Titel:
Erfolglose Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug
Normenketten:
AufenthG § 5 Abs. 2 S. 1
ARB 2/76 Art. 7
Leitsätze:
1. Welches Visum als das erforderliche Visum im Sinne von § 5 Abs. 2 S. 1 AufenthG anzusehen ist, bestimmt sich nach dem Aufenthaltszweck, der mit der im Bundesgebiet beantragten Aufenthaltserlaubnis verfolgt wird, weshalb nicht der Besitz irgendeines, sondern nur des für den jeweiligen konkreten Aufenthaltszweck notwendigen Visums genügt; unerheblich ist daher, ob nach einem Besuchsaufenthalt ein sog. „Nachentschluss“ zum Zweckwechsel vorliegt. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Zumutbarkeitsprüfung nach § 5 Abs. 2 S. 2 Alt. 2 AufenthG erfordert eine Güterabwägung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, bei der die legitimen Interessen des Ausländers gegen das öffentliche Interesse - einschließlich generalpräventiver Aspekte - an der Einhaltung des Visumverfahrens abzuwägen sind. (Rn. 29 – 38) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Türkischer Staatsangehöriger, Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug, Einreise ohne das erforderliche Visum, türkischer Staatsangehöriger, Aufenthaltserlaubnis, Familiennachzug, erforderliches Visum, Nachholung, Visumsverfahren, Interessenabwägung, Generalprävention
Fundstelle:
BeckRS 2021, 42219
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der am … … 1989 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er reiste zuletzt mit einem vom 1. April bis 29. Juni 2019 gültigen Visum der Kategorie C (sog. Schengen-Visum) am 6. April 2019 in das Bundesgebiet ein.
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Mit Schreiben vom 15. Juni 2019 beantragte der Klägerbevollmächtigte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zur Ehefrau des Klägers und zu den am 15. Juni 2012 und 16. März 2016 geborenen Kindern. Nicht hinderlich sei, dass der Kläger derzeit mit einem Visum der Kategorie C eingereist sei. Die Pflicht, für den Ehegattennachzug oder den Nachzug zum deutschen Kind ein entsprechendes Visum einzuholen, sei erst durch die 11. Änderungsverordnung zur DVAuslG vom 1. Juli 1980 eingeführt worden. Daher könne der Kläger aufgrund des Verschlechterungsverbots des Art. 7 ARB 2/76 nicht darauf verwiesen werden, mit einem entsprechenden Visum zum Familiennachzug einzureisen. In seiner Entscheidung vom 7. August 2018 stelle der EuGH explizit die Anwendbarkeit des Stillhalteverbots des Art. 7 ARB 2/76 fest. In diesem Zusammenhang habe er auch unterstrichen, dass eine Einreise ohne Visum nicht automatisch zur Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung führen dürfe, vor allem, wenn die Behörden im Mitgliedstaat ohne größeren Aufwand die Anspruchsvoraussetzungen überprüfen könnten. Ein derartigen Vorgehen wäre ansonsten unverhältnismäßig und mit EU-Recht unvereinbar. Daher seien die Mitgliedstaaten verpflichtet, im Einzelfall zu prüfen, ob von einer Visumspflicht abgesehen werden könne. Beim Kläger müsse beachtet werden, dass seine Kinder sehr an ihm hingen und diese es nicht mehr verstünden, dass er immer wieder nur für drei Monate hier bleiben dürfe. Die Ehefrau des Klägers arbeite zudem, um derzeit für den Familiennachzug den Lebensunterhalt sichern zu können, so dass die Anwesenheit des Klägers allein schon für die Versorgung und Betreuung der Kinder erforderlich sei. Erschwerend komme hinzu, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei zum Wehrdienst einberufen werde, so dass er dann für längere Zeit nicht mehr wiedereinreisen könnte. Dies alles sei für das Kindeswohl nicht zuträglich. Die Kinder litten bereits jetzt an Angstzuständen und Verlustängsten. Hinzu komme, dass beim jüngsten Kind der Familie wahrscheinlich auch die deutsche Staatsbürgerschaft übersehen worden sei.
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Vorgelegt wurde u.a. ein am 30. Juni 2018 vom Kläger und seiner Ehefrau unterzeichneter Mietvertrag über eine Wohnung in der … … in … für den Zeitraum vom 1. Juli 2019 bis 1. Juli 2021 (Zeitmietvertrag). Die Ehefrau des Klägers ist im Besitz einer Niederlassungserlaubnis und wie die Kinder türkische Staatsangehörige.
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Mit Schreiben vom 31. Oktober 2019 wurde der Kläger zur beabsichtigten Ablehnung seines Antrags angehört.
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Bei einer Vorsprache am 25. November 2019 erklärte die Ehefrau des Klägers, wenn der Kläger wieder in die Türkei einreise, werde er sofort von der Bundespolizei mitgenommen und müsse Wehrdienst ableisten. Durch einen Abruf auf der Homepage des türkischen Generalkonsulats habe im Februar 2019 der aktuelle Status eines Wehrdienstpflichtigen eingesehen werden können. Bei diesem Abruf sei der Status des Klägers „flüchtig“ gewesen, da dieser schon einberufen worden sei. Die Rückstellung vom Wehrdienst habe er im Januar 2019 beantragt. Diese sei ihm bis Mai gewährt worden. Im April sei er dann nach Deutschland gereist und sei daher seit Mai 2019 flüchtig. Der Kläger habe studiert und sei deswegen vom Wehrdienst zurückgestellt worden. Das Studium sei zum 30. Dezember 2018 gestoppt worden, da er zum Wehrdienst einberufen worden sei. Am 9. Januar 2019 habe der Kläger zur Wehrdienststelle gehen müssen, wo geprüft worden sei, ob er geeignet sei. Dies sei positiv festgestellt worden. Ein Freikauf sei nur bis zum 30. Lebensjahr möglich. Dabei würden in der Türkei allerdings Monate nicht berücksichtigt, so dass der Freikauf nur bis zur Vollendung des 29. Lebensjahres möglich sei. Nach dem 30. Lebensjahr sei dieser nur mit einem deutschen Aufenthaltstitel möglich. Da der Kläger flüchtig sei, müsse er bei Wiedereinreise 2.500,- Lira Strafe zahlen. Der Wehrdienst könne durch Bezahlung von sechs Monaten auf drei Monate verkürzt werden. Ansonsten dauere der Wehrdienst 12 Monate. Während dieser Zeit sei es ihr nicht möglich, ihrer Beschäftigung nachzugehen. Sie habe im Februar angefangen, am Flughafen zu arbeiten. Bis der Kläger gekommen sei, habe sie ihre Familie unterstützt. Die zwei Monate alleine habe sie dadurch überbrücken können. Da alle aus ihrer Familie ebenfalls in Schichten arbeiteten, sei eine Betreuung durch diese nicht möglich. Der Kläger habe im Mai 2019 ein Jobangebot von einer Döner-Bude erhalten. Wenn der Kläger wieder gehen müsse, müsse sie ihre Arbeitsstelle kündigen. Sie wolle diese aber nicht aufgeben. Außerdem befürchte sie, dass das Jobangebot für den Kläger bald nicht mehr zur Verfügung stehe, wenn sich das Verfahren noch weiter verzögere. Ihre ältere Tochter sei seit einigen Monaten schlechter im Unterricht, worauf sie sogar die Lehrerin angesprochen habe. Seit der Kläger hier sei, sei es stetig besser geworden. Da sie Angst habe, dass der Kläger wieder in die Türkei zurück müsse, verschlechtere sich ihr Zustand langsam.
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Mit Bescheid vom 16. Juli 2020 wurde der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vom 27. Juni 2019 abgelehnt (Nr. 1 des Bescheids) und der Kläger verpflichtet, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Vollziehbarkeit des Bescheids zu verlassen (Nr. 2 des Bescheids). Für der Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung in die Türkei oder einen anderen Staat angedroht, in den der Kläger einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist (Nr. 3 des Bescheids). Im Fall der Abschiebung wurde ein Einreise- und Aufenthaltsverbot angeordnet, das auf 12 Monate befristet wurde (Nr. 4 des Bescheids).
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der mit Schreiben vom 25. Juni 2019 formlos gestellte Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug sei abzulehnen. Die speziellen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 30 AufenthG lägen vor. Neben diesen müssten aber auch die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen vorliegen. Im Fall des Klägers scheitere es bereits bei der Einreise mit dem erforderlichen Visum nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Für einen längerfristigen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland bedürfe es grundsätzlich der Einreise mit einem nationalen Visum. Der Kläger sei mit einem Besuchsvisum nach Deutschland eingereist, so dass er nicht im Besitz eines nationalen Visums sei. Das Schengen-Visum sei zwar kein nationaler Aufenthaltstitel, allerdings ein Aufenthaltstitel im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG. Nach dem Visumantrag vom 6. März 2019 habe der Kläger bei der Deutschen Botschaft in Ankara ein Schengen-Visum für einen Besuchsaufenthalt in Deutschland beantragt. Entsprechend sei er lediglich mit einem Visum für einen kurzfristigen Aufenthalt in Deutschland eingereist. Für einen längerfristigen Aufenthalt im Bundesgebiet werde in der Regel ein nationales Visum benötigt. Die Visumpflicht eines Ausländers sei zunächst auf der Grundlage der Verordnung (EU) 2018/1806 zu beurteilen. Als türkischer Staatsangehöriger sei der Kläger dem Anhang I der EU-Visumverordnung zuzuordnen, weshalb er für jegliche Einreisen in das Bundesgebiet ein Visum benötige. Da der Kläger mit einem Besuchsvisum in das Bundesgebiet eingereist sei, sei es ihm nach § 39 Nr. 3 AufenthV grundsätzlich möglich, eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug im Bundesgebiet zu beantragen. Voraussetzung sei das Entstehen eines Rechtsanspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels während des rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet. Ein Rechtsanspruch nach der Einreise entstehe, wenn das Ereignis, das die Anwendung des Rechtsanspruchs begründe, erst nach der Einreise stattgefunden habe. Die Eheschließung mit seiner Ehefrau sei bereits am 1. Dezember 2010 in der Türkei erfolgt. Auch die Kinder des Klägers seien bereits vor seiner Einreise geboren worden. Somit sei kein Rechtsanspruch im Sinne des § 39 Nr. 3 AufenthV entstanden. Da der Kläger keine Ausnahmen nach § 39 Nr. 3 AufenthV geltend machen könne, bedürfe es eines Visums nach § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Dieses liege nicht vor. Der Kläger sei zwar mit einem Visum eingereist, jedoch sei die Einreise mit dem falschen Visum erfolgt. Die Frage der Erforderlichkeit des Visums bestimme sich nach dem Aufenthaltszweck, der mit der im Bundesgebiet beantragten Aufenthaltserlaubnis verfolgt werde. Dementsprechend sei es ohne Bedeutung, wenn der Entschluss für einen Daueraufenthalt erst im Bundesgebiet gefasst werde, es sei denn, es läge eine Ausnahme nach § 39 AufenthV vor. Für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug sei es notwendig, mit dem für diesen Aufenthaltszweck bestimmten Visum nach Deutschland einzureisen. Dabei mache es keinen Unterschied, ob der Entschluss für einen längeren Zeitraum als geplant im Bundesgebiet zu bleiben, erst nach der Einreise gefasst worden sei. Zudem gehe der Beklagte nicht davon aus, dass dieser Entschluss erst im Bundesgebiet gefasst worden sei. Vielmehr sei davon auszugehen, dass der Kläger das erforderliche Visumverfahren habe umgehen wollen. Seine Ehefrau habe am 30. Juli 2019 einen Mietvertrag für eine Dreizimmerwohnung vorgelegt. Der Vertrag sei vom Kläger und seiner Ehefrau als Mieter abgeschlossen und unterschrieben worden. Das Mietverhältnis habe am 1. Juli 2019 begonnen. Dies sei ein Indiz dafür, dass der Kläger bereits vor Einreise vorgehabt habe, nicht mehr in die Türkei zurückzukehren. Zudem habe sich die Ehefrau des Klägers bereits mehrmals in der Vergangenheit beim Landratsamt über einen Familiennachzug erkundigt. Da die Ehefrau in den letzten Jahren lediglich sporadisch einer Beschäftigung nachgegangen sei, sei es ihr nicht möglich gewesen, den Lebensunterhalt zu sichern. Erst seit 1. Februar 2019 sei die Ehefrau in einem Beschäftigungsverhältnis, das nun ein Jahr überdauere. Demnach sei erst in diesem Jahr die Möglichkeit gegeben, dass die Ehefrau den Lebensunterhalt für den Kläger und ihre gemeinsamen Kinder sichern könne. Auch ein Ausnahmefall sei nicht gegeben. § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 1 AufenthG setze einen Rechtsanspruch voraus. Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug stelle einen solchen Rechtsanspruch dar. Es seien auch alle sonstigen Erteilungsvoraussetzungen bis auf die Einreise mit dem erforderlichen Visum erfüllt, so dass der Ermessensspielraum eröffnet sei. Im Rahmen der Ermessensprüfung sei eine Güterabwägung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen. Die Ausreise in die Türkei, um das erforderliche Visum einzuholen, sei eine geeignete, erforderliche und auch angemessene Maßnahme, um den legitimen Zweck, das erhebliche öffentliche Interesse der Steuerung und Kontrolle der Zuwanderung von Ausländern, zu gewährleisten, zu erreichen. Es könnten nur durch die erneute Einreise mit dem erforderlichen Visum rechtmäßige Zustände geschaffen werden. Zudem sei diese Maßnahme aus generalpräventiven Erwägungen erforderlich. Anderen Ausländern solle hiermit auch verdeutlicht werden, dass durch die Einreise ohne das erforderliche Visum keine vollendeten Tatsachen geschaffen werden könnten. Die Durchsetzung der Nachholung des Visumverfahrens stehe auch nicht außer Verhältnis zur Schwere des Eingriffs. Der Beklagte sei der Ansicht, dass der Kläger bereits mit der Absicht, nicht mehr in die Türkei zurückzukehren, in das Bundesgebiet eingereist sei. Ein weiteres Indiz hierfür sei die gemeinsame Unterzeichnung eines Mietvertrags, der erst nach Einreise des Klägers in Kraft getreten sei. Mit der Unterschrift des Mietvertrags habe er bereits die Übersiedlung ins Bundesgebiet vorbereitet. Die Ehefrau habe zudem ausgeführt, dass dem Kläger das Visum lediglich aus dem Grund erteilt worden sei, damit er vor Antritt des Wehrdienstes noch einmal die Gelegenheit habe, seine Familie zu besuchen. Entsprechend hätte der Kläger zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich seitens der türkischen Behörden kein Visum für einen längerfristigen Aufenthalt in Deutschland bekommen, da er zum Ableisten des Wehrdienstes verpflichtet worden sei. Dass ihn nun der Wehrdienst daran hindere, das Visumverfahren nachzuholen, bekräftige den Verdacht, dass der Kläger bereits mit der Absicht, nicht mehr auszureisen, nach Deutschland eingereist sei. Im Rahmen der Visumbeantragung habe der Kläger ein Hin- und Rückflugticket bei der Deutschen Botschaft vorgelegt. Ein Rückflugticket sei beim Landratsamt hingegen nicht mehr vorgelegt worden, so dass es an einer glaubhaften Rückkehrbereitschaft fehle. Es sei davon auszugehen, dass die vorherigen Flüge storniert worden seien, da von Anfang an die Ausreise aus dem Bundesgebiet nicht vorgesehen gewesen sei. Es sei verständlich, dass die Ehefrau Schwierigkeiten haben werde, als alleinerziehende Mutter weiterhin in Vollzeit zu arbeiten und die Kinder zu betreuen. Sie befinde sich jedoch nicht in einer atypischen Situation, die sich erheblich von der Situation anderer alleinerziehender Mütter in Deutschland unterscheide. Viele Elternteile zögen unter solchen Umständen ihre Kinder groß. Darüber hinaus lebten nähere Verwandte der Ehefrau in der Umgebung, so dass diese für die Kinderbetreuung während der Arbeitszeiten der Ehefrau einspringen könnten. Zudem gebe es verschiedene Möglichkeiten für alleinerziehende Mütter, die Kinder während der Arbeitszeiten beaufsichtigen zu lassen. Beispielsweise habe der Flughafen München speziell für seine Mitarbeiter eine Kindertagesstätte, in der Kinder mit bis zu vier Jahren während der Arbeitszeit betreut werden könnten. Ferner böten viele Schulen eine Mittagsbetreuung an. Eine weitere Möglichkeit wäre eine Babysitterin bzw. eine private Kinderbetreuung. Dass die Ehefrau Verwandte in der Umgebung habe, schaffe bereits bessere Voraussetzungen als bei den meisten alleinerziehenden Elternteilen. Zudem sei der Zeitraum der Abwesenheit des Klägers begrenzt. Der Wehrdienst dauere zwischen 6 und 12 Monaten. Auch die Erwägungen, dass bei der jüngsten Tochter der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit übersehen worden sei, lasse die Nachholung des Visumverfahrens nicht unverhältnismäßig erscheinen, da diese noch immer die türkische Staatsangehörigkeit besitze. Nichtsdestotrotz werde berücksichtigt, dass der Kläger Vater zweier minderjähriger Kinder sei, die im Bundesgebiet leben. Darüber hinaus sei er seit 1. Dezember 2010 mit der Kindsmutter verheiratet. Trotzdem lebe er seither in der Türkei und habe dort seinen Wohnsitz. Seit der Eheschließung sei er dreimal in das Bundesgebiet zu Besuchszwecken eingereist. Der nunmehr achtmonatige Aufenthalt sei die längste Zeitspanne, die sich der Kläger bisher mit seinen Kindern gemeinsam in Deutschland aufgehalten habe. Insofern sei verständlich, dass sich diese an ihn gewöhnt hätten. Allerdings seien die Kinder auch durch die bisherigen Besuchsaufenthalte an ein wechselndes Familienleben gewöhnt. Es sei daher wahrscheinlich, dass sich die Kinder erneut mit den Abwesenheitszeiten abfinden werden. Die geltend gemachten Angstzustände und Verlustängste seien berücksichtigt worden. Psychologische Hilfe sei bisher nicht in Anspruch genommen worden. Dies sei jedenfalls ein Anzeichen dafür, dass die Angstzustände und Verlustängste nur in einem geringen Maße vorlägen. Nachweise, dass sich die schulischen Leistungen verschlechterten, lägen nicht vor. Die Beantragung des erforderlichen Visums in der Türkei stelle einen Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG dar. Das Visumverfahren sei allerdings ein unverzichtbares Steuerungsinstrument des Aufenthaltsrechts, das grundsätzlich nicht umgangen werden dürfe. Der Eingriff sei daher gerechtfertigt. Dem Kläger sei von Anfang an bewusst gewesen, dass er für einen langfristigen Aufenthalt in Deutschland ein nationales Visum benötige. Lediglich, weil er den Wehrdienst in der Türkei nicht ableisten wolle, habe er auf das notwendige Visumverfahren verzichtet. Er wisse seit der Eheschließung mit seiner Ehefrau, dass diese in Deutschland lebe. Darüber hinaus werde davon ausgegangen, dass die Entscheidung, die Kinder in Deutschland statt in der Türkei großzuziehen, eine gemeinsame Entscheidung des Klägers und seiner Ehefrau gewesen sei. Es sei auch nicht unzumutbar, das Visumverfahren nachzuholen. Demnach müsse die Einberufung in den Wehrdienst in der Türkei für die Herstellung und Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft so einschneidend sein, dass die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis unvertretbar sei. Hierzu habe das Bundesverwaltungsgericht entschieden, dass die Einberufung zum Wehrdienst keine Unzumutbarkeit darstelle. Mit der Wehrdienstleistung komme der Ausländer einer staatsbürgerlichen Pflicht nach, die auch bei Eheführung im Heimatland zu einer entsprechenden Trennung der Eheleute führen könne. Zwar sei eine längere Trennung der Familie nicht einfach. Allerdings lebe der Kläger in der Türkei und könne sich aus diesem Grund bereits seit der Eheschließung lediglich für Besuchsaufenthalte im Bundesgebiet aufhalten. Aus diesem Grund sei seinen Kindern ein anderes Familienleben nicht bekannt, so dass eine längere Trennung dadurch zwar nicht weniger schwierig sei, allerdings eine für die Kinder bekannte Situation darstelle. Ferner könne auch aufgrund des Verschlechterungsverbots gemäß Art. 7 ARB 2/76, Art. 13 ARB 1/80 nicht vom Nachholen des Visumverfahrens abgesehen werden. Durch das Verschlechterungsverbot sei es nicht erlaubt, neue Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt bei türkischen Staatsangehörigen und ihren Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung im Mitgliedstaat ordnungsgemäß seien, einzuführen. Da die Ehefrau des Klägers seit 1. Februar 2019 einer Beschäftigung nachgehe, sei diese Arbeitnehmerin. Zudem sei der Kläger mit einem Schengen-Visum in das Bundesgebiet eingereist und halte sich seither rechtmäßig im Bundesgebiet auf. Der EuGH habe in den vom Klägerbevollmächtigten angeführten Urteilen vom 7. August 2018 sowie vom 29. März 2017 entschieden, dass die Einführung des Visumverfahrens mit Wirkung vom 5. Oktober 1980 sowohl in den zeitlichen als auch in den sachlichen Anwendungsbereich des Art. 7 ARB 2/76 falle und eine neue Beschränkung für die Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer durch einen türkischen Staatsangehörigen bewirke, weil sie die Voraussetzungen für die Familienzusammenführung verschärfe. Darüber hinaus habe der EuGH festgestellt, dass diese Beschränkung zulässig sein könne, wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und geeignet sei, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten und nicht über das dafür Erforderliche hinausgehe. Das Bundesverwaltungsgericht habe hierzu in seinem neuesten Urteil vom 25. Juni 2019 ausgeführt, dass das für die Einreise zum Ehegattennachzug erforderliche Visum gewährleisten solle, dass die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen für den Nachzug bereits vor der Einreise geprüft werden. Die Visumpflicht gehe auch nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinaus und sei in diesem Sinne auch verhältnismäßig. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass das Visumverfahren nur eine Verzögerung, nicht aber eine dauernde Verhinderung des ehelichen Zusammenlebens bewirke. Der Gesetzgeber habe bereits zur Vermeidung einer Härte den Ausnahmetatbestand des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG geschaffen. Insofern führe die Einreise ohne das erforderliche Visum nicht automatisch zu einer Antragsablehnung. Stattdessen sei in jedem Einzelfall zu prüfen, ob aufgrund besonderer Umstände auf das Visumverfahren verzichtet werden könne. Aufgrund dieser Ausführungen könne auf das Visumverfahren nicht verzichtet werden. Mit Einführung und Konkretisierung des § 5 Abs. 2 AufenthG habe der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass der Zuzug von Ausländern nur bei Vorliegen der jeweiligen Erteilungsvoraussetzungen erlaubt werde bzw. unter bestimmten Umständen das Absehen vom Visumverfahren im Ermessenswege möglich sei. Der Ausnahmetatbestand des § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG greife im vorliegenden Fall nicht, so dass im Einzelfall vom Visumerfordernis nicht abgesehen werden könne. Der Kläger selbst besitze auch kein Assoziationsrecht nach dem ARB 1/80. Für den Fall der Abschiebung sei ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Eine Einreisesperre von 12 Monaten sei unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls eine geeignete, erforderliche und angemessene Frist für die Erreichung des Zwecks.
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Mit Schriftsatz vom 7. August 2020, bei Gericht am 18. August 2020 eingegangen, hat der Bevollmächtigte des Klägers Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München und beantragt,
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unter Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids den Be klagten zu verpflichten, die beantragte Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug zu erteilen sowie alle weiteren Anordnungen des Bescheids aufzuheben.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Mietvertrag für die neue Dreizimmerwohnung sei nur deshalb bereits vom Kläger und seiner Ehefrau unterschrieben worden, da der Vermieter unbedingt beide Eheleute als Vertragspartner habe haben wollen und hinsichtlich der sofortigen Unterschriftleistung von beiden Parteien das so begründet habe, dass der Kläger über kurz oder lang eh in Deutschland mit seiner Ehefrau leben werde, man sich daher den Aufwand sparen könne, später den Kläger in den Mietvertrag aufzunehmen. Der Entschluss, im Inland die Aufenthaltserlaubnis zu beantragen, sei vom Kläger gefasst worden, nachdem er sich bereits in … befunden habe und sich über die Rechtslage erkundigt habe. Eine Rückkehr in die Türkei würde für die Kinder zu einer starken seelischen Belastung führen, da sie dann wieder mit Verlustängsten zu kämpfen hätten. Ferner sei es der Mutter nicht möglich, für die Unterbringung der Kinder in einer Betreuung zu sorgen, so dass sie ihre derzeitige Arbeitsstelle verlieren würde. Der Beklagte gehe zu Unrecht davon aus, dass eine Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug nicht erteilt werden könne. Er verweigere die Erteilung, da der Kläger nur mit einem Besuchsvisum eingereist sei. Richtigerweise werde zwar noch die Anwendbarkeit des Art. 13 ARB 1/80 bzw. Art. 7 ARB 2/76 bejaht. Das Aufenthaltsrecht des Antragstellers bestimme sich daher nach §§ 5 ff. AuslG 1965. Der EuGH habe unterstrichen, dass eine Einreise ohne ein Visum nicht automatisch zur Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung führen dürfe, vor allem, wenn die Behörden im Mitgliedstaat ohne größeren Aufwand die Anspruchsvoraussetzungen überprüfen könnten. Ein derartiges Vorgehen wäre ansonsten unverhältnismäßig und mit EU-Recht unvereinbar. Daher seien die Mitgliedstaaten verpflichtet, im Einzelfall zu prüfen, ob von einer Visumpflicht abgesehen werden könne. Diese Ermessens- und Verhältnismäßigkeitsprüfung des Beklagten sei aber fehlerhaft, da sie der Bedeutung der Visafreiheit und der Verhältnismäßigkeitsprüfung, wie sie aus dem Urteil des EuGH vom 29. März 2019 folge, nicht gerecht werde. Der Beklagte stelle nur auf die Unzumutbarkeit einer Nachholung des Visumverfahrens gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ab und nehme eben nicht eine Verhältnismäßigkeitsüberprüfung gemäß der Rechtsprechung des EuGH und des Bundesverwaltungsgerichts vor. Bereits die Unzumutbarkeitsprüfung des Beklagten sei fehlerhaft. Der Beklagte habe zum einen fehlerhaft unterstellt, dass der Kläger bei seiner Einreise die Absicht gehabt habe, nicht mehr in seine Heimat zurückzukehren und hier einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu stellen, und folgere das u.a. daraus, dass er bereits Ende Juni 2018 mit seiner Ehefrau einen Mietvertrag ab dem 1. Juli 2019 unterschrieben habe. Dieser Mietvertrag sei indes nur aufgrund des Bestehens des Vermieters auf gleichzeitiger Unterzeichnung des Vertrags durch beide Eheleute unterschrieben worden. Die Möglichkeit, aufgrund der Rechtsprechung des EuGH ausnahmeweise im Inland einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu stellen, habe sich erst nach der letzten Einreise ergeben. Der Beklagte übersehe, dass der Kläger bereits 2014 und 2015 zu Besuchszwecken zu seiner Familie eingereist sei. Der Beklagte beachte auch nicht hinreichend, dass seine Kinder sehr am Kläger hingen und sie es nicht mehr verstehen würden, wenn er erneut ausreisen müsste. Die Ehefrau arbeite zudem, um derzeit für den Familiennachzug den Lebensunterhalt sichern zu können, so dass die Anwesenheit des Klägers allein schon für die Versorgung und Betreuung der Kinder erforderlich sei. Der Hinweis, dass andere Eltern in ähnlicher Lage ebenfalls sich um die Unterbringung und Versorgung kümmern müssten, greife zu kurz. Die Kinder des Klägers hätten eine enorme Angst, dass ihr Vater erneut für längere Zeit nicht mehr bei ihnen sein werde. Es werde daher kaum möglich sein, sie ohne weiteres entsprechend unterzubringen. Zudem sei es gar nicht so einfach, gleich für zwei Kinder eine Betreuung zu finden. Erschwerend komme hinzu, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei zum Wehrdienst einberufen werde, so dass er dann für längere Zeit nicht wieder einreisen könne. Dies alles sei für das Kindeswohl nicht zuträglich. Gänzlich fehlten Erwägungen im Zusammenhang mit der immer noch grassierenden Corona-Pandemie. Die Türkei sei überwiegend als Risikoland eingestuft. Das habe zwei Konsequenzen. Einmal bestehe gerade im Wehrdienst ein erhöhtes Risiko der eigenen Ansteckung mit nicht kalkulierbaren gesundheitlichen Folgen für ihn selbst. Zum anderen könne gar nicht abgesehen werden, wann die deutschen Auslandsvertretungen in der Türkei wieder neue Visaanträge zum Familiennachzug annehmen und überhaupt Termine vergeben. Derzeit arbeiteten diese mit halber Mannschaft. Es sei nicht auszuschließen, dass das Pandemieproblem im Herbst und Winter erneut aufflamme mit derzeit unvorhersehbaren Konsequenzen gerade auch für die Visaverfahren. Das Bundesverwaltungsgericht gehe sogar davon aus, dass bei Unzumutbarkeit der Visumnachholung eine unionskonforme Auslegung dahin vorliege, dass das der Behörde eingeräumte Ermessen auf null reduziert sei. Es stelle darauf ab, dass das Visumverfahren nur eine Verzögerung, nicht aber eine dauernde Verhinderung des ehelichen Zusammenlebens bewirken dürfe. Aus den obigen Ausführungen sei aber ersichtlich, dass im konkreten Fall besondere Umstände vorlägen, die nicht nur eine vorübergehende Trennung unzumutbar machten, vielmehr sei aus pandemiebedingten Gründen gar nicht absehbar, wann ein normales Visumverfahren zur Familienzusammenführung überhaupt möglich sein werde. Diese wichtigen Umstände habe der Beklagte gar nicht in seine Erwägungen einbezogen, weswegen ein Ermessensfehlgebrauch vorliege. Aus den erläuterten Umständen sei sogar von einer Ermessensreduzierung auf null auszugehen. Hinzu komme, dass bei einer Rückkehr des Klägers in die Türkei seine Ehefrau ihre Vollzeitstelle aufgeben müsse, um die Kinder zu betreuen. Dies wiederum hätte zur Folge, dass der Lebensunterhalt für den Familiennachzug des Ehemanns nicht mehr gesichert werden könne.
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Mit Schriftsatz vom 25. August 2020 hat der Beklagte beantragt,
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Auf den Bescheid vom 16. Juli 2020 wurde verwiesen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet.
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1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 Abs. 1 Satz 1 oder § 36 AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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Ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegatten- bzw. Familiennachzug scheitert an der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Danach setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis voraus, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat.
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a) Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bedürfen Ausländer für die Einreise und den Auf enthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder aufgrund des Abkommens vom 12. September 1963 zur Gründung der Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei ein Aufenthaltsrecht besteht.
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Der Kläger ist als türkischer Staatsangehöriger vorliegend weder durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung vom Erfordernis eines Aufenthaltstitels befreit noch hat er aus Art. 6 oder 7 ARB 1/80 ein unmittelbares Aufenthaltsrecht. Der Kläger gehört weder als Arbeitnehmer seit mindestens einem Jahr dem regulären Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik an noch hat er als Familienangehöriger die Genehmigung zum Nachzug zu seiner Ehefrau erhalten. Die Befugnis, die erstmalige Zulassung der Einreise des Familienangehörigen zu regeln, unterliegt dem nationalen Recht des Aufnahmemitgliedstaates (Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Art. 7 ARB 1/80).
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Der Kläger bedurfte somit eines Visums für den von ihm beabsichtigten Aufenthaltszweck. Denn welches Visum als das erforderliche Visum im Sinne von § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG anzusehen ist, bestimmt sich nach dem Aufenthaltszweck, der mit der im Bundesgebiet beantragten Aufenthaltserlaubnis verfolgt wird (BVerwG, U.v. 16.11.2010 - 1 C 17/09 - juris). Es genügt somit nicht der Besitz irgendeines, sondern nur des für den jeweiligen konkreten Aufenthaltszweck notwendigen Visums (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 5 AufenthG Rn. 90); unerheblich ist daher, ob nach einem Besuchsaufenthalt ein sog. „Nachentschluss“ zum Zweckwechsel vorliegt (Maor in BeckOK AuslR, Stand: 1.1.2021, § 5 AufenthG Rn. 22).
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Der Kläger war lediglich im Besitz eines sog. Schengen-Visums gem. § 6 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG für Aufenthalte von bis zu 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen. Nach § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist für längerfristige Aufenthalte jedoch ein nationales Visum für das Bundesgebiet erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Der beabsichtigte Aufenthalt des Klägers stellt einen längerfristigen Aufenthalt i.S.v. § 6 Abs. 3 Satz 1 AufenthG dar, da er auf Dauer die eheliche und familiäre Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet führen möchte. Ein nationales Visum zum Zweck des Ehegatten- bzw. Familiennachzugs hat der Kläger vor der Einreise nicht eingeholt.
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Von der Einreise mit dem erforderlichen Visum zum Zweck des Ehegatten- bzw. Familiennachzugs kann auch nicht gem. § 39 AufenthV abgesehen werden. Zwar kann ein Ausländer, der ein gültiges Schengen-Visum für kurzfristige Aufenthalte besitzt, einen Aufenthaltstitel im Bundesgebiet einholen oder verlängern lassen, sofern die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach der Einreise entstanden sind. Die Tatbestandsvoraussetzungen liegen jedoch nicht vor, da sowohl die Eheschließung des Klägers als auch die Geburt seiner Kinder zeitlich vor der Einreise in das Bundesgebiet am 6. April 2019 lagen.
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Die generelle Visumpflicht für türkische Staatsangehörige, die durch Art. 1 der Elften Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes (DVAuslG) vom 1. Juli 1980 (BGBl. I S. 782) mit Wirkung vom 5. Oktober 1980 eingeführt wurde, verstößt entgegen der Rechtsauffassung des Klägers auch nicht gegen das „Stillhaltegebot“ des Art. 7 ARB 2/76. Die Visumpflicht zur Familienzusammenführung fällt als neue Beschränkung zwar in den zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereich der assoziationsrechtlichen Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76. Sie ist aber aus Gründen der effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationskontrolle gerechtfertigt und geht mit Blick auf die Möglichkeit, nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG von der Einreise mit dem erforderlichen Visum abzusehen, bei unionsrechtskonformer Auslegung insbesondere nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinaus (BVerwG, U.v. 25.6.2019 - 1 C 40/18 - juris).
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Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat in seinem Urteil vom 7. August 2018 (C-123/17 [Yön] - juris) entschieden, dass die Einführung des Visumzwangs mit Wirkung vom 5. Oktober 1980 in den zeitlichen und sachlichen Anwendungsbereich des Art. 7 ARB 2/76 fällt und eine neue Beschränkung für die Ausübung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer durch einen türkischen Staatsangehörigen bewirkt, weil sie die Voraussetzungen für die Familienzusammenführung verschärft (vgl. auch EuGH, U.v. 29.3.2017 - C-652/15 [Tekdemir] - juris).
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Dies führt entgegen der Auffassung des Klägers jedoch nicht zur Anwendbarkeit der §§ 5 ff. AuslG 1965. Vielmehr hat der EuGH in seinem Urteil auch seine gefestigte Rechtsprechung bekräftigt, dass eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 7 ARB 2/76 zulässig sein kann, wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sowie geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten legitimen Ziels zu gewährleisten und nicht über das dafür Erforderliche hinausgeht. Dies ist hier der Fall.
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Die Einführung des Visumzwanges für türkische Staatsangehörige war im Interesse einer effektiven Einwanderungskontrolle und der Steuerung der Migrationsströme und damit aus auch unionsrechtlich anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses (EuGH, U.v. 7.8.2018 - C-123/17 - juris) geeignet und erforderlich (BVerwG, B.v. 26.1.2017 - 1 C 1.16 - juris; U.v. 25.6.2019 - 1 C 40/18 - juris). Das für die Einreise zum Ehegatten- bzw. Familiennachzug erforderliche Visum soll gewährleisten, dass die aufenthaltsrechtlichen Voraussetzungen für den Nachzug bereits vor der Einreise geprüft werden (EuGH, U.v. 7.8.2018 - C-123/17 - juris).
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Die Visumpflicht geht auch nicht über das zur Erreichung des verfolgten Ziels Erforderliche hinaus und ist in diesem Sinne auch verhältnismäßig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass das Visumverfahren nur eine Verzögerung, nicht aber eine dauernde Verhinderung des ehelichen und familiären Zusammenlebens bewirkt (BVerwG, U.v. 11.1.2011 - 1 C 23.09 - juris). Die Wahrung der Verhältnismäßigkeit auch im Einzelfall ermöglicht das nationale Recht in § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG mittels einer Härtefallklausel, durch die besonderen Umständen des Einzelfalls, die die Nachholung des Visumverfahrens unzumutbar machen, Rechnung getragen werden kann. Die Einreise ohne das erforderliche Visum führt danach nicht automatisch zur Ablehnung des Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Vielmehr ist vor einer derartigen Ablehnung in jedem Einzelfall zu prüfen, ob auf eine Nachholung des Visumverfahrens aufgrund besonderer Umstände zu verzichten ist. Bei dieser Entscheidung sind auch die Grundrechte der Betroffenen - namentlich das Recht auf Familienleben nach Art. 8 EMRK bzw. Art. 7 GrCh - zu berücksichtigen. Um einer nicht mehr verhältnismäßigen nachträglichen Beschränkung der Nachzugsvoraussetzungen entgegenzuwirken, ist § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG in diesen Fällen unionsrechtskonform dahin auszulegen, dass bei Unzumutbarkeit, das Visumverfahren im Herkunftsland nachzuholen, das der Behörde eingeräumte Ermessen auf null reduziert ist (BVerwG, U.v. 25.6.2019 - 1 C 40/18 - juris).
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b) Eine Nachholung des Visumverfahrens ist im vorliegenden Fall jedoch nicht auf grund besonderer Umstände des Einzelfalls unzumutbar (§ 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG).
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Zwar leben die Ehefrau und die beiden Kinder des Klägers im Bundesgebiet. Es ist jedoch grundsätzlich mit dem Schutz von Ehe und Familie nach Art. 6 GG und Art. 8 EMRK vereinbar, einen Ausländer auf die Einholung eines erforderlichen Visums zu verweisen. Der mit der Durchführung des Visumverfahrens einhergehende Zeitablauf ist von demjenigen, der die Einreise in die Bundesrepublik begehrt, regelmäßig hinzunehmen. Dies gilt vor allem vor dem Hintergrund, dass die vorherige Durchführung eines Visumverfahrens wichtigen öffentlichen Interessen dient. Ein besonderer Umstand gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG liegt erst dann vor, wenn sich der Ausländer in einer Sondersituation befindet, die sich signifikant von der Lage vergleichbarer Ausländer unterscheidet. Vor diesem Hintergrund erfordert die Zumutbarkeitsprüfung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG eine Güterabwägung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Dabei sind die legitimen Interessen des Ausländers gegen das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Visumverfahrens abzuwägen (vgl. Funke-Kaiser in Fritz/Vormeier, GKAufenthG, Stand: April 2020, § 5 Rn. 138 ff.), wobei die Wirkungen der Grundrechte, insbesondere der Schutz von Bindungen des Ausländers im Inland durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK als höherrangigem Recht beachtet werden müssen. Dem ausreisepflichtigen Familienmitglied kann danach ein auch nur vorübergehendes Verlassen des Bundesgebietes nicht zuzumuten sein, wenn einer der Angehörigen aufgrund individueller Besonderheiten mehr als im Regelfall auf persönlichen Beistand angewiesen ist. Sind kleine Kinder von der Ausreise des Ausländers betroffen, kann auch eine kurzfristige Trennung unzumutbar sein, da kleine Kinder den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen können und diese rasch als endgültigen Verlust erfahren. Unzumutbarkeit ist anzunehmen, wenn die Lebensgemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden kann, etwa weil das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, dem Kind daher ein Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht angedient werden kann und das Kind auf Grund seines Alters eine Trennung von dem Elternteil nicht wird verstehen können. In diesen Fällen drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück (HessVGH, B.v. 24.7.2020 - 3 D 1437/20 - juris).
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Im vorliegenden Fall sind sowohl die Ehefrau als auch die Kinder des Klägers türkische Staatsangehörige. Somit liegt schon keine Fallgestaltung vor, in der die eheliche und familiäre Lebensgemeinschaft nur im Bundesgebiet gelebt werden kann. Die Kinder des Klägers sind zudem mittlerweile über acht bzw. viereinhalb Jahre alt und damit nicht mehr in einem Alter, in dem sie den nur vorübergehenden Charakter einer Trennung nicht verstehen könnten. Die räumliche Trennung vom Kläger ist auch weder für dessen Ehefrau noch für seine Kinder etwas Neues. Vielmehr war für die Ehefrau und die Kinder des Klägers eine - auch längerfristige - Trennung vom Kläger lange Zeit gelebte Realität, so dass auch ein längerer Auslandsaufenthalt, ggf. unterbrochen durch Besuchsaufenthalte, keine grundlegende Umwälzung ihrer gewohnten bisherigen Lebensbedingungen bewirkt. Die Ehe des Klägers wurde bereits vor nahezu zehn Jahren geschlossen; bis zur Einreise des Klägers am 6. April 2019 führten die Eheleute eine Fernbeziehung, da der Kläger in der Türkei wohnhaft blieb. Seine Ehefrau und seine im Jahr 2012 geborene Tochter hat der Kläger zuvor im Bundesgebiet lediglich wenige Male besucht, seine im Jahr 2016 geborene Tochter hatte erstmals im Alter von knapp drei Jahren im Bundesgebiet Kontakt zu ihm. Erst seit dem 6. April 2019 hält sich der Kläger durchgehend im Bundesgebiet auf.
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Zwar ist es möglich, dass der Kläger infolge der Nachholung des Visumverfahrens in der Türkei seiner Verpflichtung zur Wehrdienstleistung nachkommen muss und es daher zu einer Trennung von sechs bis zwölf Monaten kommt. Die Wehrpflicht wurde durch das im Juni 2019 in Kraft getretene neue Wehrgesetz von zwölf auf sechs Monate reduziert, wobei die Möglichkeit besteht, sich nach einer einmonatigen militärischen Ausbildung von den restlichen fünf Monaten freizukaufen. Zwar sind Personen, die sich dem Wehrdienst entziehen von der neuen Regelung ausgeschlossen. Ob dies nur für die Freikaufsregelung oder auch für die Länge des Wehrdienstes gilt, kann dahinstehen. Denn selbst wenn der Kläger zwölf Monate Wehrdienst leisten müsste, stellt eine mögliche Trennungszeit von dieser Dauer zwar einen nicht unerheblichen Eingriff in die durch Art. 6 GG und Art. 8 EMRK geschützte eheliche und familiäre Lebensgemeinschaft dar, der Eingriff ist jedoch nicht unverhältnismäßig. Denn der Kläger kommt mit der Wehrdienstleistung einer staatsbürgerlichen Pflicht nach, die auch bei Führung der ehelichen und familiären Lebensgemeinschaft im Heimatland zu einer entsprechenden Trennung der Familienangehörigen führen kann (vgl. BVerwG, B.v. 29.12.2014 - 2 B 409/14 - juris). Dies gilt umso mehr angesichts der vom Kläger und seiner Familie in der Vergangenheit praktizierten ehelichen und familiären Lebensgemeinschaft, die hauptsächlich von der Abwesenheit des in der Türkei wohnhaften Klägers geprägt war (s.o.). In dem Zeitraum von bis zu zwölf Monaten ist trotz der ggf. längeren Terminwartezeiten und Bearbeitungsfristen aufgrund der anhaltenden Corona-Pandemie zudem auch mit einem Abschluss des Visumverfahrens zu rechnen, nachdem Anträge auf nationale Visa zur Familienzusammenführung nach wie vor uneingeschränkt möglich sind (vgl. https://tuerkei.diplo.de/trde) und der Beklagte zur Erteilung einer Vorabzustimmung bereit ist. Während der Zeit des Wehrdienstes und des Visumverfahrens kann der Kontakt sowohl zur Ehefrau als auch zu den Kindern überdies durch die verschiedenartigen Formen moderner Kommunikationsmittel aufrechterhalten werden.
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Dass die Kinder des Klägers durch die Trennung aufgrund der Nachholung des Visumverfahrens gesundheitliche Schäden davontragen würden, ist schon nicht durch ein ärztliches Attest glaubhaft gemacht worden.
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Eine Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens ergibt sich ferner auch nicht daraus, dass die Ehefrau des Klägers im Fall der Nachholung des Visumverfahrens wegen der erforderlichen Betreuung der Kinder ihre Arbeit aufgeben müsste. Ein derartiger Kausalzusammenhang ist nicht ersichtlich. Vielmehr ist es der Ehefrau des Klägers wie zahlreichen anderen Alleinerziehenden möglich und zumutbar, eine Betreuungsmöglichkeit für ihre Kinder während ihrer Arbeitszeiten zu organisieren, sei es durch Kindergarten oder Tagesheim, Tagesmütter oder - wie bereits in der Vergangenheit - durch im Bundesgebiet lebende Verwandte.
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Die Nachholung des Visumverfahrens ist dem Kläger auch nicht aufgrund der in der Türkei zu erwartenden Einziehung zum Wehrdienst oder einer möglichen Geldstrafe wegen Entziehung vom Wehrdienst unzumutbar. Die Ableistung des Wehrdienstes stellt eine übliche staatsbürgerliche Pflicht dar, deren Ahndung bei Nichterfüllung durch eine Geldstrafe nicht zur Unzumutbarkeit der Rückkehr ins Heimatland führt.
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Ferner ergibt sich auch keine Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens aufgrund der gesundheitlichen Gefahren der Corona-Pandemie. Diese ist weltweit verbreitet. Die Türkei hat bei ungefähr gleicher Einwohnerzahl wie Deutschland vergleichbare Infektionszahlen wie die Bundesrepublik bei erheblich weniger Todesfällen (vgl. https://covid19.who.int/). Die gesundheitliche Gefährdung des Klägers ist in der Türkei daher nicht höher als in Deutschland einzuschätzen. Abgesehen davon ist weder vorgetragen worden noch ersichtlich, dass der knapp 30 Jahre alte Kläger einer Risikogruppe angehört, bei der ein schwerwiegender Verlauf einer möglichen Infektion mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten wäre.
Schließlich ist im Rahmen der Güterabwägung auch zu berücksichtigen, dass dem öffentlichen Interesse an der Einhaltung des Visumverfahrens gerade im vorliegenden Fall besonderes Gewicht zukommt, da der Kläger zur Überzeugung des Gerichts bewusst mit einem bloßen Schengen-Visum zu Besuchszwecken eingereist ist und damit unter Umgehung des Visumverfahrens vollendete Tatsachen schaffen wollte. Hierfür spricht insbesondere der Umstand, dass der Kläger bereits am 30. Juni 2018 gemeinsam mit seiner Ehefrau einen Mietvertrag für eine 3 ½ - ZimmerWohnung in …, beginnend ab 1. Juli 2019, unterschrieben hat. Dies zeigt, dass der Kläger bereits bei der Einreise einen dauerhaften Aufenthalt im Bundesgebiet angestrebt hat. Dass die Unterzeichnung durch den Kläger lediglich auf Betreiben des Vermieters erfolgt sei, der auf der Unterzeichnung durch den Kläger bestanden habe, ist als Schutzbehauptung zurückzuweisen. Weder ist ersichtlich, welches Interesse der Vermieter an der Unterzeichnung des Mietvertrags durch den zum damaligen Zeitpunkt in der Türkei wohnhaften Kläger gehabt haben sollte, zumal dieser als Student über keine nennenswerten Einnahmen verfügt hat, noch stellt es einen erheblichen Aufwand dar, den Kläger im Falle seines tatsächlichen Einzugs in den Mietvertrag aufzunehmen. Darüber hinaus hat die Ehefrau des Klägers ausweislich des Schreibens vom 15. Juni 2019 zu arbeiten begonnen, um derzeit für den Familiennachzug den Lebensunterhalt sichern zu können. Auch dies zeigt, dass bei Einreise des Klägers ein dauerhafter Aufenthalt in Deutschland beabsichtigt war. Zudem wollte der Kläger offensichtlich auch dem in der Türkei drohenden Wehrdienst durch eine dauerhafte Verlagerung seines Wohnsitzes ins Bundesgebiet entgehen. So ist dem Kläger nach Angaben seiner Ehefrau eine Rückstellung vom Wehrdienst lediglich bis Mai 2019 gewährt worden. Einen Monat zuvor ist der Kläger mit einem Schengen-Visum in das Bundesgebiet eingereist. Bei der Visumbeantragung hat er dabei ein Rückflugticket für den 29. Juni 2019 und damit für einen Zeitpunkt vorgelegt, zu dem die Rückstellung vom Wehrdienst bereits abgelaufen war und der Kläger sich wegen Wehrdienstentziehung (bakaya) strafbar gemacht hat. Daraus kann nur der Schluss gezogen werden, dass der Kläger niemals die Absicht gehabt hat, den gebuchten Rückflug tatsächlich anzutreten. Dementsprechend hat er auch beim Beklagten kein Rückflugticket vorgelegt.
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Unter Berücksichtigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls liegt nach alledem eine Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens gem. § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG, bei der nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Wege der Ermessensreduzierung auf null vom Erfordernis der Einreise mit dem erforderlichen Visum abgesehen werden müsste, nicht vor. Zwar kann von der Nachholung des Visumverfahrens auch dann abgesehen werden, wenn die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erfüllt sind. Ein Anspruch ergibt sich vorliegend zwar nicht aus § 36 Abs. 1 AufenthG, da mit der Mutter bereits ein personensorgeberechtigter Elternteil der Töchter des Klägers im Bundesgebiet lebt; § 36 Abs. 2 AufenthG begründet schon keinen Anspruch, sondern stellt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in das Ermessen der Behörde. Ein Anspruch ergibt sich jedoch aus § 30 Abs. 1 Satz 1 AufenthG für den Ehegattennachzug.
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Die Ermessensentscheidung des Beklagten, von der Nachholung des Visumverfahrens im konkreten Einzelfall nicht abzusehen, ist rechtlich allerdings nicht zu beanstanden. Das Gericht kann die Entscheidung des Beklagten insoweit nur daraufhin überprüfen, ob die gesetzlichen Grenzen des durch § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG eingeräumten Ermessens eingehalten sind und von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht wurde (§ 114 Satz 1 VwGO).
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Ermessensfehler im Sinne von § 114 VwGO sind nicht ersichtlich. Der Beklagte hat sämtliche relevanten öffentlichen und privaten Interessen in seine Abwägung eingestellt und zutreffend gewichtet. Insbesondere hat er die Bedeutung des Visumverfahrens als Steuerungsinstrument der Zuwanderung und die Bindungen des Klägers im Bundesgebiet zu seiner Ehefrau und seinen Kindern mit dem entsprechenden Gewicht berücksichtigt. Relevant ist bei der Interessenabwägung insbesondere, ob an einem nicht durch ein Visumverfahren unterbrochenen Aufenthalt des Ausländers ein öffentliches oder grundrechtlich geschütztes privates Interesse besteht und ob im konkreten Einzelfall das Nachholen des Visumverfahrens mit dem dahinterstehenden Grundgedanken noch vereinbar ist oder umgekehrt ohne Schaden von ihm abgewichen werden kann (BayVGH, B.v. 9.9.2013 - 10 CS 13.1448 - juris Rn. 11). Gegen ein Absehen vom Visumerfordernis sprechen hier insbesondere Umstände, die darauf schließen lassen, dass der Kläger durch die Einreise mit einem Schengen-Visum zu Besuchszwecken vollendete Tatsachen schaffen wollte (s.o.). Soll das Visumverfahren als wichtiges Steuerungsinstrument der Zuwanderung seine Funktion wirksam erfüllen können, dürfen in die Interessenabwägung auch generalpräventive Aspekte einfließen (BVerwG, U.v. 11.1.2011 - 1 C 23/09 - juris Rn. 34; BayVGH, B.v. 9.9.2013 - 10 CS 13.144 - juris; BayVGH, B.v. 28.05.2015 - 10 CE 14.2123 - juris). Demgegenüber wiegen die privaten Interessen des Klägers nicht so schwer. Er hat bis April 2019 in seinem Heimatland Türkei gelebt, obwohl er mit seiner Ehefrau bereits seit dem Jahr 2010 verheiratet ist und seine Kinder bereits im Jahr 2012 bzw. 2016 im Bundesgebiet geboren wurden. Der Schutz von Ehe und Familie sowie des Privat- und Familienlebens nach Art. 6 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK wird nicht in unverhältnismäßiger Weise beeinträchtigt, wenn der Antragsteller zum Zwecke der Durchführung des Visumverfahrens in sein Heimatland zurückkehrt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof geht in ständiger Rechtsprechung (vgl. z.B. B.v. 25.4.2014 - 10 CE 14.650 - juris) davon aus, dass weder Art. 6 GG noch Art. 8 EMRK einen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt gewähren und dass es mit den in den genannten Bestimmungen enthaltenen wertentscheidenden Grundsatznormen grundsätzlich vereinbar ist, Ausländer, die nicht mit dem erforderlichen Visum eingereist sind, auf die Einholung dieses Visums zu verweisen. Nur wenn die Familie im Kern die Funktion einer Beistandsgemeinschaft erfüllt, weil ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist und dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden kann, weil einem beteiligten Familienmitglied ein Verlassen der Bundesrepublik nicht zumutbar ist, drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, regelmäßig einwanderungspolitische Belange mit der Folge zurück, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen sich als unverhältnismäßig erweisen. Derartige Gesichtspunkte liegen hier nicht vor. Der Kläger kann in sein Heimatland, in dem er bisher ohne seine Ehefrau und seine Kinder gelebt hat, zurückkehren, zumal dies nur für den Zeitraum erforderlich ist, der benötigt wird, um ordnungsgemäß das Visumverfahren zu durchlaufen bzw. ggf. die staatsbürgerliche Verpflichtung zum Wehrdienst zu erfüllen. Die im Bundesgebiet lebende Ehefrau und die Kinder des Klägers sind nicht auf eine Betreuung durch den Kläger angewiesen (s.o.). Auch ist ihnen eine Trennung von sechs bis zwölf Monaten zumutbar, zumal die Kinder in einem Alter sind, in dem sie den nur vorübergehenden Charakter der Trennung verstehen können (s.o.).
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Dass der Beklagte im Rahmen der Abwägung angesichts der Bedeutung des Visumverfahrens und insbesondere der generalpräventiven Aspekte aufgrund der bewussten Umgehung des Visumverfahrens durch den Kläger zu dem Ergebnis gekommen ist, dass auf eine Nachholung des Visumverfahrens im konkreten Einzelfall nicht verzichtet wird, ist nach alledem nicht zu beanstanden.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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3. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.