Inhalt

LG München I, Endurteil v. 17.05.2021 – 31 O 521/21
Titel:

Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit dem Motor EA 288 (hier: Audi A4 Avant)

Normenketten:
BGB § 31, § 826
VO (EG) 715/2007 Art. 3 Nr. 10, Art. 5 Abs. 2 S. 1, S. 2, Art. 13 Abs. 1 S. 1, S. 2, Abs. 2 lit. d
ZPO § 138 Abs. 3
Leitsätze:
1. Zu – jeweils verneinten – (Schadensersatz-)Ansprüchen von Käufern eines Fahrzeugs, in das ein Diesel-Motor des Typs EA 288 eingebaut ist, vgl. auch OLG Koblenz BeckRS 2020, 6348; OLG Brandenburg BeckRS 2020, 10519; BeckRS 2020, 41726; OLG München BeckRS 2020, 1062; BeckRS 2020, 49213; BeckRS 2020, 51829; OLG Frankfurt BeckRS 2020, 2626; BeckRS 2020, 46880; OLG Zweibrücken BeckRS 2020, 47034; OLG Köln BeckRS 2019, 50034; OLG Bamberg BeckRS 2020, 51271; BeckRS 2021, 19821; BeckRS 2021, 18115; BeckRS 2021, 18113; BeckRS 2021, 28926; OLG Stuttgart BeckRS 2021, 3447; BeckRS 2020, 51258; OLG Dresden BeckRS 2020, 51343; OLG Celle BeckRS 2020, 44504; OLG Schleswig BeckRS 2020, 43698; BeckRS 2020, 44782; LG Saarbrücken BeckRS 2021, 8349; LG Düsseldorf BeckRS 2020, 37645; wie hier aA: OLG Celle BeckRS 2020, 19389; OLG Naumburg BeckRS 2021, 880; OLG Köln BeckRS 2021, 2388; LG München I BeckRS 2020, 19602; BeckRS 2020, 28259; LG Offenburg BeckRS 2021, 187; LG Aachen BeckRS 2021, 3360; BeckRS 2021, 10842; LG Traunstein BeckRS 2021, 18986; LG Dortmund BeckRS 2021, 7892; LG Darmstadt BeckRS 2020, 39387; LG Karlsruhe BeckRS 2020, 42138. (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Käufer eines Fahrzeugs, in welchem ein Motor EA 288 verbaut ist, kommt seiner Darlegungslast hinsichtlich einer unzulässigen Abschalteinrichtung nach, wenn er eine interne Entscheidungsvorlage der Herstellerin vorlegt, in der beim Motor des Typs EA 288 von der „Platzierung von Abgasnachbehandlungsevents“ die Rede ist und die „Fortsetzung der bisherigen Bedatungsstrategien“ als zulässig bezeichnet wird, wenn der Projektterminplan gefährdet würde, ohne dass erkennbar ist, wie sichergestellt worden ist, dass diese Fahrzeuge nicht zu den Kunden gelangt sind. (Rn. 68) (redaktioneller Leitsatz)
3. Angesichts der zunehmenden Dringlichkeit der Sicherstellung eines hohen Umweltschutzniveaus und der Eigenschaft der Bundesrepublik Deutschland als führender Standort von Automobilkonzernen, die eine Vorbildfunktion begründet, ist es als sittenwidrig zu bewerten, durch technische Maßnahmen die permanente Einhaltung der hohen Anforderungen an das Emissionsverhalten zu beeinträchtigen. (Rn. 83) (redaktioneller Leitsatz)
4. Die Annahme der Sittenwidrigkeit von einem Täuschungsverhalten gegenüber dem Kraftfahrtbundesamt abhängig zu machen, verengt den Anwendungsbereich des § 826 BGB im Hinblick auf die insoweit - aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts maßgeblich - zu berücksichtigenden Ziele der VO (EG) 715/2007. (Rn. 84) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Diesel-Abgasskandal, EA 288, unzulässige Abschalteinrichtung, sittenwidriges Verhalten, Täuschung des KBA, Darlegungslast, Bedatungsstrategie, Applikationsrichtlinien, Vorbildfunktion, Vortrag „ins Blaue hinein“
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Endurteil vom 05.07.2022 – 5 U 3398/21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 42025

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 8.229,65 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 17.02.2021 Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs Audi A4 Avant, FIN …09.
2. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Entgegennahme des in Ziffer 1 genannten Fahrzeugs in Annahmeverzug befindet.
3. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger von vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 881,97 Euro freizustellen.
4. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
5. Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger zu 12%, die Beklagte zu 88%.
6. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 9.325,25 € festgesetzt.

Tatbestand

1
Der Kläger klagt gegen die Beklagte wegen des im streitgegenständlichen Fahrzeug verbauten Motors des Typs EA 288.
2
Der Kläger erwarb am 10.03.2018 das streitgegenständliche Fahrzeug Audi A4 Avant, Baujahr 2015, Motorart EA 288, Abgasnorm Euro 6, FIN …09, Tachostand bei Übergabe 98.000 km, zu einem Kaufpreis von 16.100,00 Euro brutto (Anlage K1). Mit Schreiben vom 23.12.2020 (Anlage K4) forderten die Prozessbevollmächtigten des Klägers die Beklagte unter Fristsetzung bis zum 06.01.2021 zur Zahlung von Schadensersatz Zugum-Zug gegen Übergabe des Fahrzeugs auf. Seitens der Beklagten erfolgte keine Stellungnahme. Zum Zeitpunkt des Termins der mündlichen Verhandlung betrug der Zählerstand 196.746 km.
3
In dem auf den 18.11.2015 datierten Dokument „Entscheidungsvorlage: Applikationsrichtlinien & Freigabevorgaben EA288“ (Anlage K) heißt es auf S. 4 auszugsweise wie folgt:
„NSK: Bedatung, Aktivierung und Nutzung der Fahrkurven zur Erkennung des Precon und des NEFZ, um die Abgasnachbehandlungsevents (DeNOx-(DeSOx-Events) nur streckengesteuert zu platzieren. Im normalen Fahrbetrieb strecken- und beladungsgesteuerte Platzierung der Events: Beladungssteuerung als führende Größe“
„SOP vor 22/16 (für SOP, Modellpflege und KD-Master): Die o.g. Umschaltungen anhand der Fahrkurven bleiben bestehen unter Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben für Roh- und Endrohremissionen.“
„SOP ab 22/16 (für SOP, Modellpflege): Bei neuen Freigaben sind die Fahrkurven aus der Software entfernt. Umschaltungen oder die Platzierung von Abgasnachbehandlungsevents muss auf Basis physikalischer Randbedingungen unter Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben für Roh- und Endrohremissionen erfolgen“
4
Auf S. 5 heißt es auszugsweise wie folgt:
„SCR: Bedatung, Aktivierung und Nutzung der Fahrkurven zur Erkennung des Precon und NEFZ, um die Umschaltung der Rohemissionsbedatung (AGR-High/Low) streckengesteuert auszulösen (bei Erreichung SCR-Arbeitstemperatur und OBD-Schwellenwerte)“
„SOP vor KW 22/16 (für SOP, Modellpflege): Fahrkurven dürfen nicht zur Einhaltung der Emissions- und OBD-Grenzwerte genutzt werden. Diese müssen durch Ausbedatung oder SoftwareÄnderung entfernt werden. Möglicherweise notwendige Umschaltungen zur Einhaltung der Emissions- und OBD-Grenzwerte müssen auf Basis physikalischer Randbedingungen erfolgen.“
„SOP ab KW 22/16 (für SOP, Modellpflege): Bei neuen Freigaben sind die Fahrkurven aus der Software entfernt. Umschaltungen oder die Platzierung von Abgasnachbehandlungsevents muss auf Basis physikalischer Randbedingungen unter Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben für Roh- und Endrohremissionen erfolgen“
„Alle KD-Master: Immer Einzelfallentscheidung durch EAD/EAE-Leitung notwendig.
Grundsätzliche Richtlinie: Bei Fehler-Abstellmaßnahmen ohne Einfluß auf Emissionen und OBD, Fortsetzung der ursprünglichen Bedatungs-/Software-Strategie. Bei emissions- oder OBDrelevanten Änderungen sind die Fahrkurven aus der Software zu entfernen.“
„Bei laufenden Entwicklungsprojekten Fortsetzung der bisherigen Bedatungsstrategien zulässig, wenn durch Wechsel auf obige Vorgaben der Projektterminplan gefährdet würde. Es ist sicherzustellen (…), dass Fahrzeuge nicht vor Kunde gelangen können.“
5
Im Dokument „Statusbericht Diesel KBA-Termin (Technik) 21.10.2015, Wolfsburg“ heißt es auf S. 7 auszugsweise wie folgt:
„Es gilt grundsätzlich (EA189/EA288) die Zusage, dass bei Modellpflegen oder Programmpunkten, bei denen künftig das MSG angefasst wird, die Funktion auch ausgebaut wird. Reines „Ausbedaten“ der Funktion vom KBA bestätigt!“
6
Mit Schreiben vom 29.12.2015 (Anlage B5) teilte die Beklagte gegenüber dem KBA auszugsweise folgendes mit:
„Die vorstehend beschriebene Applikation mit der sogenannten Akustikfunktion inklusive Fahrkurve ist in allen Steuergeräten der Firmen Delphi, Continental und Bosch seit Einführung der CR-Technologie ab 2007 in den Volkswagen Dieselaggregaten der Baureihen EA189 und EA288 enthalten, wobei sie - wie bereits mehrfach dargelegt und nachgewiesen - in der Aggregatebaureihe EA288 keinen Einfluss auf die Emissionen des Aggregates hat. Gemäß der als Anlage 2 beigefügten Übersicht über die Applikationsrandbedingungen des Aggregates EA288 wurde die sogenannte Akustikfunktion aus allen neuen mit SCR-Technologie ausgestatteten Aggregateprojekten seit November 2015 entfernt und wird ab dem Modelljahreswechsel in KW 22/2016 auch aus allen neuen mit NOx-Speicherkat-Technologie ausgestatteten Aggregateprojekten entfernt.“
7
Im Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“ mit Stand April 2016 (Anlage B5) heißt es auf S. 12 auszugsweise wie folgt:
„Hinweise, die aktuell laufende Produktion der Fahrzeuge mit Motoren der Baureihe EA 288 (Euro 6) seien ebenfalls von Abgasmanipulationen betroffen, haben sich hierbei auf Grundlage der Überprüfungen als unbegründet erwiesen.“ (Hervorhebung durch den Einzelrichter)
8
Auf S. 20 heißt es auszugsweise wie folgt:
„Dieses Fahrzeug ist mit dem Motor EA 288, dem Nachfolger des EA 189, ausgestattet und erfüllt die Euro 6-Anforderungen. Der VW-Konzern hatte hierzu die Erklärung abgegeben, dass diese Fahrzeuge nicht mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet wären. Diese Herstelleraussage wurde mit höchster Priorität durch die KBA-Felduntersuchung verifiziert, da diese Fahrzeuge der aktuellen Produktion entsprechen. In allen NEFZ-Tests liegt das Fahrzeug unterhalb der gesetzlichen NOx-Grenzwerte. Das Fahrzeug erfüllt bereits jetzt die Bedingung der zukünftigen RDE-Gesetzgebung.“
9
Auf S. 22 heißt es auszugsweise wie folgt:
„Bei diesem Fahrzeug gelten grundsätzlich dieselben Feststellungen, wie bei allen VWKonzernfahrzeugen mit dem Motor EA 288 mit der Emissionsstufe Euro 6. In allen NEFZ- 31 O 521/21 - Seite 4 - Tests.liegt das Fahrzeug unterhalb der gesetzlichen NOx-Grenzwerte. Die RDE-Messung zeigt einen NOx-Wert in Höhe des 3-fachen Grenzwertes.“
10
Auf S. 60 heißt es auszugsweise wie folgt:
„Dieses Fahrzeuge sind mit dem Motor EA 288, dem Nachfolger des EA 189, ausgestattet und erfüllen die Euro 6-Anforderungen. Der VW-Konzern hatte hierzu die Erklärung abgegeben, dass diese Fahrzeuge nicht mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung ausgestattet wären. Diese Herstelleraussage war mit höchster Priorität durch die KBA-Felduntersuchung zu verifizieren, da diese Fahrzeuge der aktuellen Produktion entsprechen. Die VW-Konzernfahrzeuge erfüllen bis auf die Fahrzeuge mit NSK (VW Golf VII 2.0 l) bereits jetzt die Bedingungen der zukünftigen RDEGesetzgebung. In allen NEFZ-Tests liegen die Fahrzeuge unterhalb der NOx-Grenzwerte bzw. bei den NSK-Varianten im Bereich 2-3-facher NOx-Erhöhung bei den PEMS-Straßenfahrten.“
11
Auf S. 15-17 wird beschrieben, welches Programm nach dem Lastenheft zur Überprüfung von Diesel-Kraftfahrzeugen zu absolvieren war.
12
In der Rubrik Ergebnisse auf S. 18 heißt es auszugsweise wie folgt:
„Bei Durchführung der Prüfung Typ 1 unter Verzicht auf die gesetzlich vorgesehene mindestens sechsstündige Vorkonditionierung (NEFZ warm) zeigten sich bei einigen Fahrzeugen erhöhte NOx-Emissionen. Bei den Straßenmessungen wurden zum Teil gegenüber dem Grenzwert deutlich höhere NOx-Werte festgestellt. Grundsätzlich lagen die Ergebnisse der PEMSStraßenmessungen durch den Einfluss höherer Lasten (Fahrwiderstand, Masse durch zwei Personen Testbesatzung, PEMS-Anlage, Testgerät und Masse der optionalen Zusatzausstattung) oberhalb der Messergebnisse auf dem Rollenprüfstand. Dies allein zeigt jedoch noch keine gesetzliche Nichtkonformität, da der NOx-Grenzwert nur für die gesetzliche Prüfung Typ 1 inklusive aller Randbedingungen gilt. Es wirft aber die Frage auf, ob bei diesen Fahrzeugen bei normalem Fahrzeugbetrieb gegenüber dem gesetzlichen Prüfstandslauf die Abgasreinigung unzulässigerweise verändert wird. Es wird darauf hingewiesen, dass wegen der jahreszeitbedingten häufigen Wetteränderungen und Temperaturschwankungen der alleinige Vergleich der ermittelten NOx-Werte der Fahrzeuge untereinander bei den NEFZStraßenprüfungen und den RDE-Fahrten nur bedingt aussagefähig ist. (…) Anschließend wurden die Fahrzeuge wiederum in drei Bewertungsgruppen eingeteilt: Der Gruppe I wurden alle Fahrzeuge zugeordnet, die ein unauffälliges Verhalten zeigten oder bei denen die Hersteller gewisse Auffälligkeiten in der Höhe der NOx-Werte technisch plausibel und akzeptabel darstellen konnten. Fahrzeuge mit auffällig hohen NOx-Werten, die technisch nicht ausreichend erklärbar schienen, wurden in Gruppe II eingegliedert. Fahrzeuge des VW-Konzerns mit bereits festgestellten unzulässigen Abschalteinrichtungen bei Dieselmotoren der Generation EA 189 bilden die Gruppe III. Es zeigte sich eine große Bandbreite bezüglich der in den Labor- und Straßenmessungen festgestellten NOx-Emissionswerte. Die Untersuchungen im Feld lassen nach derzeitigem Stand keine weiteren Abschalteinrichtungen erkennen, die auf einer Testzykluserkennung basieren. Aus diesem Grund wurden vom KBA, von der Untersuchungskommission, und in erforderlichen Fällen, vom KBA gemeinsam mit dem wissenschaftlichen Gutachter Gespräche mit den betroffenen Herstellern mit dem Ziel geführt, zu klären, ob es sich um Abschalteinrichtungen aus Gründen des Motorschutzes handelt.“ (Hervorhebung durch den Einzelrichter)
13
In der Rubrik Bewertung auf S. 19 heißt es auszugsweise wie folgt:
„Bei den Fahrzeugen des VW-Konzerns mit Euro 5-Konzepten (Motoren EA 189) konnte die unzulässige Abschalteinrichtung in ihrer Wirkung durch die Messungen nachvollzogen werden. Die unzulässige Abschalteinrichtung bewirkt, dass die gesetzliche Prüfung auf dem Prüfstand erkannt und in einem Emissionsminderungsmodus betrieben wird, in dem die NOx-Emissionen stärker reduziert werden. Auf der Straße wird unter vergleichbaren Bedingungen in einen anderen Modus geschaltet, die NOx-Emissionen erhöhen sich. (…) Es konnte bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Berichtes bei keinem weiteren Fahrzeug eine unzulässige Abschalteinrichtung wie bei bestimmten Fahrzeugen des VW-Konzerns nachgewiesen werden. (…) Mit den Herstellern der untersuchten Fahrzeuge mit kritischen Emissionsminderungskonzepten (Gruppe II) wurden bereits intensive Gespräche geführt, um weitere Erkenntnisse hinsichtlich der Erhöhungen zu erlangen. Mehrere Hersteller konnten ungeachtet der Zulässigkeit von Abschalteinrichtungen dazu veranlasst werden, freiwillig technische Verbesserungen auch an in Betrieb befindlichen Fahrzeugen vorzunehmen. Das KBA wird diese verbesserten Emissionsminderungskonzepte vor Umsetzung auf ihre Wirksamkeit hin überprüfen. (…) Das KBA wird die jeweils zuständigen europäischen Genehmigungsbehörden über alle Ergebnisse und insbesondere über die ermittelten Auffälligkeiten (Fahrzeuge der Gruppe II) informieren und um eine weitere Bewertung bitten.“ (Hervorhebung durch den Einzelrichter)
14
Am 12.09.2019 teilte das Bundesministerium für Verkehr und Infrastruktur (BMVI) über Twitter folgendes mit (Anlage B2):
„Zur Einordnung der aktuellen Meldungen zu den #VW-Modellen mit dem Motor EA 288: Die Vorwürfe sind nicht neu. Das #KBA hat bereits 2016 eigene Messungen, Untersuchungen & Analysen durchgeführt. Unzulässige #Abschalteinrichtungen konnten dabei NICHT festgestellt werden.“
„und zwar auch nicht in Gestalt einer unzulässigen Zykluserkennung. Im Übrigen geht das KBA jeden Hinweisen nach und prüft fortlaufend im Rahmen der Marktüberwachung Fahrzeuge.“
15
Mit Schreiben vom 12.10.2020 (Anlage B) teilte das KBA gegenüber dem LG Freiburg i.B. mit, dass das dort streitgegenständliche Fahrzeug an einem freiwilligen Software-Update teilnehme und freiwillige Maßnahmen der Hersteller der Luftverbesserung dienten und einen Beitrag zur Reduktion der NOx-Emissionen lieferten.
16
Mit Schreiben vom 13.11.2020 (Anlage B) teilte das KBA gegenüber dem OLG Stuttgart unter anderem mit, die Funktion „Umschaltlogik“ in der Motorsteuerung der Aggregate EA 288 werde seitens des KBA nicht als unzulässige Abschalteinrichtung beurteilt; der bloße Verbau einer Fahrkurvenerkennung sei nicht unzulässig, solange die Funktion nicht als Abschalteinrichtung gemäß Art. 3 Abs. 10 der VO (EG) 715/2007 genutzt werde. Dies sei nicht der Fall, da Prüfungen im KBA zeigten, dass die Grenzwerte in den Prüfverfahren zur Untersuchung der Auspuffemissionen auch bei Deaktivierung der Funktion nicht überschritten würden. Außerdem sei „weder bei dem zuvor genannten Fahrzeug noch bei einem anderen Fahrzeug, welches ein Aggregat des EA 288 aufweist und das KBA untersucht wurde, eine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt“ worden und „daher weder Nebenbestimmungen angeordnet“ wurden „noch ein behördlich angeordneter Rückruf aufgrund als unzulässige eingestufter Abschalteinrichtungen“ besteht.
17
Mit Schreiben vom 14.12.2020 (Anlage B) teilte das KBA gegenüber dem OLG Celle unter anderem mit, dass unter dem Begriff Thermofenster eine außenlufttemperaturgeführte Korrektur der AGR-Rate des Motorengrundkennfeldes verstanden werde, eine Reduzierung dieser Rate in der Regel zu erhöhten NOx-Emissionen bei zu niedrigen oder hohen Außentemperaturen führe und die Korrektur aus Gründen des Motorschutzes gerechtfertigt sein könne.
18
Mit Schreiben vom 15.12.2020 (Anlage B) teilte das KBA gegenüber dem LG Bayreuth unter anderem mit, „bei keinem Fahrzeug, welches ein Aggregat des EA 288 aufweist und das KBA untersucht wurde, eine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt“ wurde und „daher weder Nebenbestimmungen angeordnet“ wurden „noch ein behördlich angeordneter Rückruf aufgrund als unzulässige eingestufter Abschalteinrichtungen“ besteht.
19
Mit Schreiben vom 25.01.2021 (Anlage B) teilte das KBA gegenüber dem OLG München unter anderem mit, das dort streitgegenständliche Fahrzeug nehme an einem freiwilligen Rückruf teil, wodurch ein verbesserter Datensatz aufgespielt werde, mit dem u.a. die Umschaltung der Betriebsmodi nach Fahrkurve entfernt und eine damit im Zusammenhang stehende Funktionalität des On-Board-Diagnosesystems angepasst werde.
20
Mit Schreiben vom 01.02.2021 (Anlage B) teilte das KBA gegenüber dem LG Berlin mit, dass bei keinem Fahrzeug, welches ein Aggregat des EA 288 aufweist, eine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt worden sei und es seien daher weder Nebenbestimmungen angeordnet worden noch bestehe ein behördlich angeordneter Rückruf.
21
Mit Schreiben vom 11.02.2021 (Anlage B) teilte das KBA gegenüber dem OLG Oldenburg unter anderem mit, dass eine „sogenannte Fahrkurvenerkennung […] in ursprünglich ausgelieferten Datenständen der Motorsteuerung an den betroffenen Fahrzeugen enthalten“ sei, diese […] jedoch nicht als unzulässige Abschalteinrichtung bewertet“ worden sei. Diese funktioniere „auf dem Prüfstand und im Straßenbetrieb gleichermaßen“ und habe „keinen wesentlichen Einfluss“ auf die Schadstoffemissionen“. Eine „unzulässige Abschalteinrichtung hinsichtlich der Abgasnachbehandlung mit SCR-Katalysator (Dosiermengen Reagens) [sei] nicht festgestellt“ worden. Mit „Bezug auf die temperaturgeführte AGR-Regelung [sei beim dort betroffenen Fahrzeug] keine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt“ worden.
22
Mit Schreiben vom 18.02.2021 (Anlage B) antwortete das KBA auf ein Schreiben der Kanzlei PSWP vom 15.02.2021 (Anlage B). Auf den Inhalt wird Bezug genommen.
23
Mit Schreiben vom 23.02.2021 (Anlage B) teilte das KBA gegenüber dem OLG München unter anderem mit, es hätten Untersuchungen an technisch vergleichbaren Fahrzeugen stattgefunden. Bei keinem Fahrzeug, welches ein Aggregat des EA 288 aufweist, sei eine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt worden und es seien daher weder Nebenbestimmungen angeordnet worden noch bestehe ein behördlich angeordneter Rückruf.
24
Mit Schreiben vom 08.03.2021 (Anlage B41) teilte das KBA gegenüber dem LG Aschaffenburg unter anderem mit, bei keinem Fahrzeug, welches ein Aggregat des EA 288 aufweist sei eine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt worden und „daher weder Nebenbestimmungen angeordnet“ wurden „noch ein behördlich angeordneter Rückruf aufgrund als unzulässige eingestufter Abschalteinrichtungen“ besteht.
25
Mit Schreiben vom 15.04.2021 teilte das KBA auf Anfrage des Gerichts im Parallelverfahren (31 O 3080/21, Bl. 111 der dortigen Akte) - was den Parteivertretern aufgrund Kanzleiidentität bekannt ist - unter anderem mit, dass das KBA insgesamt sehr umfassende Untersuchungen an Fahrzeugen mit Motoren der Reihe des Entwicklungsauftrags (EA) 288 durchgeführt habe und bei keinem Fahrzeug, welches ein Aggregat des EA 288 aufweist, eine unzulässige Abschalteinrichtung festgestellt worden ist, das dort streitgegenständliche Fahrzeug daher keine unzulässige Abschalteinrichtung oder Konformitätsabweichung hinsichtlich des Emissionsverhaltens aufweist und weder Nebenbestimmungen zu diesem Fahrzeug angeordnet wurden, noch ein behördlich angeordneter Rückruf besteht.
26
Der Kläger trägt vor, das Fahrzeug sei mit einem SCR-Katalysator (sog. „AdBlue-Technologie“) ausgestattet. Im Motor sei eine Abschalteinrichtung verbaut, die im Sinne von Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) 715/2007 die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringert. Im Motor sei eine Software verbaut, welche anhand diverser Parameter wie Temperatur und Zeit erkennt, ob sich das Fahrzeug auf dem Prüfstand zum Durchfahren des NEFZ befindet. Dies werde dadurch erreicht, dass das Fahrzeug nach dem Start automatisch in einen Testmodus geht. Während der ersten Betriebsminuten prüfe die Abschalteinrichtung die Beschleunigung und das Drehzahlprofil des Kfz im Vergleich zu den definierten Profilen der staatlich festgelegten Testzyklen. Sobald ein Testzyklus erkannt wird, werde die Abgasrückführung in einer anderen Weise geregelt als im normalen Straßenverkehr, um so auf dem Prüfstand die gesetzlich geforderten Stickoxidemissionen einzuhalten, während sich das Fahrzeug im normalen Straßenverkehr durchgängig in einem anderen Modus mit höheren Stickoxidemissionen befände (Bl. 4 d.A.).
27
Der Kläger trägt vor, die Software wirke darüber hinaus auf das Getriebe des Fahrzeugs ein. Sobald das Lenkrad um mehr als 15 Grad gedreht wird, werde auf die Schaltpunkte des Getriebes Einfluss genommen. Die Schaltpunkte des Getriebes seien bei einem kalten Motor ohne Lenkradwinkeleinschlag höher als nach einem Lenkradwinkeleinschlag. Dadurch würden auf dem Prüfstand geringere Werte an Kohlenstoffdioxid und Stickstoffoxid gemessen, als im normalen Straßenverkehr (Bl. 4 d.A.).
28
Der Kläger trägt vor, die Abschalteinrichtung greife im Realbetrieb im Gegensatz zum Testzyklus auf drei Arten in die Motorsteuerung ein. Erstens werde eine Reduktion der Abgasrückführungsrate bis hin zur Abschaltung der Abgasrückführung durch eine temperaturgesteuerte Abschaltvorrichtung (“Thermofenster“) erreicht. Zweitens sei der Motor des streitgegenständlichen Fahrzeugs mit einem SCR-Katalysator ausgestattet, dessen Wirksamkeit und damit die Reduzierung von Stickstoffoxid von der Menge der zugeführten Harnstofflösung (“AdBlue“) abhänge, welche ebenfalls durch das Thermofenster beeinflusst, d.h. reduziert oder ganz ausgesetzt werde, was zu einem erheblichen Anstieg der Stickoxidemissionen führe; auf dem Prüfstand werde ausreichend AdBlue eingespritzt, im normalen Straßenbetrieb dagegen deutlich weniger. Drittens schalte die Software ab einer bestimmten Drehzahl die Abgasreinigung sowie den SCR-Katalysator ab bzw. reduziere dessen Leistung, so dass es zu einem unzulässigen Anstieg der Stickoxidemissionen komme (Bl. 4-5 d.A.). Der Kläger bezieht sich insoweit insbesondere auf die Entscheidungsvorlage (Anlage K) (Bl. 90-91 d.A.).
29
Der Kläger trägt vor, ohne die Abschalteinrichtung könne der Grenzwert für die Schadstoffklasse des Kfz nicht eingehalten werden, weshalb das streitgegenständliche Fahrzeug nicht die Schadstoffnorm erfülle, für die es die Typenzulassung hat (Bl. 5 d.A.). Die Abschalteinrichtung arbeite fortlaufend außerhalb des Thermofensters (Bl. 12 d.A.). Eine volle Abgasreinigung erfolge lediglich im Temperaturfenster zwischen 15 und 33 Grad Celsius (Bl. 11 d.A.).
30
Der Kläger trägt vor, die Vorstände der Beklagten hätten vom Einbau der Abschalteinrichtung in das streitgegenständliche Fahrzeug gewusst. Der Einbau habe nicht von wenigen Mitarbeitern im Alleingang vorgenommen worden sein können; vielmehr seien mehrere Abteilungen involviert gewesen. Das Problem der Abgasnachbehandlung habe in einer Abteilung erkannt werden müssen; dies und die Programmierung der Software könne nicht am Vorstand vorbei geschehen sein (Bl. 5-6 d.A.). Die Beklagte habe das Fahrzeug vorsätzlich unter Verschweigen der Abschalteinrichtung in Verkehr gebracht (Bl. 15 d.A.). Ein Beleg für den Vorsatz der Beklagten sei unter anderem, dass die AdBlue-Einspritzung im realen Fahrbetrieb von vornherein bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug zu gering dosiert war und ist, um eine reguläre, hinreichende und gesetzeskonforme Abgasreinigung zu gewährleisten. Die eigenen Angaben der Beklagten zum notwendigen Verbrauch im Verhältnis zum tatsächlichen Fassungsvermögen des verbauten AdBlue-Tanks zeigten, dass sich die Beklagte dessen bewusst war (Bl. 16 d.A.). Die Installation der Software könne nicht auf einem Versehen beruhen. Wenn das Fahrzeug zur Prüfung im Hinblick auf die Grenzwerte vorgeführt wurde, könne das nur in dem Bewusstsein veranlasst worden sein, dass eine Software installiert war, die dafür sorgen würde, dass die Grenzwerte auf dem Prüfstand nicht überschritten würden. Damit müsse auch Kenntnis davon bestanden haben, dass ohne die Software die Grenzwerte nicht eingehalten worden wären. Damit habe auf Seiten der Beklagten auch Kenntnis davon bestanden, dass die verkauften Fahrzeuge die am Markt berechtigterweise erwarteten Eigenschaften nicht aufwiesen und das den Käufern nicht bekannt war. Am Vorsatz der Beklagten bezüglich des Einsatzes der Abschalteinrichtung bestünden daher keine vernünftigen Zweifel (Bl. 17 d.A.). Die Konzeption des Motors und der Abgasreinigungsanlage sei ein wesentlicher Aufgabenbereich eines Fahrzeugherstellers, der Motor sei das „Herzstück“ jedes Fahrzeugs (Bl. 19 d.A.). Im Rahmen der Entwicklung und Produktion des Motors ergehe keine wesentliche Entscheidung, ohne dass der Vorstand direkt oder durch eine von ihm bestimmte Person hiervon Kenntnis erlangt und den Vorgang billigt; dass die Beklagte von dieser zwangsläufig notwendigen Praxis eines jeden wirtschaftlichen Unternehmens abweicht, sei nicht ersichtlich. Die Beklagte werde nicht behaupten, dass die Software ohne Wissen und Wollen irgendwelcher Entscheidungsträger in die Fahrzeuge gelangt wäre; die Installation der Software in derart viele Fahrzeuge sei nur auf Veranlassung eines Funktionsträgers möglich gewesen (Bl. 20 d.A.). Die Entwicklung der Funktionen habe der Verschaffung von Wettbewerbs- und Kostenvorteilen gedient (Bl. 97 d.A.).
31
Der Kläger bestreitet mit Nichtwissen, dass die Beklagte dem KBA im Typengenehmigungsverfahren die erforderlichen Angaben gemacht und die entsprechenden Unterlagen vollständig vorgelegt hat; die Beklagte habe Testergebnisse vorzulegen, wonach der streitgegenständliche Motorentyp gerade kein abweichendes Testverhalten bei konditioniertem und unkonditioniertem Fahrzeugmodell aufzeigt (Bl. 13 d.A.)
32
Der Kläger ist der Ansicht, eine Abschalteinrichtung sei zulässig, wenn ein Kfz im konditionierten und nicht konditionierten Zustand kein abweichendes Verhalten in der Abgasnachbehandlung aufweist. Unzulässig sei sie dagegen dann, wenn ein unterschiedlicher Einsatz in der Abgasrückführung erfolgt (Bl. 12 d.A.). Sinn und Zweck der VO (EG) 715/2007 sei die Verbesserung der Luftqualität und die Einhaltung der Luftverschmutzungsgrenzwerte, womit offensichtlich nicht die Luft im Prüflabor gemeint sei, weshalb sich die Grenzwerte auf das tatsächliche Verhalten im Straßenverkehr zu beziehen hätten und eine Abweichung der Emissionswerte zwischen Prüfstand und Straßenverkehr nicht irrelevant sein könne (Bl. 10 d.A.).
33
Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagte habe im Rahmen ihrer sekundären Einlassungslast darzulegen, bei welchen Außentemperaturen die Abgasrückführung reduziert wird und welche vermeintlichen Gefahren für welche konkret bezeichneten Motorteile bei ungedrosselter Abgasrückführung bestehen. Es sei zu berücksichtigen, ob nach dem Stand der Technik andere, ggf. hochwertigere, aber gleichzeitig teurere Alternativen bestehen (Bl. 12 d.A.). Ein bloßer Bauteilschutz, der mit einem Verschleißschutz gleichzusetzen ist, sei mit Art. 5 Abs. 2 S. 2 VO (EG) 715/2007 unvereinbar (Bl. 13, 93 d.A.). Mit einer zwingenden Notwendigkeit, den Motor vor Beschädigungen zu schützen, habe ein bloßer Bauteilschutz nach dem Wortlaut der eindeutigen gesetzlichen Regelung nichts zu tun. Bei einer Abschalteinrichtung, die darauf reagiert, dass eine normale Nutzungsbedingung (etwa der Betrieb während der Wintermonate) zu einer Wirkungsgradminderung führt, arbeite das System nicht „bei normalen Nutzungsbedingungen“. Es sei mit dem Sinn und Zweck der Verordnung unvereinbar, wenn der Wirkungsgrad der Emissionsminderungssysteme den Großteil des Jahres reduziert werde (Bl. 14 d.A.).
34
Der Kläger ist der Ansicht, die Beklagte treffe bei der Frage der Kenntnis der verfassungsmäßig berufenen Vertreter der Beklagten vom Einsatz der unzulässigen Abschalteinrichtung und des Schädigungsvorsatzes eine sekundäre Darlegungslast (Bl. 18 d.A.).
35
Der Kläger ist der Ansicht, ihm sei mit dem (täuschungsbedingten) Abschluss des Kaufvertrags ein Schaden entstanden (Bl. 21 d.A.). Ohne das Verschweigen der Unzulässigkeit der Abschalteinrichtung hätte der Kläger den Kaufvertrag über das streitgegenständliche Fahrzeug nicht geschlossen (Bl. 23 d.A.).
36
Der Kläger ist der Ansicht, das Verhalten der Beklagten sei objektiv sittenwidrig (Bl. 23 d.A.). Dies ergebe sich aus der Ausnutzung des eigenen Informations- und Wissensvorsprungs gegenüber dem nichts ahnenden Käufer mit dem Ziel der Erhöhung eigener Absatzzahlen, der Vorspiegelung der Einhaltung der Umweltstandards im Zeitgeist der Umweltfreundlichkeit und Umweltverträglichkeit, und der durch den massenhaften Vertrieb verbundenen Schädigung der Umwelt und Inkaufnahme der Schädigung der Gesundheit anderer Menschen. Die Beklagte hätte darüber aufzuklären gehabt, dass die gesetzlichen Grenzwerte die meiste Zeit nicht eingehalten werden (Bl. 24 d.A.).
37
Der Kläger ist der Ansicht, das Vorhandensein unzulässiger Abschalteinrichtungen ergebe sich nicht allein aus einem verpflichtenden bzw. überwachten Rückruf des KBA (Bl. 99 d.A.). Für den Zweck der Vorschriften sei allein die Einhaltung der Grenzwerte im realen Straßenverkehr maßgeblich. Sinn und Zweck der Prüfstandsmessungen sei, dass von diesen Ergebnissen auf das Abgasverhalten im realen Straßenverkehr geschlossen werden kann, andernfalls die Tests sinnlos würden (Bl. 99 d.A.).
38
Der Kläger geht von einer Gesamtlaufleistung des Fahrzeugs von 300.000 km aus (Bl. 30 d.A.). Die Prozessbevollmächtigten des Klägers halten eine 2,5 Geschäftsgebühr für gerechtfertigt (Bl. 32 d.A.).
39
Der Kläger beantragt,
1. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerschaft 9.325,25 € zzgl. Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen, Zug um Zug gegen Übergabe und Übereignung des Fahrzeugs Audi Avant Caddy mit der Fahrzeug-Identifizierungsnummer …09.
2. Es wird festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Entgegennahme des im Klageantrag zu 1. genannten Fahrzeugs in Annahmeverzug befindet.
3. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerschaft von vorgerichtlichen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 1.641,40 € freizustellen.
40
Die Beklagte beantragt
Klageabweisung.
41
Die Beklagte trägt vor, für sämtliche Fahrzeuge mit dem Motortyp EA 288 gebe es keinen amtlichen Rückrufbescheid des KBA im Zusammenhang mit ihrem Emissionsverhalten - insbesondere nicht wegen einer unzulässigen Abschalteinrichtung. Der streitgegenständliche Motor enthalte keine unzulässige Abschalteinrichtung. Das KBA habe den Motortyp EA 288 eingehend untersucht und bereits im Jahr 2016 festgestellt, dass dort keine unzulässige Abschalteinrichtung zum Einsatz komme (Bl. 41 d.A.).
42
Die Beklagte trägt vor, Messungen des KBA zu variierten Prüfbedingungen hätten gezeigt, dass das bei den EA288-Motoren verwendete Abgasnachbehandlungssystem bei voller Funktionsfähigkeit aller abgasnachbehandelten Bauteile die gesetzlich vorgegebenen Abgasgrenzwerte einhalte. Dies erfolge unabhängig von einer Fahrkurvenerkennung (Bl. 47 d.A.). Das Ergebnis des KBA sei eindeutig; es habe die EA288-Fahrzeuge in die Gruppe I - d.h. Fahrzeuge „mit unauffälligem Verhalten“ - eingeordnet (Bl. 49 d.A.).
43
Die Beklagte trägt vor, im streitgegenständlichen Fahrzeug sei eine Fahrkurvenerkennung nicht hinterlegt und auch nie hinterlegt worden. Von der Fahrkurven- bzw. Zykluserkennung sei die Erkennung eines Rollenprüfstands zu unterscheiden; ein Rollen- oder Rollenprüfstandsmodus könne erforderlich sein, wenn bestimmte Funktionen - etwa die Elektronische Stabilitätskontrolle (ESC) und Airbags - des Fahrzeugs auf dem Rollenprüfstand deaktiviert werden müssen (Bl. 50 d.A.). Die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems werde im normalen Fahrbetrieb gegenüber dem Prüfstandsbetrieb nicht in einer Art und Weise verringert, die den Vorwurf einer unzulässigen Abschalteinrichtung begründen könnte. Auf Basis der bisherigen Messungen des KBA gebe es keine im Prüfstandsbetrieb optimierende Funktion, die erforderlich wäre, um die gesetzlichen Emissionsgrenzwerte einzuhalten. Die Fahrzeuge würden die Emissionsgrenzwerte auch ohne die Nutzung der Fahrkurvenerkennung einhalten (Bl. 51 d.A.). Die Fahrkurve bei den EA288-Fahrzeugen habe nicht die gleichen Folgen wie die in EA189- Fahrzeugen verwendete Umschaltlogik, durch die Emissionen in grenzwertrelevanter Weise auf dem Prüfstand reduziert wurden (Bl. 53 d.A.). Die Ergebnisse in sechs Prüffällen gegenüber dem NEFZ kalt-Ergebnis würden zeigen, dass der streitgegenständliche EA288-Motor bei voller Funktionsfähigkeit aller abgasnachbehandelnden Bauteile die gesetzlich vorgegebenen Abgasgrenzwerte einhält. Dies erfolge unabhängig von einer Fahrkurvenerkennung (Bl. 57 d.A.).
44
Die Beklagte trägt vor, Thermofenster würden in allen in der EU produzierten Dieselfahrzeugen mit Abgasrückführung eingesetzt. Sie seien technischphysikalisch unverzichtbar und in ihrer konkreten Ausgestaltung von dem jeweiligen Stand der Technik abhängig. Eine Abgasrückführung, die in allen Temperaturbereichen identisch wäre, könne zu plötzlichen, ggf. erheblichen, auch durch Wartungen nicht vermeidbaren Motorschäden und Risiken für den sicheren Betrieb des Fahrzeugs führen. Der Einsatz sei zum Schutz des Motors und des sicheren Fahrzeugbetriebs technisch erforderlich und notwendiger Bestandteil eines jeden Dieselfahrzeugs (Bl. 58 d.A.). Das Temperaturfenster bei Motoren des Typs EA 288 sei mit minus 24 Grad Celsius bis plus 70 Grad Celsius extrem weit und die Abgasrückführung in diesem Bereich zu 100 Prozent aktiv, so dass die Funktion nur bei praktisch nicht vorkommenden Extremtemperaturen und damit außerhalb der bei „normalem Fahrbetrieb vernünftigerweise zu erwartenden Bedingungen“ aktiv sei (Bl. 59 d.A.).
45
Die Beklagte hält den Vortrag des Klägers in Form der Lenkwinkelerkennung für widersinnig und unzutreffend, da höhere Schaltpunkte zu einem späteren Hochschalten und damit zu höheren Emissionen führten (Bl. 65 d.A.). Der Vorwurf könne im Übrigen nur Fahrzeuge mit AutomatikGetriebe betreffen (Bl. 66 d.A.).
46
Die Beklagte trägt vor, die AdBlue-Dosierung werde in Abhängigkeit von der Umgebungslufttemperatur nicht unterschiedlich angesteuert. Die Funktionsfähigkeit des SCRSystems sei nicht von der Größe des AdBlue-Tanks abhängig, da ein Nachfüllen problemlos möglich sei (Bl. 67 d.A.).
47
Die Beklagte trägt vor, die Applikationsrichtlinie sei das Instrument gewesen, mit dem intern die Änderung der Bedatung des Motorsteuerungsgeräts bei EA288-Aggregaten im Unterschied zu EA189-Aggregaten festgelegt wurde (Bl. 53 d.A.).
48
Die Beklagte ist der Ansicht, eine sittenwidrige Schädigung scheide schon aufgrund der Tatbestandswirkung der unverändert wirksamen Typgenehmigung aus (Bl. 42 d.A.). Der Vortrag der Klägerin sei als unsubstantiiert und ins Blaue hinein zu qualifizieren (Bl. 43, 72 d.A.). Für den Motortyp EA288 würden Anknüpfungstatsachen fehlen (Bl. 44 d.A.).
49
Die Beklagte ist der Ansicht, das Thermofenster stelle schon keine Abschalteinrichtung i.S.d. Art. 3 Nr. 10, 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) 705/2007 dar und sei jedenfalls nach Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. a) VO (EG) 705/2007 zulässig (Bl. 61 d.A.). Das Urteil des EuGH vom 17.12.2020 (Az. C-693/18) ändere daran nichts.
50
Die Beklagte hat einige Entscheidungen vorgelegt, namentlich: OLG Bamberg, Urteil vom 25.02.2021 (Az. 1 U 249/20), Beschluss vom 04.02.2021 (Az. 1 U 484/20), Beschluss vom 01.03.2021 (Az. 3 U 383/20), Beschluss vom 10.02.2021 (Az. 8 U 276/20), OLG München, Beschluss vom 15.03.2021 (Az. 20 U 7287/20), Beschluss vom 08.03.2021 (Az. 21 U 5254/20), Beschluss vom 08.02.2021 (Az. 17 U 6806/20), OLG Düsseldorf, Beschluss vom 04.01.2021 (Az. I-22 U 707/19), OLG Nürnberg, Hinweis gemäß § 522 Abs. 2 ZPO vom 26.11.2020 (Az. 5 U 4001/19), LG Duisburg, Urteil vom 17.09.2019 (Az. 1 O 91/19), OLG Frankfurt, Urteil vom 07.10.2020 (Az. 4 U 171/18). Der Kläger hat ebenfalls Entscheidungen vorgelegt, namentlich, LG Regensburg, Urteil vom 19.03.2020 (Az. 73 O 1181/19) und LG Duisburg, Urteil vom 30.10.2018 (Az. 1 O 231/18).
51
Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen und das Protokoll zur mündlichen Verhandlung Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

52
Die zulässige Klage ist überwiegend begründet.
53
I. Die Klage ist zulässig.
54
1. Das Landgericht München I ist gemäß §§ 23 Nr. 1, 71 Abs. 1 GVG sachlich zuständig. Die örtliche Zuständigkeit ergibt sich aus § 32 ZPO.
55
2. Der Feststellungsantrag ist zulässig. Beim Annahmeverzug handelt es sich um ein feststellungsfähiges Rechtsverhältnis i.S.d. § 256 Abs. 1 ZPO, wenn der Feststellungsantrag nicht isoliert gestellt wird, sondern dazu dient, bei einer Verurteilung Zug um Zug durch den erforderlichen Nachweis des Annahmeverzugs bereits im Erkenntnisverfahren die Vollstreckung zu erleichtern (BGH, Urteil vom 19.11.2014 - VIII ZR 79/14, NJW 2015, 873, 875, Rz. 23). Diese Anforderungen an die Antragstellung sind im vorliegenden Fall erfüllt. Das Feststellungsinteresse ergibt sich aus §§ 756 Abs. 1, 765 Abs. 1 ZPO.
56
II. Die Klage ist überwiegend begründet.
57
1. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch aus §§ 826, 31 BGB auf Zahlung von 30.366,64 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 13.02.2021 Zugum-Zug gegen Übereignung und Herausgabe des streitgegenständlichen Fahrzeugs.
58
Diese Beurteilung liegt auf einer Linie mit den veröffentlichten - einen Anspruch bejahenden - Entscheidungen des OLG Naumburg (Urteil vom 29.04.2021 - 8 U 68/20, BeckRS 2021, 880), des OLG Köln (Versäumnisurteil vom 19.02.2021 - 19 U 151/20, BeckRS 2021, 2388), des LG Dortmund (Urteil vom 26.03.2021 - 12 O 294/20, BeckRS 2021, 7892), des LG Aachen (Urteil vom 19.02.2021 - 7 O 274/20, BeckRS 2021, 3360), des LG Offenburg (Urteil vom 04.01.2021 - 2 O 168/20, BeckRS 2021, 187), des LG Darmstadt (Urteil vom 24.11.2020 - 9 O 305/18, BeckRS 2020, 39387), des LG Karlsruhe (Urteil vom 04.11.2020 - 9 O 93/20, BeckRS 2020, 42138) und des LG München I (Urteil vom 25.08.2020 - 3 O 4218/20, BeckRS 2020, 28259) und erfolgt in Kenntnis der veröffentlichten - einen Anspruch verneinenden - Entscheidungen des OLG Stuttgart (Urteil vom 19.01.2021 - 16a U 196/19, BeckRS 2021, 3447 und Urteil vom 13.10.2020 - 16a U 216/19, juris), des OLG Dresden (Urteil vom 04.12.2020 - 9a U 2074/19, juris), des OLG Celle (Urteil vom 04.11.2020 - 7 U 1564/19, BeckRS 2020, 44504), des OLG Frankfurt (Urteil vom 07.10.2020 - 4 U 171/18, veröffentlicht auf einem Online-Auftritt der Beklagten), des OLG Schleswig (Beschluss vom 14.08.2020 - 18 U 18/20, BeckRS 2020, 43698; beachte Hinweisbeschluss vom 23.07.2020 - 18 U 18/20, BeckRS 2020, 44782), des LG Saarbrücken (Urteil vom 23.04.2021 - 12 O 534/20) und des LG Düsseldorf (Urteil vom 17.07.2020 - 11 O 190/18, BeckRS 2020, 37645) sowie der im Tatbestand bezeichneten von den Parteien vorgelegten Entscheidungen.
59
a. Die Voraussetzungen für die Annahme eines sittenwidrigen Handels der Beklagten liegen vor.
60
aa. Auf Basis des Tatsachenvortrags der Parteien ist gemäß § 138 Abs. 3 ZPO davon auszugehen, dass das streitgegenständliche Fahrzeug eine Abschalteinrichtung aufweist, deren Verwendung unzulässig ist.
61
(1) Für die Verteilung der Darlegungslast bedeutet das klar erkennbare Regel-AusnahmeVerhältnis in Art. 5 Abs. 2 S. 1, S. 2 VO (EG) 715/2007, dass der Käufer lediglich konkret darlegen muss, dass im Motor des streitgegenständlichen Fahrzeugs ein als Abschalteinrichtung zu qualifizierendes Konstruktionsteil enthalten ist, nicht aber, dass dieses Konstruktionsteil nicht notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten. Dem Standpunkt des OLG Koblenz (Urteil vom 16.09.2019 - 12 U 246/19, BeckRS 2019, 25135, Rz. 44-45; kritisch hierzu: Lempp, NZV 2020, 20, 46 f.), wonach vom Käufer auch zu letzterem Aspekt ein konkreter Sachvortrag zu verlangen ist, folgt der Einzelrichter daher nicht. Die Tatbestände des Art. 5 Abs. 2 S. 2 VO (EG) 715/2007 stellen Ausnahmen zum grundsätzlichen Verbot der Verwendung einer Abschalteinrichtung dar, weshalb der Hersteller hierzu konkret vorzutragen hat.
62
(2) Die vom OLG Nürnberg (Urteil vom 19.07.2019 - 5 U 1670/18, BeckRS 2019, 19559, Rz. 33) wiedergegebene Rechtsansicht des 5. Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestags (BT-Drs. 18/12900), wonach die in Art. 5 Abs. 2 S. 2 VO (EG) 715/2007 aufgeführten Ausnahmen vom Verbot von Abschalteinrichtungen nicht eindeutig definiert seien, das europäische Recht der Typgenehmigungsbehörde nicht in jedem Fall die zweifelsfreie Feststellung ermögliche, ob eine genutzte Abschalteinrichtung zulässig sei oder nicht und die Formulierung der Ausnahmen teilweise so weit sei, dass den Automobilherstellern - insbesondere für die Ausnahme des Motorschutzes - ein weiter Einsatzspielraum verbleibe, teilt der Einzelrichter nicht.
63
Der VIII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die Regelungen in Art. 3 Nr. 10 und Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) 715/2007 als weitgefasste Bestimmungen und die Voraussetzungen in Art. 5 Abs. 2 S. 2 VO (EG) 715/2007 als eng bezeichnet (Hinweisbeschluss vom 08.01.2019 - VIII ZR 225/17, BeckRS 2019, 2206, Rz. 12-13; vgl. auch LG München I, Urteil vom 25.08.2020 - 3 O 4218/20, BeckRS 2020, 28259, Rz. 41).
64
Auch der EuGH (Urteil vom 17.12.2020 - C-693/18, BeckRS 2020, 35477) geht von einer weiten Auslegung des Begriffs „Konstruktionsteil“ i.S.d. Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 aus und geht damit von einem weiten Anwendungsbereich des Verbots von Abschalteinrichtungen nach Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) 715/2007 aus. Der EuGH stützt diese Ansicht auf den Kontext des Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 (aao Rz. 85), das Ziel der Verordnung, die NOx-Emissionen erheblich zu verringern und ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen (aao Rz. 100) sowie auf den Gedanken der praktischen Wirksamkeit (aao Rz. 89). Gleichzeitig geht der EuGH von einem engen Anwendungsbereich der Ausnahmen des Art. 5 Abs. 2 S. 2 VO (EG) 715/2007 aus (aao Rz. 111, 112, 114).
65
(3) Der Kläger hat seiner Darlegungslast genügt.
66
Soweit in einigen der den Motor EA 288 betreffenden Verfahren davon ausgegangen wird, die dortige Klagepartei habe jeweils nur willkürlich „ins Blaue hinein“ oder „aufs Geratewohl“ behauptet, dass das dort streitgegenständliche Fahrzeug mit dem Motorentyp EA 288 eine (mehrere) unzulässige Abschalteinrichtung(en) enthält (vgl. etwa OLG Stuttgart, Urteil vom 19.01.2021 - 16a U 196/19, BeckRS 2021, 3447, Rz. 21-22; OLG Frankfurt, Hinweisbeschluss vom 17.02.2020 - 12 U 353/19, BeckRS 2020, 2626, Rz. 5-9), sind diese Bewertungen auf den hier vorliegenden Fall nicht übertragbar.
67
Der Kläger hat sich insbesondere auf das Dokument „Entscheidungsvorlage: Applikationsrichtlinien & Freigabevorgaben EA 288“ berufen und daraus abgeleitet, dass auch in Motoren des Typs EA 288, mithin im streitgegenständlichen Fahrzeug, eine bzw. mehrere Abschalteinrichtungen enthalten sind. In dem Dokument ist im Bereich „NSK“ die Rede von einer „Platzierung von Abgasnachbehandlungsevents“, die „auf Basis physikalischer Randbedingungen unter Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben für Roh- und Endrohremissionen erfolgen“ muss. Im Bereich „SCR“ wird ausgeführt, dass „bei laufenden Entwicklungsprojekten“ die „Fortsetzung der bisherigen Bedatungsstrategien zulässig“ sei, „wenn durch [den] Wechsel auf obige Vorgaben der Projektterminplan gefährdet würde“ und dass „sicherzustellen“ sei, „dass Fahrzeuge nicht vor Kunde gelangen können“. Der Kläger ist damit seiner prozessualen Darlegungslast nachgekommen.
68
In einigen der den Motor des Typs EA 288 betreffenden Verfahren wird nachvollziehbar ausgeführt, dass allein aus dem Umstand, dass in Motoren des Typs EA 189 unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut waren, nicht auf das Vorhandensein von unzulässigen Abschalteinrichtungen in Motoren des Typs EA 288 geschlossen werden kann. Allerdings können die Vorgänge beim Motor des Typs EA 189 vor dem Hintergrund der bezeichneten Entscheidungsvorlage nicht gänzlich außer Betracht bleiben. Berücksichtigt man - was geboten ist - die Perspektive des Klägers, steht er einem Hersteller gegenüber, der in der jüngsten Vergangenheit zivilprozessual des vorsätzlichen Einsatzes einer unzulässigen Abschalteinrichtung in einer Vielzahl von Fahrzeugen überführt worden ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Abschalteinrichtung verklausuliert als „Akustikfunktion“ bezeichnet worden ist. Nun erhält der Kläger Kenntnis von einer Entscheidungsvorlage der Beklagten, in der beim Motor des Typs EA 288 von der „Platzierung von Abgasnachbehandlungsevents“ die Rede ist und die „Fortsetzung der bisherigen Bedatungsstrategien“ als zulässig bezeichnet wird, wenn der Projektterminplan gefährdet würde, ohne dass erkennbar ist, wie sichergestellt worden ist, dass diese Fahrzeuge nicht zu den Kunden gelangt sind. Insoweit von einem Vortrag ins Blaue hinein auszugehen, erscheint ausgeschlossen.
69
Soweit daher die Relevanz der Entscheidungsvorlage in Abrede gestellt wird (vgl. OLG Bamberg, Urteil vom 25.02.2021 - 1 U 249/20, S. 4 ff.) folgt der Einzelrichter dem nicht; denn es oblag gerade der Beklagten, diese Punkte im Rahmen ihrer sekundären Darlegungslast zu erläutern. Aus Sicht des Einzelrichters ist das Vorbringen des Klägers daher weder als unschlüssig noch als unerheblich anzusehen.
70
(4) Die Beklagte hat ihrer sekundären Darlegungslast dagegen nicht genügt und das Vorbringen des Klägers nicht in einer Weise bestritten, die zur Erheblichkeit des Bestreitens führen könnte.
71
Soweit die Beklagte ausführt, die Wirksamkeit des Emissionskontrollsystems werde im normalen Fahrbetrieb gegenüber dem Prüfstandsbetrieb nicht in einer Art und Weise verringert, die den Vorwurf einer unzulässigen Abschalteinrichtung begründen könnte, so ist dies deutlich zu vage, um die Schlussfolgerung der Beklagten zu rechtfertigen. Aus diesem Vortrag geht nicht hervor, dass im streitgegenständlichen Fahrzeug eine Abschalteinrichtung nicht implementiert ist. Es wird lediglich vorgebracht, dass eine unzulässige Abschalteinrichtung nicht vorliegt. Vorzutragen ist jedoch, ob eine Abschalteinrichtung verbaut bzw. installiert ist und was der Grund hierfür ist. Die Aspekte „Abschalteinrichtung“ und „Zu- bzw. Unzulässigkeit“ sind nach dem klar erkennbaren Regelungsgefüge in Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 zwingend zu trennen. Die Beklagte hat keine Gründe vorgetragen, die eine Subsumtion unter Art. 5 Abs. 2 S. 2 VO (EG) 715/2007 erlauben würden.
72
Die Beklagte hat das Dokument „Entscheidungsvorlage. Applikationsrichtlinien & Freigabevorgaben EA 288“ nur am Rande als Instrument für die Änderung der Bedatung bezeichnet, hat aber auf tragfähige inhaltliche Erläuterungen verzichtet. Insbesondere fehlt es an einer Erläuterung, was unter dem Begriff „Abgasnachbehandlungsevents auf Basis physikalischer Randbedingungen“ zu verstehen ist und was damit gemeint ist, dass „möglicherweise notwendige Umschaltungen zur Einhaltung der Emissions- und OBDGrenzwerte […] auf Basis physikalischer Randbedingungen erfolgen“ müssen. Dies lässt sich nur so verstehen, dass eine Alternativlösung zur Fahrkurvennutzung für die Einhaltung der Grenzwerte gesucht wurde. Auch fehlt eine Erklärung, wie sichergestellt worden ist, dass Fahrzeuge, bei denen die bisherige Bedatungsstrategie, die dort als zulässig bezeichnet wird, wenn andernfalls der Projektterminplan gefährdet würde, nicht an den Kunden gelangen können. Ebenso vage ist die Angabe im Dokument „Statusbericht Diesel KBA-Termin (Technik) 21.10.2015, Wolfsburg“, wonach grundsätzlich die Zusage gilt, dass die Funktion ausgebaut wird. Auch der Beklagtenschriftsatz vom 29.04.2021 enthält zu diesen Punkten keine Ausführungen, insbesondere nicht zur Frage, zwischen welchen Abgasnachbehandlungsevents die Beklagte dabei unterscheidet.
73
Soweit die Beklagte vorbringt, die Funktionsfähigkeit des SCR-Systems sei von der Größe des Tanks unabhängig, weil ein Nachfüllen problemlos möglich sei, ist dieser Einwand nicht überzeugend. Zwar handelt es sich um eine allgemeinkundige und auch gerichtsbekannte Tatsache, dass ein Tank grundsätzlich problemlos nachgefüllt werden kann. Allerdings ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass diese Nachfüllvorgänge überhaupt vorgesehen waren; gleiches gilt für die Fragen, nach welchen Modalitäten und auf wessen Kosten diese hätten durchgeführt werden sollen.
74
Auch der Vortrag der Beklagten, das Temperaturfenster bei Motoren des Typs EA 288 sei mit minus 24 Grad Celsius bis plus 70 Grad Celsius extrem weit und die Abgasrückführung in diesem Bereich zu 100 Prozent aktiv, so dass die Funktion nur bei praktisch nicht vorkommenden Extremtemperaturen und damit außerhalb der bei „normalem Fahrbetrieb vernünftigerweise zu erwartenden Bedingungen“ aktiv sei, ist nicht überzeugend. Da diese Extremtemperaturen nach dem Vortrag der Beklagten praktisch nicht vorkommen, leuchtet nicht ein, dass die Technologie dann flächendeckend bei Motoren des EA 288 eingesetzt wird.
75
Soweit die Beklagte sich auf die Einordnung der Fahrzeuge mit dem Motortyp EA 288 unter die Gruppe I auf S. 18 des Berichts der Untersuchungskommission „Volkswagen“ stützt, verschweigt sie das zum Merkmal „Fahrzeug mit unauffälligem Verhalten“ in einem gemäß dem ausdrücklichen Wortlaut „oder“ in einem Alternativitätsverhältnis stehende Merkmal „Darstellung von auffällig hohen NOx-Werten als technisch plausibel oder akzeptabel“. Aus dem Bericht geht nicht hervor, welches dieser beiden Merkmale auf die Fahrzeuge mit dem Motor des Typs EA 288 zutrifft. Aus dem Bericht geht lediglich hervor, dass die Fahrzeuge mit dem Motor EA 288 auf dem Prüfstand die Grenzwerte einhielten. Allerdings haben ausweislich des Berichts Straßenmessungen bei einigen - nicht näher bezeichneten - Fahrzeugen gegenüber dem Grenzwerte deutlich erhöhte NOx-Werte ergeben. Die Frage, ob Fahrzeuge mit dem Motor des Typs EA 288 hierunter waren, wird in dem Bericht nicht beantwortet.
76
Dass das KBA ausweislich des Berichts die Darstellung auffällig hoher NOx-Werte als technisch plausibel oder akzeptabel bewertet hat, entfaltet - bereits grundsätzlich aber auch mangels jeder Begründung in dem Bericht - keine Bindungswirkung für diesen Rechtsstreit (vgl. LG München I, Urteil vom 25.08.2020 - 3 O 4218/20, BeckRS 2020, 28259, Rz. 42).
77
(5) Nach alledem ist mangels Erläuterung des Begriffs der Platzierung von Abgasnachbehandlungsevents durch die Beklagte davon auszugehen, dass es sich insoweit um eine technische Vorgehensweise handelt, die als Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 3 Nr. 10 VO (EG) 715/2007 einzuordnen. Ebenso fehlt es an einem Vortrag zur Frage, aus welchem Grund diese Vorgehensweise nach Art. 5 Abs. 2 VO (EG) 715/2007 zulässig sein könnte. Der Motorschutz genügt insoweit nicht, da auf Basis der oben genannten Entscheidung des EuGH mit dem gewöhnlichen Lauf des Motors verbundene Schäden nicht als Beschädigung oder Unfall i.S.d. Art. 5 Abs. 2 S. 2 lit. a) VO (EG) 715/2007 angesehen werden können.
78
bb. Die unzulässige Verwendung von Abschalteinrichtungen ist im vorliegenden Fall als sittenwidrig zu qualifizieren.
79
(1) Nach Auffassung des VI. Zivilsenats ist ein Verhalten sittenwidrig, das nach seinem Gesamtcharakter, der in einer Gesamtschau durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt; dafür genüge es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft, da eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten muss, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (BGH, Beschluss vom 29.03.2021 - VI ZR 889/20, BeckRS 2021, 4148, Rz. 12). Insoweit könne es bereits zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit auf Kenntnisse, Absichten oder Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen; die Verwerflichkeit könne sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (aao). Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen komme es darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (aao).
80
(2) Soweit in Rechtsprechung und Literatur die Ansicht vertreten wird, es handele sich bei der unzulässigen Verwendung einer Abschalteinrichtung lediglich um einen „einfachen Gesetzesverstoß“ (vgl. etwa OLG Frankfurt, Hinweisbeschluss vom 17.02.2020 - 12 U 353/19, BeckRS 2020, 2626, Rz. 12; Weidemann, NVwZ 2020, 9, 14), folgt der Einzelrichter dem nicht. Die unzulässige Verwendung von Abschalteinrichtungen stellt den elementaren Verstoß gegen das gerade zentrale Verbot der VO (EG) 715/2007 dar und ist gemäß Art. 13 Abs. 1 S. 1, S. 2, Abs. 2 lit. d) VO (EG) 715/2007 von den Mitgliedstaaten wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu sanktionieren. Dem Verstoß kommt daher ein bedeutendes Gewicht zu.
81
(3) Nach Auffassung des VI. Zivilsenats genügt der in der unzulässigen Verwendung einer Abschalteinrichtung liegende Gesetzesverstoß nicht, um das Gesamtverhalten des Herstellers als sittenwidrig zu qualifizieren (BGH, Beschluss vom 09.03.2021 - VI ZR 889/20, BeckRS 2021, 4148, Rz. 26). Der Einzelrichter versteht die Ausführungen des VI. Zivilsenats (aao, Rz. 27 und 28) so, dass ein von vornherein durch Arglist geprägtes Verhalten vorausgesetzt wird, welches sich darin äußern kann, dass bei erkanntem Prüfstandbetrieb eine verstärkte Abgasrückführung aktiviert und der Stickoxidausstoß gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduziert wird; alternativ dürfte nach den bezeichneten Ausführungen die Annahme der Sittenwidrigkeit denkbar sein, wenn die Verantwortlichen bei der Entwicklung und/oder Applikation der Steuerung des Emissionskontrollsystems in dem Bewusstsein handeln, eine unzulässige Abschalteinrichtung zu verwenden und den darin liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf nehmen.
82
Nach Auffassung des VI. Zivilsenats reicht der Umstand, dass die Abgasrückführung im Fahrzeug durch eine temperaturabhängige Steuerung des Emissionskontrollsystems bei einstelligen Positivtemperaturen reduziert und letztlich ganz abgeschaltet wird, für sich genommen nicht aus, um dem Verhalten der für den Hersteller handelnden Personen ein sittenwidriges Gepräge zu geben (BGH, Urteil vom 19.01.2021 - VI ZR 433/19, BeckRS 2021, 847, Rz. 16). Der hierin liegende Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) 715/2007 sei auch unter Berücksichtigung einer damit einhergehenden Gewinnerzielungsabsicht für sich genommen nicht geeignet, den Einsatz dieser Steuerungssoftware durch die handelnden Personen als besonders verwerflich erscheinen zu lassen (aao). Dieser Entscheidung lag ein Sachverhalt zugrunde, bei dem das streitgegenständliche Fahrzeug nach den nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts keine Funktion aufwies, die bei erkanntem Prüfstandsbetrieb eine verstärkte Abgasrückführung aktiviert und den Stickoxidausstoß gegenüber dem normalen Fahrbetrieb reduziert, sondern in beiden Fahrsituationen im Grundsatz in gleicher Weise arbeitet und die Rate der Abgasrückführung im normalen Fahrbetrieb demjenigen auf dem Prüfstand entspricht (aao Rz. 18).
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(4) Angesichts der zunehmenden Dringlichkeit der Sicherstellung eines hohen Umweltschutzniveaus und der Eigenschaft der Bundesrepublik Deutschland als führender Standort von Automobilkonzernen, die eine Vorbildfunktion begründet, ist es als sittenwidrig zu bewerten, durch technische Maßnahmen die permanente Einhaltung der hohen Anforderungen an das Emissionsverhalten zu beeinträchtigen. Zu einem anderen Ergebnis vermag auch nicht die Erwägung zu führen, dass die Sicherstellung der permanenten Einhaltung der strengen Emissionsgrenzwerte zu höheren Entwicklungs- und Herstellungskosten führen dürfte, welche letztlich den Endkunden treffen werden. Denn auf Basis der ausdrücklichen Ziele der VO (EG) 715/2007, die Schadstoffemissionen erheblich zu reduzieren und ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen, trifft auch die Endkunden als Nutzer von Kraftfahrzeugen insoweit eine Verantwortlichkeit; diese führt dazu, dass für die Möglichkeit, ein den Vorgaben genügendes Fahrzeug fahren zu können, ein entsprechend höherer finanzieller Aufwand beim Erwerb zu akzeptieren ist. Gleiches gilt für den finanziellen Aufwand bei der Entwicklung und Herstellung von Kraftfahrzeugtechnik. Es widerspricht dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden, wirtschaftliche Eigeninteressen über das Allgemeininteresse an einem zunehmend dringlichen Umweltschutz zu stellen.
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Die Annahme der Sittenwidrigkeit von einem Täuschungsverhalten gegenüber dem Kraftfahrtbundesamt abhängig zu machen, verengt den Anwendungsbereich des § 826 BGB im Hinblick auf die insoweit - aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts maßgeblich - zu berücksichtigenden Ziele der VO (EG) 715/2007. Aus Sicht des Einzelrichters ist dieser Maßstab deshalb abzulehnen, da insoweit andernfalls die Gefahr besteht, dass einzelstaatliche politische Erwägungen die an sich gebotene - d.h. eine dem Gebot der praktischen Wirksamkeit des Art. 5 Abs. 2 S. 1 der VO (EG) 715/2007 gerecht werdende - Auslegung der Vorschriften überlagern. Das Vertrauen von Fahrzeugkäufern in das Kraftfahrtbundesamt bezieht sich nicht nur auf die - nicht durch Hersteller mittels Täuschung im Zulassungsantrag beeinträchtigte - Integrität des Prüfungsverfahrens, sondern - gemäß der Bindung des Kraftfahrtbundesamts als Bundesoberbehörde an Gesetz und Recht im Hinblick auf die konsequente Durchführung des Prüfungsverfahrens, die Aufdeckung von Gesetzesverstößen und die Umsetzung des bindenden nationalen und unionalen Rechts (hier in Gestalt der VO (EG) 715/2007) - auch auf das Ergebnis des Prüfungsverfahrens.
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(5) Die Beklagte hat eine erhebliche Zahl von Fahrzeugen mit dem Motor des Typs EA 288 - und damit unter Verstoß gegen das Verbot der Verwendung einer Abschalteinrichtung - in den Verkehr gebracht. Die Käufer - so auch der Kläger - hatten vom Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung keine Kenntnis und wurden somit beim Kauf des jeweiligen Fahrzeugs über diesen für die Kaufentscheidung relevanten Umstand von der Beklagten - mangels Offenlegung durch Unterlassen - getäuscht. Die Beklagte verfolgte beim Inverkehrbringen offensichtlich Gewinninteressen. Der Verstoß gegen Art. 5 Abs. 2 S. 1 VO (EG) begründet eine schwerwiegende Rechtswidrigkeit. Diese Umstände genügen für die Annahme der objektiven Sittenwidrigkeit. Eine zusätzliche Täuschung des Kraftfahrtbundesamts ist nicht erforderlich.
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b. Der Kläger hat durch das Verhalten der Beklagten einen Schaden erlitten.
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Der Schaden liegt im ungewollten Vertragsschluss (vgl. LG München I, Urteil vom 25.08.2020 - 3 O 4218/20, BeckRS 2020, 28259, Rz. 45 ff.). Der Kläger hat ein Fahrzeug mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung erhalten, mithin eine Leistung, die für seine Zwecke nicht voll brauchbar war (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19, BeckRS 2020, 10555, Rz. 44 ff.). Ein verständiger Kunde würde ein solches Fahrzeug nicht erwerben und geht mangels Aufklärung über diesen Umstand davon aus, dass das zu erwerbende Fahrzeug mangelfrei und gesetzeskonform ist.
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c. Das Handeln der Beklagten weist auch die erforderliche Kausalität zum Schaden des Klägers auf. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger den Vertrag über den Kauf des Fahrzeugs bei Kenntnis - d.h. bei Offenlegung - der Gesetzeswidrigkeit nicht geschlossen hätte.
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d. Gemäß § 138 Abs. 3 ZPO ist zudem von einem vorsätzlichen Handeln von verfassungsmäßig berufenen Vertretern i.S.d. § 31 BGB auszugehen, das der Beklagten zuzurechnen ist.
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(1) Der Kläger hat plausibel vorgetragen, welche Bedeutung der Entwicklung und Herstellung eines Motors in einem Unternehmen der Automobilbranche zukommt. Der Kläger hat ebenso nachvollziehbar ausgeführt, dass insoweit zu treffende weitreichende Entscheidungen notwendig auf einer Ebene getroffen werden, auf der Personen maßgeblich involviert sind, deren Handeln dem Hersteller gemäß § 31 BGB zuzurechnen ist. Der Kläger hat damit seiner prozessualen Darlegungslast genügt.
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Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Verantwortlichen der Beklagten bereits aufgrund der Vorgeschichte - namentlich der Bewertung hinsichtlich der Motoren des Typs EA 189 - vorgewarnt sein mussten, dass ihre Rechtsauffassung hinsichtlich der Zulässigkeit der von ihr verwendeten Abgastechnik unzutreffend sein könnte.
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Die in der Rechtsprechung vertretene Ansicht, die Annahme eines vorsätzlichen Handelns scheide ebenso wie der Vorwurf der Sittenwidrigkeit aus, soweit sich eine Tathandlung im Einzelfall als rechtlich vertretbar erweist (vgl. LG Saarbrücken, Urteil vom 23.04.2021 - 12 O 534/20, BeckRS 2021, 8349, Rz. 15 ff.; OLG Frankfurt, Hinweisbeschluss vom 17.02.2020 - 12 U 353/19, BeckRS 2020, 2626, Rz. 13), teilt der Einzelrichter nicht. Das Kriterium der rechtlichen Vertretbarkeit ist kein taugliches Abgrenzungskriterium, da nachvollziehbare Grenzen insoweit nicht zu ziehen sind. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Hersteller, der unzulässig eine Abschalteinrichtung verwendet und zu deren Funktionsweise er die erforderliche volle Kenntnis hat, die Möglichkeit, dass Gerichte die eigene Rechtsansicht nicht teilen, erkannt hat und dies billigend in Kauf genommen hat. Ein wesentliches Indiz zu Lasten der Beklagten ist, dass der Hersteller die Funktion - wie hier - dem Kunden nicht offengelegt hat.
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Nicht übertragbar ist daher im vorliegenden Fall die Beurteilung in Parallelverfahren, wonach dort vom Kläger weder Tatsachen noch sonstige Gesichtspunkte vorgetragen worden oder in sonstiger Weise ersichtlich seien, die in zulässiger Weise den Rückschluss auf einen bei der Beklagten bestehenden Schädigungsvorsatz zuließen (vgl. OLG Frankfurt, Hinweisbeschluss vom 17.02.2020 - 12 U 353/19, BeckRS 2020, 2626, Rz. 12-13).
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(2) Die Beklagte hat bereits nicht vorgetragen, wer die Entscheidungen insoweit getroffen hat bzw. wie die Entscheidungen über die Verwendung der streitgegenständlichen Technik bzw. Software vorbereitet wurden und zustande gekommen sind bzw. welche rechtlichen Überlegungen insoweit angestellt wurden, insbesondere ob Bedenken geäußert oder rechtliche Risiken gänzlich verneint wurden. Die Beklagte hat lediglich den Vortrag des Klägers als unsubstantiiert abgetan. Die sekundäre Darlegungslast der Beklagten (vgl. BGH, Urteil vom 25.05.2020 - VI ZR 252/19, BeckRS 2020, 10555, Rz. 34 ff.) ist damit nicht erfüllt.
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Der Einzelrichter folgt insoweit nicht der Auffassung aus der Rechtsprechung, wonach gerade der Umstand, dass hinsichtlich der Dieselmotoren der Euro-6-Generation technischrechtliche Fragen streitig sind, gegen die Annahme spreche, dass die Beklagte beim Inverkehrbringen des Motors EA 288 in Kenntnis einer unzulässigen Abschalteinrichtung handelte, weshalb es schon am erforderlichen Wissenselement des Vorsatzes fehle (vgl. OLG Schleswig, Hinweisbeschluss vom 23.07.2020 - 18 U 18/20, BeckRS 2020, 44782, Rz. 9). Diese - aufgrund der Verortung in einem Hinweisbeschluss - vorläufige Bewertung beruht auf vorläufigen Überlegungen, die im vorliegenden Fall aufgrund des fehlenden erforderlichen Sachvortrags der Beklagten als abschließende Bewertung nicht in Betracht kommen. Aus demselben Grund folgt der Einzelrichter auch nicht der Ansicht, wonach der Annahme des Vorsatzes entgegenstehe, dass die Vorschriften der VO (EG) 715/2007 nicht so klar formuliert seien, dass sich die Verwendung einer Abgasrückführung eindeutig als unzulässig darstellen müsste (vgl. OLG Nürnberg, Urteil vom 19.07.2019 - 5 U 1670/18, BeckRS 2019, 19559, Rz. 33). Eine Eindeutigkeit der Regelungen in der VO (EG) 715/2007 ist keine Voraussetzung für vorsätzliches Handeln.
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e. Gemäß § 249 Abs. 1 BGB schuldet die Beklagte dem Kläger die Rückzahlung des Kaufpreises, wobei im Wege der Vorteilsausgleichung der Wert der durch die Fahrzeugnutzung gezogenen Nutzungen in Abzug zu bringen ist. Die Berechnung erfolgt auf Basis einer geschätzten Gesamtlaufleistung von 300.000 km, die auch vom Kläger als zutreffend angesehen wird (vgl. zum Ansatz der Gesamtlaufleistung: MüKo-BGB/Gaier, Bd. 3 - 8. Aufl. 2019, § 346 Rn. 35). Der Tachostand betrug 98.000 km bei Übergabe und 196.746 km am Tag der letzten mündlichen Verhandlung. Der Kläger hat damit eine Laufleistung von 98.746 km bewirkt, wobei zum Zeitpunkt des Abschlusses des Kaufvertrags von einer Restlaufleistung von 202.000 km auszugehen ist. Im Wege der Vorteilsausgleichung sind daher 7.870,35 Euro anzurechnen.
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f. Die Beklagte schuldet den Schadensersatz nur Zugum-Zug gegen Übergabe und Übereignung des streitgegenständlichen Fahrzeugs.
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g. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 286, 288 BGB i.V.m. § 187 Abs. 1 BGB analog. Die Klage wurde der Beklagten am 16.02.2021 zugestellt.
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2. Der Feststellungsantrag ist begründet.
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Der auf Zugum-Zug-Verurteilung gerichtete Klageantrag Ziffer 1. stellt ein ordnungsgemäßes wörtliches Angebot i.S.d. § 295 S. 1 BGB dar (vgl. hierzu: BGH, Urteil vom 15.11.1996 - V ZR 292/95, BeckRS 9998, 44021). Die Beklagte ist dementsprechend jedenfalls mit Zustellung der Klageschrift in Annahmeverzug geraten.
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3. Der Kläger hat gegen die Beklagte aus §§ 826, 249, 257 S. 1 BGB einen Anspruch auf Freistellung von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 881,97 Euro.
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Als Gegenstandswert sind nicht 9.325,25 Euro, sondern 8.229,65 Euro zugrunde zu legen. Zudem ist lediglich eine 1,5 Geschäftsgebühr, nicht eine 2,5 Geschäftsgebühr, anzusetzen. Die Ausführungen der Klägervertreter (Bl. 32 d.A.) genügen lediglich, um eine Bemessung der Geschäftsgebühr im Umfang der Mittelgebühr nach billigem Ermessen annehmen zu können. Die Bestimmung der Mittelgebühr entspricht billigem Ermessen, wenn der Rechtsanwalt die Abrechnung - wie hier - auf eine Abwägung der einzelnen Bemessungskriterien stützt (BeckOKRVG/v. Seltmann, 41. Ed. - Stand 01.03.2021, § 14 Rn. 21). Allerdings liegen die Voraussetzungen für eine Überschreitung der Mittelgebühr nicht vor. Die maßgeblichen Rechtsfragen sind Gegenstand unzähliger Rechtsstreitigkeiten und Gerichtsentscheidungen, die Beteiligten verwenden standardisierte Schreiben und formularmäßige Textbausteinsteine in einer Vielzahl von Fällen. Der Umfang und Inhalt der Schriftsätze der Parteivertreter begründet deshalb keinen über die Mittelgebühr hinausgehenden besonderen Umfang i.S.d. Nr. 2300 VVRVG. Die besondere mediale Bedeutung der Diesel-Rechtsstreitigkeiten ändert daran nichts.
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III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 S. 1 Alt. 2 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht nach § 709 S. 1, S. 2 ZPO. Der Streitwert wurde nach § 3 ZPO festgesetzt.