Titel:
Nachbarklage gegen Baugenehmigung für Neubau eines Mehrfamilienhauses
Normenketten:
BayBO Art. 6, Art. 63
BauGB § 34 Abs. 1 S. 1
VwVfG Art. 37
Leitsätze:
1. Ob einem Bauvorhaben eine Zusammenlegung mehrerer bisher selbstständiger Flurnummern zugrunde liegt, ist unerheblich für die Beurteilung, ob das Gebot der Rücksichtnahme eingehalten wird. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Kläger kann sich auf einen Verstoß gegen Abstandsflächenvorschriften nicht berufen, wenn er selbst mit seinem Gebäude an der Grundstücksgrenze zum Nachbarn in quantitativ und qualitativ vergleichbarer Weise die Abstandsflächenvorschriften nicht einhält. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Baugenehmigung, Nachbarklage, Abstandsflächenvorschriften, Abweichung, Unbestimmtheit, Gebot der Rücksichtnahme, erdrückende Wirkung
Vorinstanz:
VG Regensburg, Urteil vom 19.05.2020 – RN 6 K 19.1137
Fundstelle:
BeckRS 2021, 4160
Tenor
I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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Der Kläger wendet sich als Grundstücksnachbar gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung für den „Neubau eines Mehrfamilienhauses (3 WE) mit Carport“ (Bescheid der Beklagten vom 27.5.2019).
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Das Bayerische Verwaltungsgericht Regensburg hat die gegen den Bescheid gerichtete Klage mit Urteil vom 19. Mai 2020 abgewiesen. Der Bescheid verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Das streitgegenständliche Bauvorhaben füge sich seiner Art nach in die durch Wohnbebauung und kleinere Gewerbebetriebe geprägte nähere Umgebung ein (§ 34 BauGB). Es liege auch kein Verstoß gegen das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme vor. Auch die dem beigeladenen Bauherrn erteilte Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften (Art. 63 Abs. 1 BayBO) verletze den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger sei schon nach den Grundsätzen von Treu und Glauben (§ 242 BGB) daran gehindert, sich auf eine etwaige Rechtswidrigkeit der erteilten Abweichung zu berufen, weil die Bebauung auf seinem Grundstück selbst eine - qualitativ und quantitativ vergleichbare - Abstandsflächenüberschreitung an derselben Grundstücksgrenze aufweise. Im Übrigen sei die erteilte Abweichung ohnehin rechtmäßig und mit den öffentlichen Belangen unter Würdigung der nachbarlichen Interessen vereinbar. Wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil Bezug genommen.
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Der Kläger wendet mit seiner vom Senat wegen eines Verfahrensfehlers des Verwaltungsgerichts (unzulässige Entscheidung ohne mündliche Verhandlung) zugelassenen Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts ein, die streitgegenständliche Baugenehmigung verstoße bereits gegen den Grundsatz der Bestimmtheit (Art. 37 BayVwVfG), weil aus ihr nicht hinreichend deutlich hervorgehe, dass ein Carport für zwei Pkw und sechs weitere Stellplätze errichtet (genehmigt) werden sollen. Der Beklagten hätten zudem „bis zuletzt nicht alle Pläne“ vorgelegen und die „Bezugnahmen“ (in der Genehmigung) seien deshalb „unklar“. Insoweit - wegen etwaiger fehlender aktueller Pläne - sei möglicherweise auch die Nachbarbeteiligung zu beanstanden. Das Bauvorhaben verstoße ferner gegen das Gebot der Rücksichtnahme, da es sich in die „Dimension der Umgebungsbebauung“ nicht einfüge. Aus der Baugenehmigung gehe nicht hinreichend deutlich hervor, dass dem Bauvorhaben eine „Grundstücksverschmelzung“ zugrunde liege, sodass ein Anbau an ein bestehendes Gebäude und somit ein „noch größeres Vorhaben“ entstehe. Das durch den „Anbau“ entstehende „Gesamtvorhaben“ habe „zulasten des klägerischen Nachbarwohnhauses erdrückende Wirkung“. Durch den „umfangreichen neuen Zu- und Abfahrtsverkehr“ und infolge der bestehenden „Parkplatzsituation“ könnten weitere unzumutbare Beeinträchtigungen („chaotische Verhältnisse“) entstehen. Die Beklagte habe - bei der Erteilung der Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften - auch ihr Ermessen „unzutreffend ausgeübt“. Es liege schon nicht die „erforderliche Atypik“ für die erteilte Abweichung vor. Die (über 100 Jahre alte) Nachbarbebauung stelle „keinen Bezugsfall für eine anzunehmende Atypik im Hinblick auf einen Neubau“ dar. Außerdem habe die Beklagte bei einem anderen Nachbargrundstück die Abstandsfläche des streitgegenständlichen Bauvorhabens „auf Normalmaß erhöht“ und damit gegen den Gleichheitssatz verstoßen. Sie habe auch ihre Entscheidung „lediglich schematisch begründet“ und ohne dabei zu berücksichtigen, dass die Abstandsfläche gerade im „Einfahrts- und Stellplatzbereich“ des streitgegenständlichen Vorhabens „zum Liegen“ komme. Das „neuere Abstandsflächenrecht“ sehe zudem „eine Verkürzung nicht mehr ohne weiteres“ vor. Auch sei der etwaige Abstandsflächenverstoß auf dem Grundstück des Klägers (anlässlich einer Dachstuhlerneuerung im Jahr 1995) „keineswegs quantitativ oder qualitativ mit dem jetzt streitgegenständlichen Neubau“ vergleichbar. Die Dachstuhlerneuerung sei seinerzeit zum Erhalt des klägerischen Gebäudes erforderlich gewesen und mit Zustimmung aller angrenzenden Nachbarn erfolgt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts müsse die Klage eines Nachbarn gegen ein Bauvorhaben schließlich stets dann erfolgreich sein, wenn die Baugenehmigung unter Befreiung (§ 31 BauGB) von nachbarschützenden Vorschriften erteilt wurde und die Baugenehmigung (objektiv) rechtswidrig sei. Dies sei vorliegend der Fall.
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unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 19. Mai 2020 den Bescheid der Beklagten vom 27. Mai 2019 aufzuheben.
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Die Beklagte beantragt unter Wiederholung und Vertiefung des erstinstanzlichen Vorbringens,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Aus den genehmigten Bauplänen gehe die Anzahl der Stellplätze klar hervor. Die genehmigten Pläne seien zudem (vollständig) in den Akten enthalten. Auf das klägerische Grundstück wirke sich nur der „Anbau“ aus, weil das Bestandsgebäude auf der vom Kläger abgewandten östlichen Seite des Baugrundstücks liege. Eine Betrachtung des „Gesamtvorhabens“ sei deshalb nicht angezeigt. Der Parkverkehr finde auf dem Baugrundstück selbst und nicht im öffentlichen Straßenraum statt, sodass der zusätzliche Zu- und Abfahrtsverkehr eine Rücksichtslosigkeit des Bauvorhabens nicht zu begründen vermöge. Im Übrigen sei die Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften zu Recht erteilt worden. Die Beklagte habe ihr Ermessen korrekt ausgeübt.
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Der Beigeladene stellt im Berufungsverfahren keinen Antrag.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Berufung ist unbegründet.
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1. Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen, da der Kläger durch die dem Beigeladenen erteilte streitgegenständliche Baugenehmigung nicht in seinen Rechten verletzt ist (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Senat folgt den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 130b Satz 2 VwGO). Lediglich ergänzend ist im Hinblick auf die Berufungsbegründung noch auszuführen:
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a) Der Einwand des Klägers, die streitgegenständliche Baugenehmigung verstoße im Hinblick auf die Stellplätze gegen den Grundsatz der Bestimmtheit (Art. 37 BayVwVfG) greift schon deshalb nicht durch, weil aus den mit einem Genehmigungsvermerk der Beklagten versehenen Bauplänen (insbesondere „Grundrisse, Ansichten“) Lage und Zahl der genehmigten (12) Stellplätze klar hervorgeht. Sonstige Unklarheiten können auch nicht im Hinblick darauf bestehen, dass auf Anforderung der Beklagten einzelne Bauvorlagen vom Bauherrn (Beigeladenen) während des Baugenehmigungsverfahrens nachgereicht (korrigiert) worden sind. Die Baugenehmigung bezieht sich ausweislich des angefochtenen Bescheids nur auf die „mit Genehmigungsvermerk versehenen Pläne“. Die Beklagte hat die Nachbarbeteiligung im Übrigen ordnungsgemäß durchgeführt. Der Kläger hat seine im gerichtlichen Verfahren wiederholten Einwände deshalb auch bereits während des Baugenehmigungsverfahrens vorgetragen.
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b) Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Urteil ausführlich begründet, weshalb das Bauvorhaben nicht gegen das nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme verstößt und sich dabei auch mit der vom Kläger angesprochenen „Dimension der Umgebungsbebauung“, dem „Gesamtvorhaben“ und der vom Kläger befürchteten „erdrückenden Wirkung“ sowie dem „Zu- und Abfahrtsverkehr“ und der Parkplatzsituation“ auseinandergesetzt. Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Bewertung ist vom Senat nicht zu beanstanden, zumal sich im Berufungsverfahren neue Erkenntnisse hierzu nicht ergeben haben. Der Umstand, dass dem Bauvorhaben eine „Grundstücksverschmelzung“ (Zusammenlegung mehrerer bisher selbstständiger Flurnummern) zugrunde liegt, ist dabei für die Beurteilung, ob das Gebot der Rücksichtnahme eingehalten ist oder nicht, entgegen der Ansicht des Klägers unerheblich.
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c) Das Verwaltungsgericht hat im angefochtenen Urteil ebenfalls zutreffend ausgeführt, dass der Kläger sich auf den gerügten „Verstoß“ gegen Abstandsflächenvorschriften schon deshalb nicht berufen kann, weil er selbst mit seinem Wohngebäude an der Grundstücksgrenze zum Nachbarn (Beigeladenen) in quantitativ und qualitativ vergleichbarer Weise die Abstandsflächenvorschriften nicht einhält. Auf den vom Kläger geltend gemachten Umstand, dass er seinerzeit sein Wohngebäude (im Rahmen der Dachstuhlerneuerung) „mit Zustimmung aller angrenzenden Nachbarn“ auf die gegenwärtige Wandhöhe geändert hat und dies zum Erhalt des klägerischen Gebäudes erforderlich gewesen sei, kommt es dabei nicht an. Die dem Beigeladenen ordnungsgemäß erteilte Abweichung von den Abstandsflächenvorschriften (Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO) ist im Übrigen - wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausführt - auch deshalb nicht zu beanstanden, weil sie unter Berücksichtigung des Zwecks der Abstandsflächenvorschriften und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen vereinbar ist. Entgegen der Ansicht des Klägers hat die Beklagte bei der Erteilung der Abweichung ihr Ermessen weder „unzutreffend ausgeübt“ noch ihre Entscheidung „lediglich schematisch begründet“. Sie hat sich mit den vom Kläger im Baugenehmigungsverfahren vorgebrachten Einwänden vielmehr auch insoweit substantiiert auseinandergesetzt und ihre Entscheidung zur Erteilung der Abweichung ausführlich begründet. Entgegen der Ansicht des Klägers kommt es in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob der Beigeladene sein Bauvorhaben anders hätte planen können. Ein Verstoß gegen den „Gleichheitssatz“ liegt jedenfalls nicht darin, dass das Bauvorhaben nach Ansicht des Klägers im Verhältnis zu einem anderen Nachbargrundstück die erforderliche Abstandsfläche einhalte. Unerheblich ist auch, ob die erforderliche Abstandsfläche im „Einfahrts- und Stellplatzbereich“ des streitgegenständlichen Vorhabens „zum Liegen“ kommt oder nicht. Ebenso wenig ist das „neuere Abstandsflächenrecht“ (gültig ab 1.2.2021) von Bedeutung, das ohnehin unverändert die Möglichkeit einer Abweichung von den nunmehr geltenden - die Abstandsflächen zudem grundsätzlich verkürzenden - Abstandsflächenvorschriften vorsieht (Art. 63 Abs. 1 Satz 1 BayBO).
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2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten billigerweise selbst, weil er keinen Antrag gestellt und sich damit auch keinem Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat (vgl. § 154 Abs. 3, § 162 Abs. 3 VwGO). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO, §§ 708 ff. ZPO.
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3. Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der Gründe des § 132 Abs. 2 VwGO vorliegt.