanordnung wurde auf Art. 76 Satz 1 BayBO gestützt. Danach kann die Bauaufsichtsbehörde dann, wenn Anlagen im Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften errichtet oder geändert werden, die teilweise oder vollständige Beseitigung der Anlagen anordnen, wenn nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände hergestellt werden können.
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2. Die Beseitigungsanordnung ist formell rechtmäßig. Insbesondere wurde der Kläger vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheids mit Schreiben der Beklagten vom 14. November 2019 ordnungsgemäß angehört.
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3. Die Beseitigungsanordnung ist auch materiell rechtmäßig.
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Die errichtete Glaseinhausung samt Überdachung, bei der es sich zweifelsfrei um eine bauliche Anlage handelt (vgl. Art. 2 Abs. 1 Satz 1 BayBO), steht in Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Vorschriften.
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3.1. Denn die hier streitgegenständliche Anlage ist bereits formell baurechtswidrig.
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Gemäß Art. 55 Abs. 1 BayBO bedürfen die Errichtung, Änderung und Nutzungsänderung von baulichen Anlagen grundsätzlich der Baugenehmigung.
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Die hier errichtete Glaseinhausung samt Abdeckung ist insbesondere nicht verfahrensfrei im Sinne des Art. 57 BayBO. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Markisenabdeckung baulich fest mit der Glaseinhausung verbunden ist. Denn die entsprechenden Schienen, in denen die Markisenabschnitte geführt werden, sind auf der Glaseinhausung abgestützt und mit dieser fest verbaut (vgl. hierzu insbesondere die Lichtbilder auf Seite 68, 69 und 73 der Gerichtsakte). Berücksichtigt man zudem die Größe der abgedeckten Fläche (14,5 m x 2,5 m), ist auch nicht davon auszugehen, dass die Markise ohne die Glaseinhausung für sich genommen standhalten würde bzw. funktionstauglich wäre. Die Glaseinhausung samt der Markisenabdeckung sind unter Berücksichtigung der vor Ort vorgefundenen Umstände somit als einheitliches Vorhaben zu bewerten.
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Dementsprechend liegt hier auch keine Verfahrensfreiheit nach Art. 57 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. g) BayBO vor, da es sich vorliegend nicht nur um eine Terrassenüberdachung, sondern eine Glaseinhausung mit Überdachung handelt. Die vom Kläger errichtete Anlange ist auch nicht nach Art. 57 Abs. 1 Nr. 7 Buchst. a) BayBO verfahrensfrei, da es sich dabei eben nicht nur um eine Einfriedung im Sinne dieser Vorschrift handelt. Auch ein Fall des Art. Art. 57 Abs. 1 Nr. 15 Buchst. d) BayBO ist hier nicht gegeben, da es sich vorliegend nicht um eine Freischankfläche handelt. Mit dem errichteten Vorhaben wurde vielmehr im Grunde ein weiterer Raum für die Gaststätte des Klägers geschaffen. Schließlich liegt auch keine Verfahrensfreiheit nach Art. 57 Abs. 1 Nr. 16 Buchst. g) BayBO vor, weil vorliegend nicht nur eine Markise errichtet wurde, sondern ein gebäudeähnlicher Raum.
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Da das vom Kläger errichtete Vorhaben somit gem. Art. 55 Abs. 1 BayBO genehmigungspflichtig ist, eine Baugenehmigung aber nicht vorliegt, ist die errichtete Anlage bereits formell baurechtswidrig.
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3.2. Die errichtete Anlage ist darüber hinaus auch materiell baurechtswidrig, da sie sich hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche nicht in die nähere Umgebung einfügt.
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3.2.1. Maßgeblich für die bauplanungsrechtliche Beurteilung der bereits errichteten baulichen Anlage des Klägers ist hier § 34 BauGB, da das Baugrundstück innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils liegt, ein Bebauungsplan aber nicht vorliegt. Nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB ist ein Vorhaben innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils zulässig, wenn es sich hinsichtlich der Art und des Maßes der baulichen Nutzung, der Bauweise und der Grundstücksfläche, die überbaut werden soll, in die Eigenart der näheren Umgebung einfügt. Ein Vorhaben fügt sich im Allgemeinen ein, wenn es hinsichtlich dieser vier Kriterien innerhalb des Rahmens hält, der durch die in der Umgebung vorhandene Bebauung gezogen wird. Auch ein den Rahmen überschreitendes Bauwerk kann ausnahmsweise zulässig sein, wenn es trotz der Überschreitung keine städtebaulichen Spannungen hervorruft (vgl. nur BVerwG, U.v. 26.5.1978 - BVerwGE 55, 369 ff.).
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3.2.2. Als nähere Umgebung i.S.d. § 34 Abs. 1 BauGB ist dabei der Bereich anzusehen, innerhalb dessen sich einerseits das Vorhaben auf die benachbarte Bebauung und andererseits diese Bebauung auf das Baugrundstück prägend auswirkt (vgl. BVerwG, U.v. 26.5.1978 - IV C 9.77 - BVerwGE 55, 369 ff., BayVGH, U.v. 24.11.2010 - 9 B 10.363 - juris m.w.N.). Die Grenzen sind dabei nicht schematisch, sondern nach der jeweiligen städtebaulichen Situation zu bestimmen. Dabei ist die nähere Umgebung für jedes der Merkmale des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB gesondert zu ermitteln, weil die wechselseitige Prägung unterschiedlich weit reichen kann.
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Hinsichtlich der hier allein streitigen überbaubaren Grundstücksfläche ist bezüglich der näheren Umgebung nach den im Augenschein gewonnenen Erkenntnissen auf den Bereich nördlich der N H1. Straße, zwischen N …-H H2. Straße im Westen und S … im Osten, abzustellen. Denn innerhalb dieses Bereichs kann sich das geplante Vorhaben auf die benachbarte Bebauung auswirken und wirkt sich andererseits diese Bebauung auf das Baugrundstück prägend aus. Dagegen ist der Bereich nördlicher der N H1. Straße, der westlich der N …-H H2. Straße liegt, nicht mehr in die nähere Umgebung im Sinne des § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB einzubeziehen, da dort die einheitliche Häuserfront weiter von der N H1. Straße zurückweicht und zudem der Bereich dort zwischen der N H1. Straße und der nördlich davon gelegenen Häuserfront mit einer B.allee versehen ist (vgl. hierzu insbesondere das untere Bild auf Seite 68 und das obere Bild auf Seite 69 der Gerichtsakte, S. 3 der Behördenakte sowie entsprechende Karten und Luftbilder des Bayern Atlas). Der Bereich westlich der N …-H H2. Straße ist damit mit dem Bereich zwischen N …-H H2. Straße im Westen und S … im Osten, in dem das Baugrundstück liegt, nicht vergleichbar.
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3.2.3. Unter Berücksichtigung der im Rahmen des Augenscheins gewonnen Erkenntnisse lässt die vorhandene Bebauung in der hier maßgeblichen Umgebung eine faktische Baulinie entlang der N H1. Straße erkennen. Diese wird durch die bereits errichte Anlage des Klägers auf einer Länge von 14,5 m um 2,5 m überschritten. Die vom Kläger errichtete Anlage fügt sich damit nicht in die nähere Umgebung ein.
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Hierfür sprechen auch die rechtlichen Wertungen in § 23 Abs. 2 Satz 2 und § 23 Abs. 5 BauNVO, die im Rahmen der Beurteilung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB herangezogen werden können (vgl. hierzu etwa BVerwG, B.v. 16.6.2009 - 4 B 50/08 - ZfBR 2009, 693; BayVGH, B.v. 25.4.2005 - 1 CS 04.3461 - juris Rn. 16). Von einem Vortreten in nur geringfügigem Ausmaß (vgl. § 23 Abs. 2 Satz 2 BauNVO) kann bei einer Überschreitung der der faktischen Baulinie von 2,5 m auf einer Länge von 14,5 m nach Überzeugung des Gerichts keine Rede sein. Darüber hinaus handelt es sich bei der vom Kläger errichten Glaseinhausung samt Überdachung auch nicht um eine Nebenanlage im Sinne des § 14 i.V.m. § 23 Abs. 5 Satz 1 BauNVO. Denn der damit geschaffene Raum dient ersichtlich der Gaststätte des Klägers und ist als Erweiterung des Gaststättenraumes anzusehen, wie der Augenschein ergeben hat, und kann daher auch nicht als Nebenanlage im Sinne des § 14 BauNVO angesehen werden (vgl. zu einem ähnlichen Fall BVerwG, B.v. 13.6.2005 - 4 B 27.05 - ZfBR 2005, 698). Schließlich wäre das errichtete Vorhaben auch nicht nach Art. 6 Abs. 9 BayBO in der bis zum 31. Januar 2021 geltenden Fassung bzw. Art. 6 Abs. 7 BayBO der geltenden Fassung zulässig, so dass auch die Wertung des § 23 Abs. 5 Satz 2 BauNVO gegen ein Einfügen des Vorhabens in die nähere Umgebung hinsichtlich der überbaubaren Grundstücksfläche spricht.
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3.2.4. Die Anlage ruft aufgrund seiner negativen Vorbildwirkung schließlich auch bodenrechtliche Spannungen hervor.
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Solche bodenrechtlich beachtliche und bewältigungsbedürftige Spannungen sind dadurch gekennzeichnet, dass das Vorhaben die vorhandene Situation im bauplanungsrechtlich relevante Weise verschlechtert, stört oder belastet und das Bedürfnis hervorruft, die Voraussetzungen für seine Zulassung unter Einsatz der Mittel der Bauleitplanung zu schaffen (vgl. hierzu Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16.9.2010 - 4 C 7.10 - Buchholz 406.11 § 34 BauGB Nr. 212 Rn. 23; BayVGH, B.v. 3.3.2016 - 15 ZB 14.1542 - juris Rn. 16 ff.). Hierfür reicht die mögliche Vorbildwirkung des Vorhabens, die ein Bedürfnis nach planerischer Gestaltung auslösen kann (vgl. BVerwG, U.v. 5.12.2013 - 4 C 5.12 - BVerwGE 148 Band, 290 bis 297, Rn 17).
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Von baulichen Anlagen freie Bereiche vor einer Häuserfront sind ein das Orts- und Straßenbild mitbestimmendes städtebauliches Element. Die bauliche Anlage des Klägers bildet den ersten Ansatzpunkt für eine Beeinträchtigung der durch dieses Element geprägten Bebauung entlang der Nordseite der N H1. Straße im hier maßgeblichen Abschnitt und begründet damit eine negative Vorbildwirkung für weitere Beeinträchtigungen. Aus diesem Grund ruft das Vorhaben des Klägers städtebauliche Spannungen hervor. Das errichtete Vorhaben des Klägers ist damit auch materiell baurechtswidrig.
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3.3. Die Anlage ist unter Berücksichtigung der gemachten Ausführungen zur materiellen Baurechtswidrigkeit (siehe oben unter 3.2.) auch nicht genehmigungsfähig, so dass auch nicht auf andere Weise rechtmäßige Zustände herbeigeführt werden. Ergänzend wird insoweit auf die Entscheidungsgründe im Urteil des erkennenden Gerichts vom selben Tag im Verfahren W 4 K 20.435 Bezug genommen.
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3.4. Die Beseitigungsanordnung lässt unter Berücksichtigung von § 114 VwGO schließlich auch keine Ermessensfehler erkennen.
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Die Beklagte hat den Kläger als Handlungsstörer in Anspruch genommen. Rechtsfehler sind diesbezüglich weder vorgetragen noch ersichtlich. Auch sonst sind keine Ermessensfehler erkennbar. Insbesondere ist der Vortrag des Klägers, er benötige die Glaseinhausung als Lärmschutz ersichtlich nur vorgeschoben. Wäre es dem Kläger allein um den Lärmschutz für seine Gaststätte gegangen, so hätte es nahegelegen, einfach die im Hauptgebäude befindlichen Fenster auszutauschen. Der vom Kläger gewählte Weg lässt dagegen nur den Schluss zu, dass es dem Kläger weniger oder jedenfalls nicht primär um Lärmschutz, sondern um die räumliche Erweiterung seiner Gaststätte ging.
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Darüber hinaus liegt auch keine gleichheitswidrige Behandlung vor, wie der Kläger vorträgt. Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 118 Abs. 1 Satz 1 BV verbieten, Ungleiches gleich und Gleiches ungleich zu behandeln. Unter Berücksichtigung der im Augenschein gewonnenen Erkenntnisse liegt aber bereits keine Ungleichbehandlung wesentlich gleicher Sachverhalte vor. Denn in der hier maßgeblichen näheren Umgebung, also im Bereich nördlich der N H1. Straße, zwischen N …-H H2. Straße im Westen und S … im Osten, liegt keine derartig massive Überschreitung der überbaubaren Grundstücksgrenzen durch ein gebäudeähnliches Vorhaben vor. Vor dem etwas weiter westlich gelegenen Eiscafé (N H1. Straße ) besteht lediglich eine deutlich weniger tiefe Terrassenfläche aus Holz mit einer nur an der Hauswand befestigten Markise darüber. Diese Anlage ist daher mit der raum- bzw. gebäudeähnlichen Anlage des Klägers nicht vergleichbar. Gleiches gilt bezügliches des Wintergartens einer etwas weiter östlich gelegenen Eisdiele (N H1. Straße ), der deutlich weniger weit über die faktische Baulinie hinausreicht und sich damit unter Berücksichtigung der rechtlichen Wertung des § 23 Abs. 2 Satz 2 BauNVO noch einfügt. Soweit der Kläger weitere Bezugsfälle anführt, die westlich der N …-H H2. Straße gelegen sind, befinden sich diese nicht innerhalb der hier maßgeblichen näheren Umgebung im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 BauGB, so dass eine Ungleichbehandlung schon aus diesem Grund nicht vorliegen kann.
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Die von der Beklagten getroffenen Ermessensentscheidung ist unter Berücksichtigung der Maßgaben des § 114 Satz 1 VwGO daher rechtlich nicht zu beanstanden.
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4. Schließlich bestehen auch gegen die Zwangsgeldandrohung und die Kostenentscheidung keine rechtlichen Bedenken. Zwar ist die Frist zur Beseitigung der hier streitgegenständlichen baulichen Anlage mittlerweile abgelaufen, ohne dass der Kläger der Beseitigungsverpflichtung bisher nachkommen brauchte, da die hier erhobene Klage Suspensiveffekt hat (vgl. § 80 Abs. 1 VwGO). Damit ist die Zwangsgeldandrohung aber nicht rechtswidrig, sondern nur gegenstandslos geworden (vgl. BayVGH, B.v. 21.8.2006 - 24 CS 06.1945 - juris Rn. 85). Daher muss die Beklagte für die (zwangsweise) Durchsetzung der Beseitigungsanordnung ggf. eine erneute Zwangsgeldandrohung mit verhältnismäßiger Frist aussprechen.
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Rechtsfehler hinsichtlich der unter Ziffer IV. ausgesprochenen Kostenentscheidungen sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
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Die Klage war daher vollumfänglich abzuweisen.
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5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 VwGO, § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.