Titel:
Bandscheibenschaden - Fehlender Nachweis des Unfalls als (überwiegende) Ursache
Normenkette:
AUB 2014 Ziff. 5.2.1
Leitsatz:
Fehlender Nachweis eines unfallbedingten Bandscheibenvorfalls L5/S1. Soweit im Streitfall die Möglichkeit verbleibt, dass durch das Sturzereignis asymptomatische Veränderungen an der Wirbelsäule und den Bandscheiben des Versicherten aktiviert worden und damit erstmalig symptomatisch geworden sind, wäre das Sturzereignis gegenüber vorbestehenden degenerativen Veränderungen jedenfalls nicht die überwiegende Ursache und eine hierauf gestützte Invalidität nach Ziff. 5.2.1 AVB (entspricht Ziff. 5.2.1 AUB 2014) unbeachtlich. Insoweit sind bei der Abwägung der Mitverursachungsanteile auch altersentsprechende Degenerationen zu berücksichtigen (s. auch OLG Hamm BeckRS 2006, 3095). (Rn. 18 – 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Unfallversicherung, Ausschluss, Bandscheibenvorfall, Kausalität
Fundstellen:
BeckRS 2021, 42052
LSK 2021, 42052
r+s 2023, 871
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Der Streitwert wird auf 69.800,00 € festgesetzt.
Tatbestand
1
Der Kläger nimmt die Beklagte auf Leistungen aus einer privaten Unfallversicherung in Anspruch.
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Der Kläger hält bei der Beklagten seit Versicherungsbeginn am 01.07.2011 eine private Unfallversicherung (vgl. Versicherungsschein, Anlage K1), die für den Fall einer unfallbedingten Invalidität von mindestens 20 % die Zahlung einer einmaligen Kapitalleistung und von mindestens 50 % die Zahlung einer monatlichen Rente vorsieht. Vereinbart ist die Geltung von AVB (Anlage K2). Diese sehen in Ziffer 5.2.1 AVB vor, dass Schäden an Bandscheiben vom Versicherungsschutz ausgeschlossen sind, es sei denn, diese wurden überwiegend durch ein versichertes Unfallereignis verursacht.
3
Am 16.01.2017 stürzte der Kläger in seinem Wohnanwesen auf der Treppe und wurde durch einen Notarzt in das Klinikum … eingewiesen (vgl. Anlage K3). Dort wurde mehrere Untersuchungen mittels Magnetresonanztomografie (MRT) durchgeführt, bei denen insbesondere ausgestoßenes Bandscheibengewebe (Sequester) mit Abdrängung der Nervenwurzel am fünften Lendenwirbelkörper (L5) festgestellt wurde (vgl. Anlagen K5 und B2). Dieser Zustand wurde operativ versorgt (vgl. Anlagen K6 und K7). Am 28.01.2017 wurde der Kläger aus der stationären Behandlung entlassen (vgl. Anlage K4).
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Mit Schreiben vom 13.03.2017 nebst Anlagen (Anlagen B1 bis B4 und K4 bis K7) zeigte der Kläger das Ereignis vom 16.01.2017 bei der Beklagten als Unfallereignis an.
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In einem ärztlichen Bericht der Praxis … vom 04.02.2019 (Anlage B5, vorgelegt mit in rot geschriebenen Ergänzungen des Klägers auch als Anlage K9) wird unter Punkt UD 1 angegeben, dass ein Unfall nicht bekannt sei („Ø Unfall bekannt“). Unter Punkt BS 1.2 wird bestätigt, dass „das geschilderte Unfallereignis“ die Bandscheibenschädigungen ganz oder teilweise verursacht habe, zwar degenerative Veränderungen an der Wirbelsäule oder den Bandscheiben vorgelegen hätten, „das geschilderte Unfallereignis“ jedoch zu „100 %“ demgegenüber die überwiegende Ursache gewesen sei. Zur Begründung ist angeführt „Bildbefund“ und „Ø Unfallereignis geschildert“.
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Mit zwei Schreiben vom 07.03.2019 (Anlage B7) und vom 09.04.2019 (Anlage B8) erklärte ein Oberarzt Dr. … für die Praxis … auf eine Nachfrage der Beklagten vom 25.02.2019 (Anlage K6), dass bei der Abfassung des Berichts vom 04.02.2019 die Fragen unter Punkt BS 1.2 missverstanden worden seien. Tatsächlich seien die Beschwerden des Klägers allein auf unfallunabhängige degenerative Veränderungen der Wirbelsäule zurückzuführen.
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Mit Schreiben vom 26.03.2019 (Anlage K10) teilte die Beklagten dem Kläger mit, dass für das Ereignis vom 16.01.2017 ein Versicherungsschutz aus der streitgegenständlichen Unfallversicherung nicht bestehe.
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Mit zwei Schreiben des Klägervertreters vom 11.11.2019 (Anlage K9) und vom 16.12.2019 (Anlage K11) ließ der Kläger die Beklagte zuletzt unter Übersendung eines Klageentwurfs und Fristsetzung zum 16.12.2019 auffordern, Zahlung zu leisten und die Ansprüche des Klägers anzuerkennen.
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Der Kläger behauptet, er sei bei dem Sturz am 16.01.2017 mit dem Rücken und dem Gesäß mehrfach „mit den Treppenstufen in Berührung gekommen“ (Klageschrift, Seite 4, Bl. 4 d.A.) und habe sich danach ab dem Bauchnabel abwärts vor Schmerzen nicht mehr bewegen können. Durch den Sturz habe er eine Lumboischialgie mit L5-Syndrom links bei extraforaminalen Bandscheibenvorfall L5/S1 sowie eine Schwellung des linken Sprunggelenks erlitten.
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Der Kläger leide seitdem und allein wegen des Unfalls vom 16.01.2017 an erheblichen Schmerzzuständen im Rückenbereich (Lumboischialgie) einhergehend mit Ziehen in das linke Bein, Taubheit und Lähmung an den Zehen links (Fußheberparese). Er sei deswegen in seiner Mobilität eingeschränkt. Das Gehen sei ihm nur unter Verwendung von Hilfsmitteln möglich (vgl. Anlagen K8). Der Kläger könne schwere Sachen nicht mehr tragen, leichtere Sachen nur unter Einschränkungen. Er habe deswegen seinen Beruf als Lagerist aufgeben müssen (vgl. zu den behaupteten Beeinträchtigungen im Einzelnen die Klageschrift, Seite 6, Bl. 6 d.A., sowie den Schriftsatz vom 09.04.2020, Seite 4 f., Bl. 26 f. d.A.). Es liege daher eine unfallbedingte Invalidität von mindestens 50 % vor.
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Der Kläger beantragt daher
I. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger unter Zugrundelegung eines Invaliditätsgrades von mindestens 50 % 25.000,00 € als Kapitalleistung zu bezahlen nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz seit 27.03.2019.
II. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 18.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweils gültigen Basiszinssatz
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aus einem Betrag in Höhe von 19.500,00 € seit 27.03.2019
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aus einem Betrag in Höhe von 500,00 € seit 01.04.2019,
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aus einem Betrag in Höhe von 500,00 € seit 01.05.2019,
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aus einem Betrag in Höhe von 500,00 € seit 01.06.2019,
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aus einem Betrag in Höhe von 500,00 € seit 01.07.2019,
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aus einem Betrag in Höhe von 500,00 € seit 01.08.2019,
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aus einem Betrag in Höhe von 500,00 € seit 01.09.2019,
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aus einem Betrag in Höhe von 500,00 € seit 01.10.2019,
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aus einem Betrag in Höhe von 500,00 € seit 01.11.2019,
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aus einem Betrag in Höhe von 500,00 € seit 01.12.2019
als fällige Unfallrente zu bezahlen.
III. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger ab dem 01.01.2020 eine monatliche Unfallrente in Höhe von 500,00 €, zahlbar monatlich im Voraus unter Zugrundelegung eines Invaliditätsgrades von mindestens 50 % zu bezahlen bis der Kläger verstirbt.
IV. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger den über mit Klageantrag 1 und 2 (sic) hinausgehenden Betrag zu zahlen, der sich aus der Unfallversicherung aufgrund der über 50 % Invaliditätsgrad hinausgehen, festgestellten Invalidität ergibt.
V. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von der Zahlung der hälftigen, außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren der Rechtsanwälte …, freizustellen.
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Die Beklagte beantragt
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Sie bestreitet, dass der Kläger bei dem Ereignis vom 16.01.2017 irgendwelche nachweisbaren Erstkörperschäden erlitten hätte. Das Ereignis und etwaige dabei erlittene Verletzungen hätten jedenfalls nicht zu einer Invalidität geführt. Eine etwaige Schwellung des linken Sprunggelenks sei folgenlos ausgeheilt. Zudem wären das Ereignis vom 16.01.2017 nicht die überwiegende Ursache der geltend gemachten Bandscheibenbeschwerden und diese daher nach Ziffer 5.2.1 AVB vom Versicherungsschutz ausgeschlossen.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines Gutachtens der Sachverständigen Dr. … nebst deren mündlicher Anhörung. Zum Inhalt wird auf das schriftliche Gutachten vom 16.10.2020 (Bl. 54 ff. d.A.) nebst Ergänzungen vom 12.02.2021 (Bl. 87 ff. d.A.) und vom 21.06.2021 (Bl. 119 ff. d.A.) sowie auf die Niederschrift vom 01.10.2021 (Bl. 156 ff. d.A.) verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist nicht begründet.
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I. Dem Kläger stehen die geltend gemachten Ansprüche nicht zu, da er eine bedingungsgemäße unfallbedingte Invalidität nicht nachzuweisen vermocht hat.
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1. Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme kann nicht festgestellt werden, dass die vom Kläger vorgetragenen Beeinträchtigungen - in einer nach den Vereinbarungen im streitgegenständlichen Versicherungsvertrag maßgeblichen Weise - durch das behauptete Unfallereignis verursacht worden wären. Eine unfallbedingte, bedingungsgemäße Invalidität scheidet daher aus.
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a) Es besteht schon kein objektiv gesicherter Anhaltspunkt dafür, dass der Kläger bei dem streitgegenständlichen - von der Beklagten in seinem Ablauf nicht bestrittenen - Sturzereignis überhaupt irgendwelche relevanten Verletzungen an der Wirbelsäule oder den Bandscheiben erlitten hat.
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aa) Zwar hat der Kläger vortragen, vor dem streitgegenständlichen Sturzereignis noch nicht unter den behaupteten Beeinträchtigungen im Rücken und im linken Bein gelitten zu haben. Diese seien vielmehr erst nach dem Unfall und der daraufhin durchgeführten operativen Versorgung eingetreten. In den vorliegenden ärztlichen Unterlagen sind bereits vor dem streitgegenständlichen Sturzereignis aufgetretene diesbezügliche Beeinträchtigungen des Klägers auch nicht dokumentiert (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 13, Bl. 60 d.A.). Die Sachverständige hat es zwar als „fast nicht vorstellbar“ bezeichnet, dass der Kläger bei dem durch die MRT-Untersuchungen ab dem 16.01.2017 gesicherten ausgedehnten Veränderungen vor dem streitgegenständlichen Sturzereignis noch keinerlei klinische Symptome gezeigt haben soll (Gutachten vom 16.10.2020, Seite 18, Bl. 62R d.A.), diese Möglichkeit damit jedoch gerade nicht ausgeschlossen.
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bb) Hingegen hat die Sachverständige nachvollziehbar und überzeugend ausgeführt, dass weder bei den MRT-Untersuchungen noch während der nachfolgenden Operation irgendwelche Anhaltspunkte für eine akute Verletzung oder einen akuten oder aktivierten Reizzustand an den Bandscheiben des Klägers dokumentiert wurde, wohingegen die operative Intervention eindeutig durch das Vorliegen eines - als verschleißbedingte Veränderung zu interpretierenden - stark sequestrierten Bandscheibenvorfalls im Bereich L5/S1 indiziert gewesen sei (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 13 ff., Bl. 60 ff. d.A.).
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Insofern hat die Sachverständige mehrfach und überzeugend ausgeführt, dass bei einer traumatischen Beschädigung der Bandscheibe zumindest irgendwelche frischen strukturellen Begleitverletzungen an den Knochen oder im Weichteilbereich zu erwarten gewesen wären, wie etwa
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eine Fraktur eines Wirbelkörpers (L5 oder S1),
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eine Sprengung oder Kantenabrisse an einem Wirbelkörper,
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Grund- oder Deckenplattenkompressionen,
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Sprengungen oder Frakturen der bereits vorhandenen spondylophytären Abstützreaktionen im Bereich L5/S1,
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Knochenödem oder Einblutungen als Anzeichen für frische Bandscheibenzerreißungen,
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Traumatisierung oder Ödematisierung des Rückenmarks oder seiner Umgebung, oder
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äußere Verletzungszeichen wie Hämatome, Prellmarken, Hautläsionen oder Schürfungen, die auch bei vollständig bekleideten Personen auftreten könnten.
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Beim Kläger seien jedoch keinerlei Veränderungen dieser Art dokumentiert worden, insbesondere nicht in den Befunden zu den MRT-Untersuchungen und nicht im Operationsbericht (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 16 f. und 27, Bl. 61R f. bzw. 67 d.A.; Ergänzungsgutachten vom 12.02.2021, Seite 19, Bl. 96 d.A.; Ergänzungsgutachten vom 21.06.2021, Seite 2 f., 4 und 7 ff., Bl. 119R f., 120R bzw. 122 ff. d.A.; Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 2 ff., Bl. 157 ff. d.A.). Der Sequester als solcher komme dabei nicht als eine solche frische Begleitverletzung in Betracht (Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 3, Bl. 158 d.A.). Dessen Ausdehnung, die mehrfache Sequestrierung in den Spinalkanal hinein und das Vorhandensein von spondylophytären (knöchernen) Abstützreaktionen belegten vielmehr eine lange Entstehungsgeschichte der Veränderung an der Bandscheibe L5/S1 über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 15, Bl. 61 d.A.; Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 3, Bl. 158 d.A.).
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cc) Zu biomechanischen Gesichtspunkten und der Pathomechanik einer akuten Bandscheibenverletzung hat die Sachverständige zudem überzeugend ausgeführt, dass nach dem aktuellen Stand der Literatur (vgl. Ergänzungsgutachten vom 12.02.2021, Seite 21 f., Bl. 97 f. d.A.; Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 3, Bl. 158 d.A.) reine Kompressionskräfte - wie sie etwa beim vom Kläger geschilderten Aufprall mit dem Gesäß auf einer Treppenstufe auf die Wirbelsäule wirken können - nicht geeignet seien, Bandscheibenvorfälle zu verursachen. Hierzu treten müssten vielmehr erhebliche Scherkräfte, die dann aber auch keine isolierten Bandscheibenvorfälle, sondern zudem die oben (unter bb) beschriebenen strukturellen Begleitverletzungen verursachen würden (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 24, Bl. 65R).
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dd) Dieses Ergebnis deckt sich damit, dass weder im Notarztprotokoll noch in der ärztlichen. Dokumentation des stationären Aufenthalts und der Operation nach dem 16.01.2017 irgendein Zusammenhang zwischen der Bandscheibenverletzung und dem streitgegenständlichen Sturzereignis hergestellt wird, obwohl dies zumindest hinsichtlich des Operationsbericht zu erwarten gewesen wäre (vgl. Ergänzungsgutachten vom 12.02.2021, Seite 14 ff., Bl. 93R d.A.; Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 3, Bl. 158 d.A.). Etwas anderes ergibt sich im Ergebnis auch nicht aus dem ärztlichen Bericht der Praxis Dr. … der in seiner ursprünglichen Fassung (Anlage B5) hinsichtlich eines Zusammenhangs zwischen einem Unfallereignis und der vorhandenen Veränderungen an den Bandscheiben offensichtlich widersprüchlich ist (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 27, Bl. 67), der in der als Anlage K9 vorgelegten Fassung offenbar vom Kläger einseitig vorgenommene Ergänzungen enthält und hinsichtlich dessen ein ärztlichen Vertreter der Praxis Dr. … nachträglich klargestellt hat (Anlagen B7 und B8), dass sämtliche Veränderungen an den Bandscheiben und daraus resultierende Beschwerden ausschließlich verschleißbedingt seien.
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ee) Das Gericht schließt sich daher der Einschätzung der Sachverständigen (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 19 und 24, Bl. 63 bzw. 65R d.A.) an, wonach eine unfallbedingte Verursachung des Bandscheibenvorfalls L5/S1 oder der operativ entfernten Sequester mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen, jedenfalls als nicht nachgewiesen anzusehen ist.
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ff) Irrelevant ist dabei nach der zutreffenden Einschätzung der Sachverständigen, ob der Zustand der Wirbelsäule und der Bandscheiben des Klägers dabei als „altersentsprechend“ anzusehen ist oder nicht (vgl. Ergänzungsgutachten vom 12.02.2021, Seite 7, Bl. 90 d.A.). Maßgeblich ist allein, ob der nach dem streitgegenständlichen Ereignis dokumentierte Zustand traumatisch verursacht oder auf unfallunabhängige, insbesondere degenerative Ursachen zurückzuführen ist.
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b) Soweit danach noch die Möglichkeit bleibt, dass durch das streitgegenständliche Sturzereignis zuvor asymptonatische Veränderungen an der Wirbelsäule und den Bandscheiben des Klägers aktiviert worden und damit erstmalig symptomatisch geworden sind, wäre das Sturzereignis gegenüber den vorbestehenden degenerativen Veränderungen jedenfalls nicht die überwiegende Ursache und eine hierauf gestützte Invalidität nach Ziffer 5.2.1 AVB unbeachtlich.
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aa) Die Sachverständige hat insofern ausgeführt, dass die beim Kläger vorbestehenden degenerativen Veränderungen bei jeder banalen Gelegenheit mit oder ohne äußere Einwirkung i.S. einer Lumboischialgie hätten symptomatisch werden können (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 28 f., Bl. 67R f. d.A.). Danach muss zwar von der Möglichkeit ausgegangen werden, dass das streitgegenständliche Sturzereignis die zuvor stummen, asymptomatischen Veränderungen an der Bandscheibe des Klägers aktiviert und Symptome in Form einer Lumboischialgie und Lähmungserscheinungen im linken Bein ausgelöst haben kann. Als nachgewiesen kann dies jedoch nicht angesehen werden, da eben gerade jedes andere banale Ereignis in gleicher Weise als Auslöser hierfür in Betracht kommt (vgl. Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 4 f., Bl. 159 f. d.A.). Insofern bleibt insbesondere die nicht nur theoretische Möglichkeit, dass die Beschwerden als schicksalhafte Komplikation der durchgeführten - und auch ohne den streitgegenständlichen Sturz indizierten - Operation eingetreten sind (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 29, Bl. 68 d.A.).
29
bb) Dies kann jedoch dahinstehen, weil auch im Falle einer Auslösung der Symptome durch das Sturzereignis dieses zwar als mitursächlich für die Beschwerden anzusehen wäre, jedoch von seiner Bedeutung gegenüber den erheblichen degenerativen Veränderungen in den Hintergrund treten würde. Es wäre jedenfalls nicht zu mehr als 50 % für den Eintritt der Symptome verantwortlich, mithin nicht als überwiegende Ursache der Beschwerden anzusehen. Die aus den Bandscheibenschäden resultierenden Beeinträchtigungen wäre daher nach Ziffer 5.2.1 AVB bei der Ermittlung einer unfallbedingten Invalidität nicht zu berücksichtigen.
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Auch insoweit kommt wieder zum Tragen, dass durch das streitgegenständlich Sturzereignis keinerlei dokumentierte Begleitverletzungen dokumentiert sind und es deshalb zwar möglich ist, dass durch einen solchen Sturz noch die letzte erforderliche, wenn auch nur sehr geringfügige Verschiebung eines Sequesters in den Spinalkanal hinein bewirkt wurde (vgl. Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 4, Bl. 159 d.A.), die wesentlich umfangreicheren strukturellen Veränderungen aber als vorbestehend anzusehen und degenerativen Ursachen zuzuordnen sind (vgl. Ergänzungsgutachten vom 12.02.2001, Seite 2 f., Bl. 87 f. d.A.). Das Gericht schließt sich insofern aufgrund eigener Würdigung der Einschätzung der Sachverständigen an, wonach der Verursachungsanteil der degenerativen Veränderungen mit mindestens 80 % anzusetzen wäre (vgl. Ergänzungsgutachten vom 12.02.2021, Seite 12, Bl. 93 d.A.; Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 5, Bl. 160 d.A.).
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c) Aus der behaupteten Schwellung des Sprunggelenks ist dem Kläger jedenfalls kein Dauerschaden entstanden und damit auch keine Invalidität eingetreten (vgl. Gutachten vom 16.10.2020, Seite 30 ff., Bl. 68R ff. d.A.; Ergänzungsgutachten vom 21.06.2021, Seite 5, Bl. 121 d.A.). Als aussagekräftige frische strukturelle Begleitverletzung (vgl. oben unter a bb) ist eine solche Schwellung offensichtlich nicht anzusehen, da diese allenfalls ein Indiz für einen Sturz, nicht jedoch für eine frische Bandscheibenverletzung darstellen kann.
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2. Die Erhebung weiterer Beweise, insbesondere die Einholung von Zusatzgutachten aus dem Bereich der Radiologie oder der Biomechanik, ist nicht veranlasst. Die Sachverständige hat insofern überzeugend dargestellt, dass hierdurch keine weiteren relevanten Anknüpfungstatsachen gewonnen werden können (vgl. Niederschrift vom 01.10.2021, Seite 5, Bl. 160 d.A.).
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Dem schließt sich das Gericht nach eigener Würdigung vollumfänglich an. Zu den MRT-Aufnahmen liegen radiologische Befunde vor, deren Richtigkeit weder die Sachverständige noch die Parteien in Frage gestellt haben. Die biomechanischen Grundlagen der Pathomechanik der Wirbelsäulenverletzungen sind in der Fachliteratur, auf die die Sachverständige zurückgegriffen hat, geklärt. Im Übrigen könnte ein biomechanisches Gutachten allenfalls die Kräfte quantifizieren, die auf den Körper des Klägers gewirkt haben können, jedoch keine besseren Aussagen zu medizinischen Kausalzusammenhängen, insbesondere zur Verursachung oder Aktivierung der Wirbelsäulenschäden treffen.
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3. Es kann daher dahinstehen, ob die vom Kläger behaupteten und von der Beklagten bestrittenen Beeinträchtigungen tatsächlich vorliegen. Auch kommt es nicht darauf an, ob - worauf sich die Beklagte zwar nicht beruft, was aber als Anspruchsvoraussetzung grundsätzlich von Amts wegen zu prüfen wäre - eine Invalidität des Klägers rechtzeitig durch einen Arzt festgestellt worden ist.
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II. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt § 709 Satz 1, Satz 2 ZPO.