Titel:
Feststellung des Verlustes der Freizügigkeit bei einem drogenabhängigen Straftäter nach einer Drogentherapie
Normenketten:
FreizügG/EU § 2 Abs. 7, § 5 Abs. 4, § 6 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, Abs. 4, § 7 Abs. 2
StGB § 57, § 64
Leitsätze:
1. Nach § 6 Abs. 2 S. 3 FreizügG/EU muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass in der Regel eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten (EuGH BeckRS 2012, 80973; VGH München BeckRS 2021, 6322). Dieser Maßstab verweist – anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizeirecht – nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, das berührt sein muss (BVerwG BeckRS 2004, 25643; VGH München BeckRS 2021, 6322). (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der für die Verlustfeststellung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. u.a. VGH München BeckRS 2021, 6322; BeckRS 2018, 11351; BeckRS 2018, 2110). (Rn. 61) (redaktioneller Leitsatz)
3. Die zuständigen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben eine eigenständige Prognose über die Wiederholungsgefahr zu treffen. Sie können deshalb sowohl aufgrund einer anderen Tatsachengrundlage als auch aufgrund einer anderen Würdigung zu einer abweichenden Prognoseentscheidung als die Strafgerichte gelangen (vgl. BVerwG BeckRS 2013, 47815; VGH München BeckRS 2016, 45476). Es bedarf jedoch einer substantiierten Begründung, wenn von der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer abgewichen wird (VGH München BeckRS 2019, 27461). (Rn. 65) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
FreizügG/EU, Staatsangehörigkeit: Polen, Verlustfeststellung wegen Straffälligkeit, Drogenabhängigkeit, Aussetzung des Vollzugs der Reststrafe zur Bewährung, Grundinteresse der Gesellschaft, öffentliche Sicherheit und Ordnung, Strafrestaussetzungsentscheidung, Ausweisung, Drogentherapie
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 02.05.2022 – 10 ZB 22.571
Fundstelle:
BeckRS 2021, 42406
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt.
2
Der am … in …, Polen geborene Kläger ist polnischer Staatsangehöriger. Er hat einen volljährigen Sohn in Polen (Bl. …).
3
Der Kläger besuchte in Polen acht Jahre die Grundschule, drei Jahre die Berufsschule, wo er zum Schreiner ausgebildet wurde und beendete das Technikum nach zwei Jahren ohne Abschluss. Ab seinem 15. Lebensjahr trank der Kläger Alkohol und begann, Drogen zu nehmen. Daraufhin arbeitete er, aufgrund seines Drogenkonsums mit Unterbrechungen, im Straßenbau (Bl. 58 f.).
4
Am 12. März 1998 verurteilte das Amtsgericht …, Polen den Kläger wegen schweren Diebstahls am 10. Januar 1997 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten. Die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
5
Der polnische Strafregisterauszug des Klägers enthält für die Zeit vom 20. Januar 1999 bis zum 24. April 2002 vier Eintragungen mit strafrechtlichen Verurteilungen wegen vorsätzlicher Beschädigung oder Zerstörung einer Sache, Diebstahl, Einbruchdiebstahl und Diebstahl unter Gewaltandrohung oder unter Einsatz von Waffen oder unter Androhung des Einsatzes von Waffen gegen Personen.
6
Am 20. Juni 2007 verurteilte das Landgericht Parma, Italien den Kläger wegen Diebstahl unter Gewaltanwendung oder unter Einsatz von Waffen und fahrlässiger schwerer Körperverletzung mit der Folge dauernder erheblicher Entstellung oder Behinderung und Straftaten gegen die Staatsgewalt und die öffentliche Ordnung sowie Behinderung der Justiz zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren. Der Vollzug der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Der Verurteilung lag zugrunde, dass der Kläger gemeinschaftlich mit einem anderen einen Handtaschenraub begangen hatte und anschließend Widerstand gegen Polizeibeamte leistete (Bl. 60).
7
Vom 17. September 2007 bis zum 21. Mai 2008 war der Kläger in … gemeldet.
8
Am 11. Dezember 2008 verurteilte das Amtsgericht …, Polen den Kläger wegen Bedrohung am 6. November 2007 zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr. Der Vollzug der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
9
Der Kläger absolvierte im Zeitraum von 2012 bis 2013 für eine unbestimmte Zeit eine Drogentherapie in Polen (Bl. …).
10
Vom 1. August 2014 bis zum 1. Oktober 2014 war der Kläger im Landkreis …- … gemeldet.
11
Im Jahr 2016 wurde der Kläger mit Drogen rückfällig (Bl. …).
12
Ab dem 2. Juni 2016 war der Kläger in … gemeldet. Ab dem 29. Juli 2016 lebte er in der … (Bl. …). In der Folge arbeitete der Kläger auf selbständiger Basis bei verschiedenen Abbruchunternehmen (Bl. 58).
13
Am 27. Februar 2017 führte der Kläger in der … … in … ohne Erlaubnis 0,76 Gramm Amphetamin mit sich. Als zwei Polizisten den Kläger kontrollieren wollten, wehrte er sich, indem er die Beamten mit Oberkörper und Hand von sich wegstieß und sie als „Kurwa“ (zu Deutsch: Hure) beschimpfte (Bl. 16).
14
Am 17. August 2017 kündigte der Vermieter des Klägers den Mietvertrag mit dem Kläger (Bl. …).
15
Aufgrund der Tat vom 27. Februar 2017 erließ das Amtsgericht München am 22. August 2017 einen Strafbefehl wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung und Beleidigung und verhängte eine Gesamtgeldstrafe von 100 Tagessätzen von jeweils 30 Euro (Az.: …) (Bl. …).
16
Am 4. November 2017 verübten der Kläger und ein Mittäter einen Raub mit gefährlicher Körperverletzung zu Lasten des ehemaligen Vermieters des Klägers. Hierzu betraten der Kläger und sein unbekannter Mittäter entsprechend des gemeinsamen Tatplans die offenstehende Wohnung des 78 Jahre alten ehemaligen Vermieters des Klägers in der … Ausweislich der Feststellungen des Strafgerichts hatte der Kläger an diesem Abend bereits mindestens 2 g Amphetamin eingenommen. Der Kläger wusste, dass sein ehemaliger Vermieter die Mieteinnahmen in bar in seiner Wohnung aufbewahrte. In der Wohnung versetzte der unbekannte Mittäter dem Geschädigten mindestens vier Fausthiebe ins Gesicht, um ihn in Schach zu halten, damit der Kläger in der Zwischenzeit entsprechend der gemeinsamen Arbeitsteilung die Wohnung nach Wertsachen durchsuchen konnte. Der Geschädigte erlitt dabei, neben starken Schmerzen, eine Distorsion der Halswirbelsäule, eine mehrfragmentierte Nasenbeinfraktur, ein Schädel-Hirn-Trauma Stufe 1, eine Augenbrauen-Platzwunde, eine Augenlid-Platzwunde, eine Schwellung beider Augen, ein Brillenhämatom, eine periorbitale Gesichtsprellung, eine Prellung des rechten Handgelenks und eine Lippenplatzwunde. Aufgrund der erlittenen Gesichtsverletzungen blutete der Geschädigte stark im Gesicht. Der Geschädigte wurde im … notfallchirurgisch versorgt und vier Tage lang stationär behandelt. Das Strafgericht führte zudem aus, dass aufgrund des Alters des Geschädigten und der Massivität der Schläge, es - wie vom Kläger und dem Mittäter billigend in Kauf genommen - zu weiteren Knochenbrüchen, dadurch bedingtem weiteren Blutverlust und zur Bewusstlosigkeit des Geschädigten hätte kommen können. Insgesamt entwendeten der Kläger und der unbekannte Mittäter Silbermünzen und Silberbesteck im Wert von 500,- Euro, um damit Alkohol und Drogen zu finanzieren. Als der Kläger feststellte, dass sich der Geschädigte plötzlich im Flur befand, verließ er fluchtartig über den Balkon des Wohnzimmers das Haus. Dabei verlor er auf einer Wiese vor dem Haus die entwendeten Silbermünzen und das Silberbesteck, wo die Polizei die Beute sicherstellte (Bl. …).
17
Am 10. Januar 2018 wurde der Kläger vorläufig aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts München vom 13. Dezember 2017 festgenommen (Gs …) und befand sich ab dem 11. Januar 2018 in Untersuchungshaft in der Justizvollzugsanstalt München (Bl. …). Bei der ärztlichen Aufnahmeuntersuchung am 11. Januar 2018 berichtete der Kläger, er habe täglich fünf Bier und Jägermeister getrunken. Er habe auch Amphetamine konsumiert (Bl. … psychiatrisches Gutachten … v. …).
18
Am 14. Februar 2018 erwuchs der Strafbefehl vom 22. August 2017 über eine Gesamtgeldstrafe in Höhe von 100 Tagessätzen in Rechtskraft (Bl. …). Daraufhin verbüßte der Kläger ab dem 20. Februar 2018 bis zum 29. Mai 2018 eine Ersatzfreiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt München und befand sich im Anschluss wieder in Untersuchungshaft aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts München vom 13. Dezember 2017 (Bl. … f.).
19
Gemäß dem psychiatrischen Gutachten des … vom 5. Oktober 2018 bestehe beim Kläger wahrscheinlich ein schädlicher Gebrauch von Alkohol und möglicherweise eine psychische Abhängigkeit von Amphetamin und Ecstasy. Die medizinischen Voraussetzungen des § 21 StGB und des § 63 StGB lägen nicht vor. Die Voraussetzungen des § 64 StGB seien grundsätzlich zu bejahen (Vorliegen eines Hanges, vermutlich hohe Rückfallgeschwindigkeit, negative soziale Auswirkungen, medizinische Indikation für stationäre Entwöhnungstherapie, Behandlungsbereitschaft). Aus psychiatrischer Sicht könnten hinreichende Erfolgsaussichten für eine Behandlung nach § 64 StGB angenommen werden, insbesondere wenn es dem Kläger gelänge, die Beherrschung der deutschen Sprache noch deutlich zu verbessern (Bl. … f. psychiatrisches Gutachten … v. …).
20
Am 12. Dezember 2018 verurteilte das Landgericht München I den Kläger aufgrund der Geschehnisse vom 4. November 2017 wegen Raub in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten und ordnete die Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt an (Bl. …). Im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigte das Strafgericht zu Gunsten des Klägers sein spätes Geständnis, die „eher geringe“ Tatbeute, die drogenbedingte Enthemmung und den Suchtdruck. Ferner sei zu seinen Gunsten gewertet worden, dass er nicht selbst geschlagen habe und dass er haftempfindlich sei. Der Kläger habe sich acht Monate in Untersuchungshaft befunden, sei der deutschen Sprache nur in geringem Umfang mächtig und habe seine sozialen Kontakte kaum pflegen können. Lediglich seine Verlobte habe den Kläger einmal besucht. Zu Lasten des Klägers habe gesprochen, dass er zur Ausführung des Raubs in eine Wohnung eingedrungen sei, dem Geschädigten massive Verletzungen zugefügt worden seien und hierdurch der Rechtsfrieden nicht unerheblich verletzt worden sei. Zudem habe der Kläger sich die mehrfachen Voreintragungen in Polen und die dort verbüßten Freiheitsstrafen nicht zur Warnung dienen lassen und sei auch in Italien bereits wegen eines Raubes verurteilt worden. Die Unterbringung sei angeordnet worden, da der Kläger abgesehen von einer dreijährigen Unterbrechung nach seiner ersten Therapie in Polen, seit ca. 20 Jahren Drogen, insbesondere Amphetamine, genommen habe. Der Drogenkonsum habe Beschaffungskriminalität zur Folge gehabt und zu vielfacher Straffälligkeit und zu Strafvollzug in Polen geführt. Der Kläger habe wegen drogenbedingter Unzuverlässigkeit immer wieder seine Arbeitsstellen verloren. Seine Familie in Polen habe sich von ihm zurückgezogen. Die Kammer gehe mit dem Sachverständigen … von einer psychischen Abhängigkeit von Drogen aus, die in Kombination mit dem schädlichen Alkoholgebrauch dazu geführt habe, dass der Kläger in den letzten Monaten vor der Tat seiner Arbeit nur teilweise nachgegangen und dadurch sozial gefährdet sei. Daneben sei die Kammer auch der Auffassung, der Angeklagte sei auch sozial gefährlich. Zur Finanzierung seiner Sucht bleibe dem Kläger aller Voraussicht nach nur die Begehung von Straftaten. Es liege auch ein symptomatischer Zusammenhang zwischen dem Hang und der vorliegenden Tat vor. Für das Gericht bestünden keine Zweifel, dass vom Kläger infolge seines Hangs auch künftig erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten seien. Es bestehe die begründete Aussicht, den Kläger durch die Behandlung in einer Entziehungsanstalt „zumindest über eine erhebliche Zeit“ vor dem Rückfall in den Hang und von der Begehung weiterer, auf seinen Hang zurückgehender Straftaten zu bewahren. Der Kläger sei insbesondere therapiemotiviert. Zwar bestünden noch sprachliche Probleme, der Kläger sei aber gewillt, die deutsche Sprache zu lernen, um die Therapie erfolgreich durchlaufen zu können Das Urteil erwuchs am 20. Dezember 2018 in Rechtskraft (Az.: 7 KLs 257 Js 221454/17) (Bl. … ff.).
21
Ab dem 10. Januar 2019 befand sich der Kläger im … (Bl. …).
22
Mit Schreiben vom 12. Februar 2019, dem Kläger per Postzustellungsurkunde am 18. Februar 2019 zugestellt, hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Verlustfeststellung an (Bl. … ff.).
23
Mit Schreiben vom 28. Februar 2019 zeigte die Bevollmächtigte des Klägers die Vertretung an und erklärte gegenüber der Beklagten im Wesentlichen, der Kläger habe in der Verhandlung vor dem Landgericht letztlich die Verantwortung für sein Tun übernommen. Der Kläger habe nicht die federführende Rolle bei der Begehung der Tat gespielt. Insbesondere habe der Kläger dem Geschädigten nicht die schweren Verletzungen zugefügt. Es sei ausschließlich zu der Tat gekommen, weil der Kläger nicht in Lohn und Brot gestanden habe, massiv drogenabhängig gewesen sei und dringend Geld für die Beschaffung weiterer Drogen benötigt habe. Daher befinde sich der Kläger nun in Therapie und wolle einen Neustart „beschreiten“. Der Kläger lebe mit seiner Verlobten und deren Kind zusammen. Auch die übrigen Geschwister des Klägers lebten in Deutschland. Die Sprachkenntnisse des Klägers seien „sehr gut“. Er könne sich hier gut verständigen, da er seit 2007 mit Deutschland aufgrund der Arbeitstätigkeit immer wieder verbunden sei. Bis zum Jahr 2017 habe sich der Kläger strafrechtlich nichts zu Schulden kommen lassen. In Deutschland verfüge der Kläger über gute soziale Kontakte. Die Therapeuten im Klinikum seien sehr zufrieden mit seiner Entwicklung (Bl. … ff.).
24
Am 16. März 2019 erlitt der Kläger einen ST-Hebungsinfarkt bei koronarer 3-Gefäßerkrankung. In der Folge war er bis zum 20. März 2019 stationär im München … … untergebracht (S. 5 Epikrise des … … vom …).
25
Mit Bescheid vom 11. April 2019, dem Kläger gegen Empfangsbekenntnis am 15. April 2019 zugestellt, stellte die Beklagte fest, dass der Kläger sein Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat (Ziff. 1), untersagte Einreise und Aufenthalt für sieben Jahre ab der Ausreise (Ziff. 2) und drohte die Abschiebung nach Polen oder einen anderen Staat an, in den der Kläger ausreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, wenn der Kläger nicht innerhalb eines Monats nach Vollziehbarkeit des Bescheids das Bundesgebiet verlasse (Ziff. 3). Im Wesentlichen begründete die Beklagte ihre Ermessensentscheidung auf Grundlage von § 6 Abs. 1 FreizügG/EU wie folgt: Es bestehe eine konkrete Gefahr der Begehung weiterer Straftaten, insbesondere von Eigentums- und Gewaltdelikten nach Entlassung des Klägers. Der Kläger habe gezeigt, dass er das Eigentum und das Recht anderer auf körperliche Unversehrtheit nicht achte, wenn es um die Erreichung seiner Ziele gehe. Der Kläger sei offensichtlich nicht willens oder in der Lage, sich an geltendes Recht zu halten. Wegen seiner Betäubungsmittelabhängigkeit habe der Kläger 2012/2013 bereits eine Therapie absolviert. Jedoch sei die Therapie nicht von einem solchen Erfolg gekrönt gewesen, als dass der Kläger keine Drogen mehr konsumiert habe. Nach seinen eigenen Angaben habe der Kläger im Jahr 2016 wieder mit dem Konsum begonnen. Die Absolvierung einer Drogentherapie im Rahmen der angeordneten Unterbringung ändere nichts der bestehenden Wiederholungsgefahr. Nur wenigen gelinge es dauerhaft, von Betäubungsmitteln abstinent zu bleiben. Die Wahrscheinlichkeit erneuter Straftaten im Bereich der Beschaffungskriminalität sei hoch. Die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt sei zum Schutz der hier lebenden Bevölkerung unumgänglich. Die vom Kläger begangenen Straftaten seien im Bereich der Schwerkriminalität anzusiedeln. Der Kläger habe im Bundesgebiet keine besonders schützenswerten familiären oder tragfähigen sozialen Kontakte. Die Beklagte gehe aufgrund der kurzen Aufenthalte im Bundesgebiet, der vielfachen Inhaftierungen im Ausland und der geringen Deutschkenntnisse nicht davon aus, dass der Kläger mit Deutschland verbunden sei. Der Kläger habe sich jeweils nur für kurze Zeit im Bundesgebiet aufgehalten. Den weitaus größeren Teil seines Lebens habe er in Polen verbracht. Es sei dem Kläger zumutbar, dorthin zurückzukehren und sich dort eine Existenz aufzubauen. Dies sei dem Kläger in Deutschland jedenfalls seit seiner Einreise im Jahr 2016 nicht gelungen. Die Abwägung der privaten und öffentlichen Interessen führe daher zu dem Ergebnis, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts überwiege. Wegen des Gewichts der gefährdeten Rechtsgüter und der festgestellten hohen Wiederholungsgefahr erachte die Beklagte auch im Hinblick auf die nicht bzw. kaum vorhandenen Bindungen im Bundesgebiet einen Zeitraum von sieben Jahren als erforderlich, um dem hohen Gefahrenpotential Rechnung tragen zu können. Im Übrigen wird auf die Begründung des Bescheids Bezug genommen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO.
26
Mit Schriftsatz vom 10. Mai 2019, eingegangen per Telefax beim Bayerischen Verwaltungsgericht München am 13. Mai 2019, ließ der Kläger unter Ankündigung einer gesonderten Begründung durch seine Prozessbevollmächtigte Klage erheben und beantragen,
27
den Bescheid der Beklagten vom 11. April 2019 aufzuheben.
28
Mit Schriftsatz vom 29. Mai 2019 begründete die Bevollmächtigte des Klägers die Klage im Wesentlichen wie folgt: Der Kläger selbst sei nicht gewalttätig geworden. Er müsse sich die Tat des anderen nur anrechnen lassen, was für die ausländerrechtliche Beurteilung von entscheidender Bedeutung sei. Die Unterbringung in der Entziehungsanstalt laufe bislang sehr gut. Auch die ursprünglich anfänglichen Sprachbarrieren seien behoben worden. Die bereits in Polen absolvierte Therapie sei in keinster Weise in Einklang mit den hiesigen Verhältnissen zu bringen und von der Intensität her mit der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt zu vergleichen. Wenn die Beklagtenseite anführe, es würden nur wenige schaffen, abstinent von Betäubungsmitteln zu bleiben, so sei dies eine pauschale Argumentation, die nicht auf den Einzelfall übertragen werden könne. Es sei nicht ersichtlich, inwieweit hier im Einzelfall eine schwere Gefährdung vorliege. Im Rahmen des Ermessens sei zu berücksichtigen, dass schutzwürdige Interessen des Klägers im Vordergrund stünden. Der Kläger lebe mit seiner Verlobten zusammen. Die Schwester des Klägers, die in Hamburg lebe, kümmere sich rührend um den Kläger. Ein Familienverbund sei gegeben, sodass ein schutzwürdiger Empfangsraum ausschließlich in Deutschland vorliege. Die Abwägung der öffentlichen und privaten Interessen müsse daher zu dem Ergebnis kommen, dass die privaten Interessen eindeutig überwögen. Auf die Begründung des Schriftsatzes wird Bezug genommen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO.
29
Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 27. Mai 2019,
31
Am 17. Juli 2019 wurden beim Kläger bei einer Kontrolle im … zwei illegale Handys gefunden worden. Daraufhin wurde ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet.
32
Am 6. Juni 2020 nahm …, Maßregelvollzugsleiter der Forensischen Klinik … gutachterlich gemäß § 67 StGB zur Frage der Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests Stellung. Alle durchgeführten Kontrollen auf den Konsum von Alkohol oder Drogen seien unauffällig verlaufen und im Ergebnis negativ geblieben. Lockerungsmissbräuche oder Fluchttendenzen seien nicht zu beobachten gewesen.
33
Im Auftrag des Landgerichts München I untersuchte der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Nervenarzt und Somnologe … den Kläger am 1. Juli 2020, um gutachterlich dazu Stellung zu nehmen, ob der Kläger gefährdet ist, in sein süchtiges Verhalten zurück zu verfallen, dann erneute Straftaten zu begehen und eine Gefährdung der Öffentlichkeit darzustellen. Im Rahmen der Untersuchung legte der Kläger dar, er arbeite jetzt auf einer Baustelle in …, wo man bereits an eine Festanstellung denke und sei seit zwei Jahren „trocken“. Er habe bereits ab dem Jahr 2013 bis zum Jahr 2015 eine Therapie in Polen gemacht. Seine Partnerin wohne in …- … und sie seien seit sieben Jahren zusammen. Der Kläger wisse, dass er aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr trinken dürfe. Er mache jetzt weniger Kraftsport, fahre aber viel mit dem Fahrrad. Ansonsten schaue der Kläger in seiner Freizeit viel fern.
34
Daraufhin erstellte der beauftragte Gutachter … am … ein psychiatrisches Gutachten. Der Kläger sei von Anfang an erkennbar zu einem zukünftigen abstinenten Leben motiviert gewesen. Er habe alle ihm angebotenen Therapiemöglichkeiten wahrgenommen. Allerdings habe sich auch eine geringe Frustrationstoleranz gezeigt. Die sprachlichen Fähigkeiten des Klägers hätten sich als Therapiehindernis herausgestellt. Eine stabile Partnerschaft sei prognostisch sicherlich günstig. Aufbrausendes, ungesteuertes Verhalten, „was sich in der Anlasstat in erschreckendem Ausmaß gezeigt habe,“ sei nicht zu sehen gewesen und sei wohl zu einem erheblichen Anteil dem damaligen Suchtmitteleinfluss geschuldet gewesen. Coping-Strategien im Umgang mit Suchtdruck seien gelernt und angewendet worden. Der soziale Empfangsraum sei günstig. Zusammenfassend sei die Abhängigkeitserkrankung durch therapeutische Maßnahmen der Forensischen Klinik in … soweit abgemildert worden, dass „bei weiterer Suchtmittelabstinenz“ nicht mit weiteren einschlägigen Straftaten zu rechnen sei. Eine bedingte Entlassung aus dem Maßregelvollzug könne in den nächsten Wochen erfolgen, wobei die ambulante Weiterbetreuung durch die Forensische Ambulanz des …s oder einer gleichwertigen Institution „sehr dringend erforderlich“ erscheine. Wegen der langdauernden schweren Suchtmittelabhängigkeit und der dadurch gegebenen Gefahr für die Öffentlichkeit durch aus der Sucht erwachsende Delinquenz sollten geeignete kontrollierende therapeutische Maßnahmen „über den gesamten gesetzlich vorgesehenen Zeitraum“ aufrechterhalten werden.
35
Mit Schreiben vom 31. Juli 2020 an das Landgericht München I nahm das … Stellung zum Entlassungsgutachten von … vom … und sah die Voraussetzungen für eine bedingte Entlassung gemäß § 67d Abs. 2 StGB bereits als gegeben an. Die therapeutische Auseinandersetzung bleibe aufgrund der Sprachschwierigkeiten des Klägers nach wie vor erschwert. Er habe sich dennoch an alle Absprachen gehalten und sich zuverlässig und kooperativ gezeigt.
36
Mit Beschluss vom 20. August 2020 setzte das Landgericht München I - Strafvollstreckungskammer - den Vollzug der angeordneten Unterbringung in einer Entziehungsanstalt ab dem 5. September 2020 zur Bewährung aus und setzte als Bewährungszeit und Dauer der Führungsaufsicht jeweils fünf Jahre fest. Der Kläger wurde unter anderem strafbewehrt angewiesen, sich mindestens einmal pro Monat, höchstens zweimal pro Woche beim zuständigen Bewährungshelfer zu melden, jeden Wechsel des Wohnorts oder des Arbeitsplatzes der Führungsaufsichtsstelle zu melden, keine alkoholischen Getränke, keine Betäubungsmittel und keine als Ersatzdrogen geeigneten Medikamente bzw. Ersatzstoffe zu konsumieren, sich bis zu zweimal wöchentlich, mindestens zweimal monatlich Urintests und Atemalkoholtests zu unterziehen, sich nicht an Orten aufzuhalten, an denen erkennbar überwiegend Alkohol oder Rauschgift konsumiert wird und keinen Kontakt zu Personen zu unterhalten, die erkennbar der Alkoholiker- oder Rauschgiftszene zuzuordnen sind. Der Kläger wurde ferner (nicht strafbewehrt) angewiesen, den Anordnungen des Bewährungshelfers und der Führungsaufsichtsstelle Folge zu leisten, sich regelmäßig in ambulante suchttherapeutische Behandlung bei der Forensischen Ambulanz des …s zu begeben, wobei die Abstände zwischen den Terminen nicht länger als eine Woche betragen sollen und sich bis zu viermal jährlich Haaruntersuchungen und bis zu einmal monatlich Blutkontrollen zur Überprüfung eines etwaigen Alkohol- oder Betäubungsmittelkonsums zu unterziehen. Die Strafvollstreckungskammer schloss sich der ärztlichen Stellungnahme an und sah den Unterbringungszweck als erreicht an; der Kläger habe sich im Maßregelvollzug mit seiner Delinquenz und Suchterkrankung kritisch auseinandergesetzt. Ein geeigneter sozialer Empfangsraum sei vorhanden. Es könne nunmehr erwartet werden, dass der Kläger außerhalb des Maßregelvollzugs unter den vorstehend erteilten Weisungen keine rechtswidrigen Taten mehr begehen werde. Im Hinblick auf die günstige Sozialprognose könne auch der Strafrest der noch nicht verbüßten Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden. Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf den Beschluss verwiesen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO (Az.: 3 StVK 563/19 Landgericht München I).
37
Am 5. September 2020 wurde der Kläger aus dem … entlassen.
38
Am 18. November 2020 erstellte die Forensische Ambulanz des …s München eine Epikrise und berichtete abschließend. Im Rahmen der psychiatrischen Anamnese habe der Kläger angegeben, bereits vier Mal versucht zu haben, sich das Leben zu nehmen. Nach Aufnahme des Klägers auf die hochgesicherte Station 60A sei aufgrund der mangelhaften Deutschkenntnisse des Klägers eine Deutschbeschulung angemeldet worden. Bis dahin sei nur eine rudimentäre Verständigung möglich gewesen. In der Lockerungsstufe A habe sich die Teilnahme an Gruppengesprächen aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse als problematisch dargestellt. Eigene Beiträge habe der Kläger dort nicht leisten können. Es sei rasch deutlich geworden, dass der Kläger bisher nur über sehr wenig Wissen in Bezug auf seine Suchterkrankung sowie protektive Faktoren verfüge. Der Kläger tue sich schwer damit, bisherige Überzeugungen und Denkmuster zu revidieren und alternative Denkmuster zu akzeptieren. Auch in Bezug auf seine Gewaltbereitschaft hätten sich die Denkstrukturen des Klägers als sehr rigide erwiesen. Eine Übernahme von Verantwortung in Bezug auf sein Delikt habe beim Kläger noch nicht in authentischer Weise erreicht werden können. Am 3. Juli 2019 sei der Kläger mit dem Verdacht konfrontiert worden, ein illegales Handy zu besitzen, was er bestritten habe. Nach Fund der illegalen Handys sei gegen den Kläger ein Disziplinarverfahren eingeleitet worden. In der Lockerungsstufe B habe er sich im therapeutischen Kontakt insgesamt nur „wenig motiviert“ gezeigt. Einzelgespräche habe der Kläger zwar regelmäßig wahrgenommen, therapeutische Hausaufgaben habe er allerdings nur nach mehrmaligem Nachfragen und mit deutlicher zeitlicher Verzögerung erledigt. Eine Deliktbearbeitung sei daher „nur in Ansätzen“ möglich gewesen. Die Einzelgespräche habe der Kläger in erster Linie zum Plaudern benutzt. Die Bereitschaft des Klägers, Deutsch zu lernen erscheine ebenfalls eingeschränkt. Der Deutschlehrer habe den Kläger aus dem Unterricht ausgeschlossen, da der Kläger selbst einfachste Hausaufgaben nicht erledigt habe. Auf seine Verständigungsschwierigkeiten in der deutschen Sprache angesprochen, habe der Kläger meist zahlreiche Erklärungen und Besserungsabsichten vorgebracht, die letztlich nicht umgesetzt worden seien. Auch auf der offengeführten Außenarbeiterstation habe der Kläger seine Einzelgespräche zwar regelmäßig wahrgenommen, inhaltlich sei eine therapeutische Auseinandersetzung aufgrund der sprachlichen Schwierigkeiten jedoch „kaum möglich“ gewesen. Der Kläger habe versichert, sich nach seiner Entlassung um einen Deutschkurs zu kümmern. In der Lockerungsstufe D habe der Kläger zunächst angegeben, er plane nach seiner Entlassung zu seiner Lebensgefährtin nach … zu ziehen, am 3. Juni 2020 habe er aber „überraschend mitgeteilt“, dass er in … bleiben werde. Alle durchgeführten Alkohol- und Drogenkontrollen seien im Ergebnis negativ verlaufen. Im Rahmen der Gefährlichkeitshypothese sei damit zu rechnen, dass es „unter gewissen Bedingungen“ zu erneuten Straftaten vergleichbar den Indexdelikten kommen könne. Zu diesen Bedingungen gehörten primär ein erneuter Suchtmittelrückfall, der vor allem durch hohen emotionalen Stress oder eine fehlende Tagesstruktur bedingt werden könne. Beim Kläger sei hoher emotionaler Stress vor allem „bei Beziehungsproblemen“ oder „finanziellen Schwierigkeiten“ zu erwarten.
39
Am 23. Mai 2021 tankte der Kläger an einer Tankstelle in … Kraftstoff im Wert von 20,01 Euro und entfernte sich von der Tankstelle ohne zu bezahlen.
40
Die nunmehrige Lebensgefährtin des Klägers schilderte am … 2021 gegenüber der Polizei als Zeugin, der Kläger habe sie am … 2021 mehrmals aus Eifersucht mit der Faust auf den Kopf geschlagen. Die Lebensgefährtin des Klägers gab gegenüber der Polizei an, der Kläger habe sie „3-4-mal“ schwer verprügelt. Er schlage sie jedes Mal, wenn er betrunken sei. Die Geschädigte erlitt ein Monokelhämatom linksseitig ohne aktive Blutung sowie multiple blaue Flecken im Bereich beider Ohren, der linken Gesichtshälfte, der Schultern und der proximalen Humeri (Az.: 257 Js 170583/21).
41
Mit Verfügung vom 4. August 2021 stellte die Staatsanwaltschaft München I das Ermittlungsverfahren gegen den Kläger wegen Betrugs am 23. Mai 2021 aus tatsächlichen Gründen nach § 170 Abs. 2 StPO ein (Az.: 266 Js 166670/21 - 1-).
42
Mit Verfügung vom 3. September 2021 stellte die Staatsanwaltschaft München I das Ermittlungsverfahren gegen den Kläger wegen Körperverletzung gemäß § 170 Abs. 2 StPO ein, da die Geschädigte keinen erforderlichen Strafantrag gestellt hatte (Az.: 257 Js 170583/21).
43
Mit Schreiben vom 7. September 2021 übersandte die Bewährungshelferin des Klägers dem Gericht einen aktuellen Bericht zum Verlauf von Bewährung und Führungsaufsicht. Danach gebe es keinen Grund zu Beanstandungen. Es sei inzwischen eine tragfähige Arbeitsbeziehung geschaffen worden. Der Kläger habe sich zuverlässig an sämtliche Weisungen des Führungsaufsichtsbeschlusses gehalten. Er wirke stabil veränderungsmotiviert und verfüge auch hinsichtlich seiner Suchterkrankung über eine beständige intrinsische Abstinenzmotivation. Straftaten bzw. -verfahren seien der Bewährungshilfe nicht bekannt geworden.
44
Am 22. September 2021 übersandte die Forensische Ambulanz des …s München den Abschlussbericht der stationären Behandlung und die ohne positiven Befund durchgeführten Drogenscreenings des Klägers im Zeitraum vom 8. September 2020 bis zum 10. September 2021.
45
Am 11. Oktober 2021 teilte die Bewährungshelferin dem Berichterstatter telefonisch mit, dass der Kläger nichts von polizeilichen Ermittlungen gegen ihn berichtet habe. Dies sei jedoch vorgesehener Gesprächsinhalt.
46
Am 12. Oktober 2021 verhandelten die Parteien mündlich vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht München. In der Verhandlung gab der Kläger an, er sei seit mittlerweile von seiner Verlobten getrennt und habe seit einem halben Jahr eine neue Lebensgefährtin, mit der er allerdings nicht zusammenlebe. Die neue Beziehung sei stabil. Er habe seine neue Lebensgefährtin nicht geschlagen und wisse nicht, woher deren Verletzungen stammen. Seiner Bewährungshelferin habe er gesagt, in der Beziehung sei alles in Ordnung. Er arbeite nun bei einer Zeitarbeitsfirma als Lagerhelfer.
47
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die vorgelegte Behördenakte, die Gerichtsakte, das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 12. Oktober 2021 und die Strafakten in den Verfahren 257 Js 170583/21, 266 Js 166670/21 -1 -, 7 KLs 257 Js 221454/17, 3 StVK 563/19 und Cs 369 Js 166779/17 verwiesen.
Entscheidungsgründe
48
Die Klage hat keinen Erfolg.
49
I. Die Klage ist unbegründet. Die Verlustfeststellung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die Dauer von sieben Jahren sind rechtmäßig (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Maßgebend für die rechtliche Beurteilung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. BayVGH, B.v. 10.10.2013 - 10 ZB 11.607 - juris; BVerwG, U.v. 3.8.2004 - 1 C 30/02 - juris).
50
1. Die Feststellung, dass der Kläger sein Recht auf Einreise und Aufenthalt verloren hat, ist rechtmäßig. Sie findet ihre Rechtsgrundlage in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU.
51
1.1. Nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt unbeschadet des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU und des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden; die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt nach § 6 Abs. 2 FreizügG/EU für sich allein nicht. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt (§ 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU).
52
Nach § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, wobei diese Feststellung im Allgemeinen bedeutet, dass in der Regel eine Neigung des Betroffenen bestehen muss, das Verhalten in Zukunft beizubehalten (EuGH, U.v. 22.5.2012 - C - 348/09 - juris Rn. 33 f.; BayVGH, U.v. 25.3.2021 - 19 ZB 19.950 - juris Rn. 11). Dieser Maßstab verweist - anders als der Begriff der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung im deutschen Polizeirecht - nicht auf die Gesamtheit aller Rechtsnormen, sondern auf einen spezifischen Rechtsgüterschutz, nämlich ein Grundinteresse der Gesellschaft, das berührt sein muss (BVerwG, U.v. 3.8.2004 - 1 C 30.02 - juris Rn. 24; BayVGH, U.v. 25.3.2021 - 19 ZB 19.950 - juris Rn. 11).
53
Nach ständiger Rechtsprechung haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen/Verlustfeststellungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (VGH BW, U.v. 15.1.2013 - 11 S 800/19 - juris Rn. 120 m.w.N.). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (VGH BW, a.a.O). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr; vgl. z.B. BayVGH, U.v. 25.3.2021 - 19 ZB 19.950 - juris Rn. 11; BVerwG, U.v. 4.10.2012 - 1 C 13.11 - Rn. 18).
54
1.2. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung des Einzelfalls besteht nach Auffassung des Gerichts unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür, dass vom Kläger die Gefahr der Begehung weiterer Straftaten, insbesondere von Körperverletzungs- und Eigentumsdelikten, ausgeht. Das Verhalten des Klägers, aus dem hinsichtlich der Wiederholungsgefahr Rückschlüsse zu ziehen sind, legt eine hinreichend hohe Rückfallgefahr nahe. Bei den dadurch berührten Rechtsgütern Leben, Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) und Eigentum (Art. 14 GG) handelt es sich um bedeutsame Rechtsgüter, deren Schutz ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt.
55
Für das Fortbestehen der Gefahr durch den Kläger streiten insbesondere seine langjährige Delinquenz (1.2.1.) und Drogenabhängigkeit (1.2.2.). Die Aussetzung des Vollzugs der Unterbringung und der Reststrafe zur Bewährung durch das Strafgericht aufgrund der gutachterlichen Einschätzung führen nicht zu einer abweichenden Beurteilung (1.2.3.).
56
Der Kläger kann sich nicht auf den erhöhten Schutz des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU berufen, wonach eine Feststellung des Verlusts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden kann, da er sich ab dem 2. Juni 2016, dem Zeitpunkt seiner Anmeldung in München bis zum dafür allein maßgeblichen Erlass des streitgegenständlichen Bescheids (vgl. VGH BW, U.v. 16.12.2020 - 11 S 955/19 - juris Ls.) am 11. April 2019 noch keine fünf Jahre ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten hat. Die Aufenthaltszeiten vom 17. September 2007 bis zum 21. Mai 2008 in … und vom 1. August 2014 bis zum 1. Oktober 2014 im Landkreis … werden dafür nicht angerechnet, da der Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet ununterbrochen bestehen muss („seit“) (Bergmann/Dienelt/Dienelt, 13. Aufl. 2020, FreizügG/EU § 4a Rn. 27). Unabhängig davon hat sich der Kläger, selbst wenn man seine Voraufenthaltszeiten addieren würde, nicht fünf Jahre im Bundesgebiet aufgehalten.
57
1.2.1. Vom persönlichen Verhalten des Klägers geht gegenwärtig eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Sicherheit aus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Die durch seine Delinquenz indizierte Gefährlichkeit ist zur Überzeugung des Gerichts im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung nicht beseitigt. Der Kläger wurde vor der letzten Verurteilung bereits mehrmals verurteilt, was ihn nicht von erneuter Straffälligkeit abhielt.
58
1.2.1.1. Seit seiner letzten Einreise ins Bundesgebiet im Jahr 2016 - gemeldet war der Kläger in … ab dem 2. Juni 2016 - ist er bereits zwei Mal strafrechtlich in Erscheinung getreten und wurde bereits relativ kurz nach seiner Einreise mit Strafbefehl vom 22. August 2018 wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in Tateinheit mit Körperverletzung und Beleidigung am 27. Februar 2017 verurteilt. In der Folge hat der Kläger seine Delinquenz erheblich gesteigert. Der Kläger wurde mit strafgerichtlichem Urteil vom 12. Dezember 2018 wegen Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt.
59
1.2.1.2. Auch im Rahmen der angeordneten Unterbringung im … zeigte der Kläger, dass er nicht willens oder nicht in der Lage ist, sich an die geltenden Regeln zu halten. Da der Sicherheitsdienst am 17. Juli 2019 entgegen den Vorschriften des Klinikums zwei Handys in seinem Besitz fand, wurde dort ein Disziplinarverfahren gegen den Kläger eingeleitet.
60
1.2.1.3. Zudem zeigt der Kläger zeigt nach Auffassung des Gerichts keine Tateinsicht. In der mündlichen Verhandlung am 12. Oktober 2021 lehnte der Klägers es ab, sich zur Anlasstat vom 4. November 2017 zu äußern, er bestritt auch, seine Lebensgefährtin geschlagen zu haben. In der Hauptverhandlung vor dem Landgericht München I gestand der Kläger die Tat „erst spät“. Im Rahmen der Unterbringung im … verneinte er auf Nachfrage „beharrlich“, ein illegales Handy zu besitzen. Gegenüber seiner Bewährungshelferin erwähnte der Kläger die laufenden polizeilichen Ermittlungen ebenfalls nicht. In diesem Lichte wirkt auch die von der Bewährungshelferin dargelegte Veränderungsmotivation des Klägers nicht derart stabil und beständig, zumal sie die ihr nicht mitgeteilten laufenden Strafverfahren als wesentlichen Teil der Resozialisierung des Klägers bezeichnet.
61
1.2.2. Bei Straftaten, die - wie hier - auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Verlustfeststellung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (z.B. BayVGH, U.v. 25.3.2021 - 19 ZB 19.950 - juris Rn. 26; BayVGH, B.v. 29.5.2018 - 10 ZB 17.1739 - juris Rn. 9; BayVGH B.v. 7.2.2018 - 10 ZB 17.1386 - juris Rn. 10). Solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Regelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (BayVGH, U.v. 25.3.2021 - 19 ZB 19.950 - juris Rn. 9; BayVGH, B.v. 13.10.2017 - 10 ZB 17.1469 - juris Rn. 12; BayVGH, B.v. 6.5.2015 - 10 ZB 15.231 - juris Rn. 7).
62
1.2.2.1. Der Kläger hat, vor allem unter Berücksichtigung seiner langen Drogenabhängigkeit und der bereits erfolgten stationären Drogentherapie in Polen, seit Ende der Therapie und seiner Entlassung aus dem Maßregelvollzug am 5. September 2020 bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung am 12. Oktober 2021 noch nicht ausreichend Zeit außerhalb des Strafvollzugs verbracht, um einen dauerhaften Einstellungswandel glaubhaft zu machen. Zudem wird in der Epikrise des …s vom 18. November 2020 dargestellt, dass der Kläger sich während der Unterbringung insgesamt nur wenig motiviert gezeigt habe. Therapeutische Hausaufgaben habe er nur nach mehrmaligem Nachfragen und deutlicher zeitlicher Verzögerung erledigt. Eine Deliktbearbeitung sei daher aufgrund der fehlenden Motivation nur in Ansätzen möglich gewesen (S. 8 Epikrise). Selbst unter Berücksichtigung der seit seiner Entlassung am 5. September 2020 mit negativen Befunden durchgeführten Drogen- und Alkoholtests kommt das Gericht daher angesichts der langjährigen Abhängigkeit und der kurzen Zeit in Freiheit zu keiner anderen Einschätzung.
63
1.2.2.2. Soweit der Kläger nach der Aussetzungsentscheidung - soweit ersichtlich - nicht strafrechtlich verurteilt wurde und keine Bewährungsverstöße begangen hat, ist dies nur bedingt aussagekräftig, weil es allgemeiner Erfahrung (und der Absicht des Gesetzgebers) entspricht, dass die Möglichkeit, eine zur Bewährung verfügte Strafrestaussetzung zu widerrufen, einen erheblichen Legalbewährungsdruck erzeugt, also zu erheblichen Anstrengungen in Richtung Selbstdisziplin und Lebensordnung führen kann. Dies ergibt sich unter anderem daraus, dass die mit der Strafrestaussetzung zur Bewährung verbundene niedrigschwellige Möglichkeit einer Inhaftierung anerkanntermaßen wesentlich besser als die (nach einer Vollverbüßung meist eintretende) Führungsaufsicht geeignet ist, die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls zu mindern. Zusätzlich wirkt auf das Verhalten des Klägers das laufende Verlustfeststellungsverfahren ein. Eine drohende Verlustfeststellung erzeugt häufig einen Legalbewährungsdruck, der über denjenigen einer drohenden Inhaftierung hinausgehen kann; erst recht gilt dies für einen erlassenen, aber noch nicht bestandskräftigen Verlustfeststellungsbescheid. Zu diesem Legalbewährungsdruck trägt wesentlich der Umstand bei, dass im Verlustfeststellungsrechtsstreit aktuelle Entwicklungen zu berücksichtigen sind (vgl. BayVGH, U.v. 25.3.2021 - 19 ZB 19.950 - juris Rn. 25).
64
1.2.3. Vor dem dargestellten Hintergrund sieht das Gericht - abweichend vom Beschluss des Strafvollstreckungsgerichts Landgericht München I vom 20. August 2020, den Rest des Vollzugs der Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen - weiterhin eine vom Aufenthalt des Klägers ausgehende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Insbesondere besteht die Gefahr der Begehung von Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum weiter fort.
65
1.2.3.1. Das Gericht ist bei der Gefahrenprognose nicht an die vom Strafvollstreckungsgericht Landgericht München I bei dessen Entscheidung über die Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung getroffene Einschätzung gebunden. Zwar sind die Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 StGB von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der Prognose ein wesentliches Indiz dar (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10/12 - juris). Eine Bindungswirkung geht von den strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidungen jedoch nicht aus. Die Prognose, ob der Ausländer eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland darstellt, bestimmt sich nämlich nicht nach strafrechtlichen Gesichtspunkten, auch nicht nach dem Gedanken der Resozialisierung. Vielmehr haben die zuständigen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose über die Wiederholungsgefahr zu treffen. Sie können deshalb sowohl aufgrund einer anderen Tatsachengrundlage als auch aufgrund einer anderen Würdigung zu einer abweichenden Prognoseentscheidung gelangen (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10/12 - juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 8.3.2016 - 10 B 15.180 - juris Rn. 34; BeckOK MigrR/Katzer, AufenthG, § 53 Rn. 22). Es bedarf jedoch einer substantiierten Begründung, wenn von der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer abgewichen wird (BayVGH, B.v. 27.9.2019 - 10 ZB 19.1781 - juris Rn. 11).
66
Bei Strafrestaussetzungsentscheidungen nach § 57 StGB geht es um die Frage, ob die Wiedereingliederung eines in Haft befindlichen Straftäters weiter im Vollzug stattfinden muss oder durch vorzeitige Entlassung für die Dauer der Bewährungszeit ggf. unter Auflagen „offen“ inmitten der Gesellschaft verantwortet werden kann. Bei dieser Entscheidung stehen naturgemäß vor allem Resozialisierungsgesichtspunkte im Vordergrund; zu ermitteln ist, ob der Täter das Potenzial hat, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen. Demgegenüber geht es im ausländerrechtlichen Ausweisungsverfahren um die Frage, ob das Risiko eines Misslingens der Resozialisierung von der deutschen Gesellschaft oder von der Gesellschaft im Heimatstaat des Ausländers getragen werden muss. Die der Ausweisung zu Grunde liegende Prognoseentscheidung bezieht sich folglich nicht nur auf die Dauer der Bewährungszeit, sondern hat einen längeren Zeithorizont in den Blick zu nehmen. Denn es geht hier um die Beurteilung, ob es dem Ausländer gelingen wird, über die Bewährungszeit hinaus ein straffreies Leben zu führen. Bei dieser längerfristigen Prognose kommt dem Verhalten des Betroffenen während der Haft und nach einer vorzeitigen Haftentlassung zwar erhebliches tatsächliches Gewicht zu. Dies hat aber nicht zur Folge, dass mit einer strafrechtlichen Aussetzungsentscheidung ausländerrechtlich eine Wiederholungsgefahr zwangsläufig oder zumindest regelmäßig entfällt. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Täter im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auf tatsächlich vorhandene Integrationsfaktoren verweisen kann; das Potenzial, sich während der Bewährungszeit straffrei zu führen, ist nur ein solcher Faktor, genügt aber für sich genommen nicht (BVerwG, U.v. 15.1.2013 - 1 C 10/12 - juris Rn. 19).
67
1.2.3.2. Nach diesen Grundsätzen ergibt sich ausländerrechtlich unter Berücksichtigung des längeren Prognosezeitraums über die Bewährungszeit hinaus und des Wahrscheinlichkeitsmaßstabes des § 57 StGB, der beinhaltet, auch ein gewisses Restrisiko zuzulassen, eine Prognose dahingehend, dass die vom Kläger ausgehende Gefahr fortbesteht. Dies ergibt sich insbesondere daraus, dass trotz der die Vollstreckung des Restes der Freiheitsstrafe aussetzenden Entscheidung vom 20. August 2020 auch das Strafgericht der Auffassung ist, dass beim Kläger die Gefahr der weiteren Begehung von Straftaten besteht und dieser Gefahr vorgebeugt werden muss. Dies lässt sich dem Umstand entnehmen, dass eine fünfjährige Bewährungsfrist (die gesetzliche Maximaldauer) und strafbewehrte Auflagen festgelegt worden sind.
68
Die Therapie war aufgrund der geringen Deutschkenntnisse des Klägers nur eingeschränkt möglich. Der Sachverständige … nahm in seinem Gutachten für eine Unterbringung nach § 64 StGB an, dass der Kläger für eine Behandlung mit hinreichenden Erfolgsaussichten seine Deutschkenntnisse deutlich verbessern müsste. Jedoch erwähnen das der Entlassung zugrundeliegende Gutachten vom … und die Epikrise des …s vom 18. November 2020 mehrfach, dass eine therapeutische Auseinandersetzung aufgrund der Sprachschwierigkeiten des Klägers erschwert bzw. kaum möglich war (S. 5 und 7 Gutachten; S. 7 und 8 Epikrise). Bis jetzt hat sich der Kläger nicht nachhaltig um die Verbesserung seiner Deutschkenntnisse bemüht. Entgegen seiner bisherigen mehrfachen Beteuerungen hat der Kläger zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung auch außerhalb der Unterbringung keinen Deutschkurs zur Verbesserung seiner Sprachkenntnisse absolviert.
69
Das Gericht hält es für hinreichend wahrscheinlich, dass es beim Kläger in Zukunft aufgrund von Beziehungsproblemen zu hohem emotionalen Stress kommt, was gemäß der Epikrise der forensischen Ambulanz des …s vom 18. November 2020 zu einem Suchtmittelrückfall und in der Folge zu weiterer Delinquenz führen kann. Gemäß der die Gefährlichkeitsprognose des Gutachtens vom … relativierenden Epikrise des …s „ist damit zu rechnen, dass es unter gewissen Bedingungen zu erneuten Straftaten vergleichbar den Indexdelikten kommen kann. Zu diesen Bedingungen gehört primär ein erneuter Suchtmittelrückfall, der vor allem durch hohen emotionalen Stress oder eine fehlende Tagesstruktur bedingt werden kann. Bei … ist hoher emotionaler Stress vor allem bei Beziehungsproblemen oder finanziellen Schwierigkeiten zu erwarten.“ Die Lebensgefährtin des Klägers gab bei ihrer polizeilichen Zeugenaussage vom … 2021 an, der Kläger habe sie nach einem Beziehungsstreit mehrfach mit der Faust gegen den Kopf geschlagen und stellte zunächst einen Strafantrag (S. 16 - 20 der Strafakte zum Verfahren Az.: 257 Js 170583/21). Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren dann mit Verfügung vom 3. September 2021 mangels Strafantrag ein. In der mündlichen Verhandlung am 12. Oktober 2021 gab der Kläger an, er habe mit seiner aktuellen Lebensgefährtin Frau K. einmal Streit gehabt, bestritt aber, sie geschlagen zu haben. Die Freundin von Frau K. habe die Polizei nur gerufen, weil sie eifersüchtig gewesen sei. Angesichts der widersprechenden Aussagen des Klägers und seiner Lebensgefährtin, die nach der polizeilichen Zeugenaussage zunächst auch ein polizeiliches Ermittlungsverfahren gegen den Kläger einleitete, ergeben sich für das Gericht trotz der Einlassung des Klägers damit noch genügend Anhaltspunkte dafür, dass auch in Zukunft Probleme in der Beziehung entstehen, die geeignet sind, beim Kläger hohen emotionalen Stress hervorzurufen, der zum Suchtmittelrückfall führen kann. Unabhängig davon erscheint es auch nicht ausgeschlossen, dass die finanzielle Situation des Klägers, der ausweislich seiner Aussage in der mündlichen Verhandlung Schulden in Höhe von 23.000 Euro hat und einer Beschäftigung im Niedriglohnsektor nachgeht, zu einem solchen emotionalen Stress führen kann.
70
Darüber hinaus stellen sich die dem zur Entlassung führenden Gutachten vom … zu Grunde gelegten Tatsachen, vor allem zu Partnerschaft und Beruf im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung ebenfalls als anders dar, als im Gutachten angenommen. Der Gutachter legte unter anderem für den Kläger als „prognostisch sicherlich günstig“ zugrunde, dass er in einer stabilen Partnerschaft sei (S. 7 Gutachten). Diese Annahme hat sich aber nicht erfüllt, da der Kläger alleine lebt, sich von seiner langjährigen Lebensgefährtin getrennt hat und entgegen seinen zunächst geäußerten Plänen nicht zu ihr nach Baden-Württemberg gezogen ist. Das Gericht erkennt zum entscheidungsrelevanten Zeitpunkt vor allem vor dem Hintergrund der polizeilichen Ermittlungen aufgrund der Geschehnisse vom … … 2021 nicht, dass der Kläger mit seiner nunmehrigen Lebensgefährtin in einer derart stabilen konfliktfreien Partnerschaft lebt. Ferner stellt sich das vom Kläger nach seiner Entlassung erwartete berufliche Umfeld ebenfalls als anders dar, da er nun - entgegen seines ursprünglich angegebenen Plans - nicht mehr auf der von ihm angegebenen Baustelle in … arbeitet, wo ihm nach seinen Angaben eine Festanstellung in Aussicht gestellt wurde, sondern bei einer Münchner Zeitarbeitsfirma.
71
1.2.4. Die Beklagte hat die persönlichen Interessen des Klägers bei ihrer Entscheidung über die Verlustfeststellung zutreffend berücksichtigt und gewichtet. Hierbei kann das Gericht wegen § 114 Satz 1 VwGO die Ermessensentscheidung der Beklagten lediglich daraufhin überprüfen, ob der Verwaltungsakt rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessen überschritten oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Gemessen an diesen Vorgaben ist die Entscheidung der Beklagten nicht zu beanstanden.
72
Nach § 6 Abs. 3 FreizügG/EU sind bei der Verlustfeststellung insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Daneben spielen die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bedrohten Rechtsguts, sowie die Entwicklung und die Lebensumstände des Klägers eine wichtige Rolle (vgl. BayVGH, B.v. 23.11.2010 - 19 ZB 10.584 - juris). Die Beklagte hat alle für den Kläger maßgeblichen Umstände berücksichtigt. Insbesondere hat sie zutreffend festgestellt, dass der Kläger keine familiären Bindungen unter dem Schutz des Art. 6 GG im Bundesgebiet hat. Ermessensfehler im Hinblick auf die Verlustfeststellung sind für das Gericht nicht ersichtlich.
73
2. Auch die Befristungsentscheidung gemäß § 7 Abs. 2 Satz 5 FreizügG/EU begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Die Fristlänge von sieben Jahren ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls (§ 7 Abs. 2 Satz 6 FreizügG/EU) nicht unverhältnismäßig bzw. unzumutbar.
74
Die Befristungsentscheidung ist auf der Grundlage der aktuellen Tatsachengrundlage und unter Würdigung des Verhaltens des Betroffenen nach der Verlustfeststellung zu treffen (BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 18.14 - juris Rn. 31 m.w.N.). Dabei ist in einem ersten Schritt eine an dem Gewicht des Grundes für die Verlustfeststellung sowie dem mit der Maßnahme verfolgten spezialpräventiven Zweck orientierte äußerste Frist zu bestimmen. Hierzu bedarf es der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Verlustfeststellung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr mit Blick auf die im vorliegenden Fall bedeutsame Gefahrenschwelle des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 18.14 - juris Rn. 35; VGH BW, U.v. 15.2.2017 - 11 S 983/16 - juris Rn. 36). Die im Hinblick auf die zur Gefahrenabwehr als erforderlich angesehene Sperrfrist ist einem zweiten Schritt unter Berücksichtigung schützenswerter Interessen des Klägers zu ermitteln und zu gewichten (vgl. BVerwG, U.v. 25.3.2015 - 1 C 18.14 - juris Rn. 37). Maßgebend ist die aktuelle Situation des Betroffenen (vgl. BayVGH, B.v. 23.7.2020 - 10 ZB 20.1171 - juris Rn. 19; U.v. 29.1.2019 - 10 B 18.1094 - juris Rn. 51; B.v. 21.4.2016 - 10 ZB 14.2448 - juris Rn. 5 m.w.N.).
75
Gemessen daran erweist sich die Befristung auf sieben Jahre vor dem Hintergrund der vom Kläger ausgehenden Gefahr für die besonders schützenswerten Rechtsgüter der körperlichen Unversehrtheit und des Eigentums als angemessen. Der Kläger, der nicht daueraufenthaltsberechtigt war und sich deshalb nicht auf die Schutzvorschriften des § 6 Abs. 4 und Abs. 5 FreizügG/EU berufen kann, hat keine erheblichen Bindungen im Bundesgebiet geltend gemacht. Seine aktuelle Lebensgefährtin Frau K. ist polnische Staatsangehörige, sein volljähriger Sohn lebt in Polen. Lediglich die Schwester des Klägers lebt in Hamburg. Sein bisheriger Aufenthalt im Bundesgebiet war mit mittlerweile über fünf Jahren, davon mehr als zwei Jahre in Haft bzw. im Maßregelvollzug nicht von langer Dauer. Eine nachhaltige wirtschaftliche Integration hat nicht stattgefunden. Der Kläger ist im Bundesgebiet außerhalb des Maßregelvollzugs und der Untersuchungshaft wechselnden ungelernten Tätigkeiten nachgegangen und hat Schulden in Höhe von 23.000 Euro.
76
3. Die Abschiebungsandrohung begegnet ebenfalls keinen rechtlichen Bedenken.
77
Die Klage war somit abzuweisen.
78
II. Der Kläger trägt als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens, § 154 Abs. 1 VwGO.
79
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO