Inhalt

VG München, Urteil v. 29.07.2021 – M 10 K 19.4096
Titel:

Kein Erlass von Aussetzungszinsen

Normenkette:
AO § 37, § 163, § 175a, § 234 Abs. 2, § 237 Abs. 4, Abs. 5, § 277
Leitsätze:
1. Sofern § 234 Abs. 2 AO iVm § 237 Abs. 4 AO einen Verzicht auf Zinsen ganz oder zum Teil zulässt, wenn ihre Erhebung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre, decken sich die Voraussetzungen der Unbilligkeit dabei mit den Voraussetzungen der sachlichen und persönlichen Unbilligkeit nach § 163, § 277 AO. (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein internationales Verständigungsverfahren stellt kein Rechtsbehelfsverfahren iSd § 237 Abs. 5 AO dar, weil es neben dem nationalen Rechtsbehelfsverfahren geführt werden kann. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Anspruch auf Erlass bzw. Verzicht von Aussetzungszinsen besteht auch dann nicht, wenn das Gerichtsverfahren über die streitige Steuerfestsetzung nicht innerhalb angemessener Zeit abgeschlossen ist.(Rn. 48 – 52) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verzicht auf Aussetzungszinsen, Sachliche Unbilligkeit (abgelehnt), Änderung der Gewerbesteuerfestsetzung nach internationalem Verständigungsverfahren, Aussetzungszinsen, sachliche Unbilligkeit, Gewerbesteuerfestsetzung, internationales Verständigungsverfahren, Gewerbesteuerbescheid, Nachzahlungszinsen
Fundstelle:
BeckRS 2021, 40901

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
IV. Die Berufung wird zugelassen.   

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt den Verzicht der Beklagten auf festgesetzte Aussetzungszinsen betreffend die Gewerbesteuerveranlagung der Jahre 2001 bis 2003.
2
Der Kläger war im streitgegenständlichen Zeitraum Inhaber eines IT-Dienstleistungsunternehmens mit Betriebsstätte im Stadtgebiet der Beklagten. Er war dabei auch in Österreich und der Schweiz tätig.
3
Mit drei Gewerbesteuermessbescheiden vom 13. November 2008 setzte das Finanzamt … gegenüber dem Kläger den Gewerbesteuermessbetrag für das Jahr 2001 auf 2.349,39 EUR, für 2002 auf 6.220,- EUR und für 2003 auf 5.605,- EUR fest.
4
Mit drei Gewerbesteuerbescheiden vom 17. November 2008 setzte die Beklagte gegenüber dem Kläger Gewerbesteuer für das Jahr 2001 i.H.v. 8.222,60 EUR, für 2002 i.H.v. 21.770,- EUR und für 2003 i.H.v. 19.617,50 EUR fest. Mit weiteren drei Bescheiden vom 17. November 2008 setzte die Beklagte Nachzahlungszinsen zur Gewerbesteuer für 2001 i.H.v. 2.747,- EUR, für 2002 i.H.v. 5.981,- EUR und für 2003 i.H.v. 4.214,- EUR fest.
5
Gegen die Gewerbesteuermessbescheide erhob der Kläger Einspruch und beantragte jeweils die Aussetzung der Vollziehung.
6
Mit Bescheid vom 11. Dezember 2008 setzte das Finanzamt … die Vollziehung der Gewerbesteuermessbescheide für 2001 bis 2003 aus (BA Bl. 66, 202).
7
Mit Bescheiden vom 19. Januar 2009 setzte die Beklagte die Vollziehung der Gewerbesteuerforderungen 2001 bis 2003 sowie der Nachzahlungszinsforderungen 2001 bis 2003 aus (BA Bl. 67, 69, 130, 132, 203, 204).
8
Mit Bescheid vom 23. Mai 2012 wurde der Einspruch gegen die Gewerbesteuermessbescheide vom Finanzamt … zurückgewiesen (BA Bl. 209).
9
Mit weiterem Bescheid vom 23. Mai 2012 erhöhte das Finanzamt … den Gewerbesteuermessbetrag für 2001 auf 3.622,50 EUR.
10
Mit Bescheiden vom 31. Mai 2012 erhöhte die Beklagte die Gewerbesteuer für das Jahr 2001 auf 12.678,51 EUR und setzte für diese Gewerbesteuernachforderung Nachzahlungszinsen i.H.v. 2.447,50 EUR fest (BA Bl. 75, 77).
11
Aufgrund der ergangenen Einspruchsentscheidung setzte die Beklagte mit weiteren Bescheiden vom 31. Mai 2012 gegenüber dem Kläger für die Aussetzung der Gewerbesteuerforderung 2001 Aussetzungszinsen i.H.v. 1.722,- EUR, für die Aussetzung der Nachzahlungszinsen zur Gewerbesteuer 2001 Aussetzungszinsen i.H.v. 567,- EUR, für die Aussetzung der Gewerbesteuerforderung 2002 Aussetzungszinsen i.H.v. 4.567,- EUR, für die Aussetzung der Nachzahlungszinsen zur Gewerbesteuer 2002 Aussetzungszinsen i.H.v. 1.249,- EUR, für die Aussetzung der Gewerbesteuerforderung 2003 Aussetzungszinsen i.H.v. 4.116,- EUR und für die Aussetzung der Nachzahlungszinsen 2003 Aussetzungszinsen i.H.v. 882,- EUR fest.
12
Nach Zurückweisung des Einspruchs erhob der Kläger Klage gegen die Gewerbesteuermessbescheide für die Jahre 2001 bis 2003 und beantragte erneut die Aussetzung der Vollziehung.
13
Mit Schreiben vom 28. Juni 2012 erhob der Kläger Widerspruch gegen sämtliche Bescheide der Beklagten vom 31. Mai 2012 und beantragte bei der Beklagten die Aussetzung der Vollziehung (BA Bl. 219).
14
Mit Bescheid vom 17. Juli 2012 setzte das Finanzamt … die Vollziehung der Gewerbesteuermessbeträge für 2001 bis 2003 erneut aus (BA Bl. 221).
15
Mit Bescheiden vom 10. August 2012 setzte die Beklagte die Vollziehung der Gewerbesteuer 2001 bis 2003, sowie der Nachzahlungszinsforderungen 2001 bis 2003 aus (BA Bl. 91, 93, 152, 154, 222, 224).
16
Mit Urteil vom 28. Oktober 2014 wies das Finanzgericht München die Klage gegen die Gewerbesteuermessbescheide ab (BA Bl. 229).
17
Mit Bescheiden vom 5. Dezember 2014 setzte die Beklagte für die Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuer 2001 Aussetzungszinsen i.H.v. 3.619,- EUR, für die Aussetzung der Vollziehung der Nachzahlungszinsen 2001 Aussetzungszinsen i.H.v. 1.332,- EUR, für die Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuer 2002 Aussetzungszinsen i.H.v. 7.830,- EUR, für die Aussetzung der Vollziehung der Nachzahlungszinsen 2002 Aussetzungszinsen i.H.v. 2.142,- EUR, für die Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuer 2003 Aussetzungszinsen i.H.v. 7.056,- EUR und für die Aussetzung der Vollziehung der Nachzahlungszinsen 2003 Aussetzungszinsen i.H.v. 1.512,- EUR fest.
18
Mit Schriftsatz vom 11. Dezember 2014 legte der Kläger Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts München vom 28. Oktober 2014 ein (BA Bl. 103). Diese verwarf der Bundesfinanzhof mit Beschluss vom 27. Januar 2016 (BA Bl. 275).
19
Am 28. Februar 2017 wurde ein Verständigungsverfahren zwischen Deutschland und der Schweiz durchgeführt.
20
Mit Gewerbesteuermessbescheid vom 10. Mai 2017 setzte das Finanzamt … den Gewerbesteuermessbetrag für das Jahr 2003 auf 0 EUR herab. In der an die Beklagte hierzu ergangenen Mitteilung wird unter „Erläuterungen“ ausgeführt, dass die Änderung Ergebnis des Verständigungsverfahrens Deutschland - Schweiz vom 28. Februar 2017 sei. Diese vom Bundeszentralamt für Steuern erzielte Einigung sei für die Finanzverwaltung bindend, unabhängig von der bisher vertretenen, selbst gerichtlich bestätigten, gegenteiligen rechtlichen Auffassung (vgl. § 175a Abgabenordnung (AO); BA Bl. 276).
21
Mit Gewerbesteuerbescheid vom 15. Mai 2017 setzte die Beklagte die Gewerbesteuer 2003 auf 0 EUR herab.
22
Am 20. November 2018 wurde ein Verständigungsverfahren zwischen Deutschland und Österreich durchgeführt (vgl. GA Bl. 96).
23
Mit zwei Gewerbesteuermessbescheiden vom 20. März 2019 setzte das Finanzamt … den Gewerbesteuermessbetrag für die Jahre 2001 und 2002 auf 0 EUR herab. In der an die Beklagte hierzu ergangenen Mitteilung wird unter „Erläuterungen“ ausgeführt, dass die Änderung Ergebnis des Verständigungsverfahrens Deutschland - Österreich vom 20. November 2018 sei. Diese vom Bundeszentralamt für Steuern erzielte Einigung sei für die Finanzverwaltung bindend, unabhängig von der bisher vertretenen, selbst gerichtlich bestätigten, gegenteiligen rechtlichen Auffassung (vgl. § 175a AO; BA Bl. 44, 112).
24
Mit zwei Gewerbesteuerbescheiden vom 27. März 2019 setzte die Beklagte die Gewerbesteuer 2001 und 2002 auf 0 EUR herab.
25
Mit Schreiben vom 12. April 2019 erhob der Kläger Widerspruch gegen die Bescheide vom 27. März 2019 und forderte die Beklagte unter anderem zur Rückzahlung aller gezahlten Beträge für 2001 und 2002 auf.
26
Mit Schreiben vom 8. Mai 2019 führte der Kläger unter anderem aus, dass es für ihn erstaunlich sei, dass das Finanzamt die § 227 und § 37 AO kenne, diese dem ersten Bürgermeister der Beklagten sicher auch bekannt seien und dieser dem Kläger diese Rechtsauffassung bewusst vorenthalten wolle. Zudem forderte er die Beklagte erneut auf, ihm alle noch nicht erstatteten Beträge, die im Rahmen der Gewerbesteuer 2001 bis 2003 vollstreckt worden seien, zu erstatten.
27
Das Schreiben vom 8. Mai 2019 wertete die Beklagte als Antrag auf Verzicht auf die festgesetzten Aussetzungszinsen wegen sachlicher Unbilligkeit gemäß § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO und lehnte diesen mit Bescheid vom 15. Juli 2019 ab.
28
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass eine sachliche Unbilligkeit vorliegen könne, wenn der ursprünglich angesetzte Messbetrag nach Abschluss des Einspruchs- bzw. Klageverfahrens auf 0 EUR gesetzt werde und somit den Aussetzungszinsen gewissermaßen die Grundlage entzogen würde. Dem stehe jedoch der Wortlaut des § 237 Abs. 5 AO entgegen, wonach eine Aufhebung oder Änderung eines Bescheids über Zinsen für die Aussetzung der Vollziehung nach Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens nicht mehr möglich sei. Durch die Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde mit Beschluss vom 27. Januar 2016 durch den Bundesfinanzhof sei das Urteil des Finanzgerichts München rechtskräftig geworden. Damit hätte der Rechtsbehelf endgültig keinen Erfolg gehabt und das Rechtsbehelfsverfahrens sei beendet. Das durchgeführte Verständigungsverfahren sei nach allgemein herrschender Meinung kein Rechtsbehelfsverfahrens. Laut Merkblatt des Bundesfinanzministeriums zum internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 9. Oktober 2018 seien internationale Verständigungs- und Schiedsverfahren zwischenstaatliche Verfahren zur übereinstimmenden Anwendung der Doppelbesteuerungsabkommen und des Übereinkommens vom 23. Juli 1990 über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen. Im Gegensatz zu einem Rechtsbehelf seien sie demnach kein rechtliches Mittel zur Anfechtung einer behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung. Die Regelung in § 237 Abs. 5 AO, wonach ein Aussetzungszinsbescheid aufrechterhalten bleibe, auch wenn der zugrunde liegende Steuerbescheid nach Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens aufgehoben, geändert oder berichtigt werde, stelle den Steuerschuldner weiterhin so, wie er stehen würde, wenn er keinen Rechtsbehelf eingelegt hätte, sondern ausschließlich das Verständigungsverfahren durchgeführt worden sei. Es werde insoweit lediglich auf den erlangten Zinsvorteil durch die Aussetzung der Vollziehung abgestellt, der seine Ursache allein im erfolglosen Rechtsbehelf habe, denn ohne Rechtsbehelf hätte die festgesetzte Steuer zunächst in voller Höhe entrichtet werden müssen (OVG Bautzen, B.v. 29.4.2014 - 5 A 136/11 - juris Rn. 12). Durch die ausdrückliche gesetzliche Regelung in § 237 Abs. 5 AO scheide eine sachliche Unbilligkeit aus.
29
Mit Schriftsatz vom 12. August 2019 hat der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2019:
30
1. Der Bescheid vom 15. Juli 2019 wird aufgehoben.
31
2. Die Beklagte wird verpflichtet, den Erlass der Aussetzungszinsen in Höhe von insgesamt 36.594,- EUR für die Veranlagungsjahre 2001 bis 2003 auszusprechen.
32
Zur Begründung wird ausgeführt, dass nach §§ 237 Abs. 4, 234 Abs. 2 AO Aussetzungszinsen erlassen werden könnten, wenn deren Erhebung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Ein Verzicht auf die Zinsfestsetzung aus Gründen der sachlichen Unbilligkeit komme danach in Betracht, wenn die Erhebung der Zinsen im Einzelfall mit Rücksicht auf den § 237 AO zugrundeliegenden Zweck nicht mehr zu rechtfertigen sei bzw. den gesetzlichen Wertungen zuwiderlaufe. Sinn und Zweck der in § 237 AO enthaltenen Regelungen der Verzinsungspflicht sei es, den Nutzungsvorteil wenigstens zum Teil auszuschöpfen, den der Steuerpflichtige dadurch erhalte, dass er während der Dauer der Aussetzung über eine Geldsumme verfügen könne, die nach dem im geforderten Steuerbescheid konkretisierten materiellen Recht an sich dem Steuergläubiger zustehe. Unter dem Gesichtspunkt eines gerechten Ausgleichs zwischen den Geldnutzungsinteressen des Steuergläubigers und denen des Steuerpflichtigen sei es daher für den Regelfall angemessen, die Entscheidung über die Festsetzung von Aussetzungszinsen als automatische Folge des Verfahrensausgangs über die Steuerfestsetzung auszugestalten. Nur wenn die im Einzelfall maßgebliche materielle Rechtslage ausnahmsweise so beschaffen sei, dass der Ausgang des Rechtsbehelfsverfahrens nicht mehr als Abbild der materiellen Rechtslage aufgefasst werden könne, sei der vom Gesetz gedeckte Regelfall nicht mehr gegeben und eine Einzelfallkorrektur geboten. Die Gewerbesteuerbescheide des Klägers seien nach Durchführung der Verständigungsverfahren auf 0 EUR festgesetzt. Der ursprünglich festgesetzte Geldbetrag habe der Beklagten daher nicht zugestanden. Der Ausgang des Rechtsbehelfsverfahrens weiche derart von der materiellen Rechtslage ab, dass ausnahmsweise eine Korrektur durch Zinsverzicht geboten sei. Der Kläger habe keinen Liquiditätsvorteil erlangt. § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO eröffne die Möglichkeit, über die Grenzen der Rechtsfortbildung hinaus atypische Sachverhalte durch Fortschreibung der im Gesetz enthaltenen Wertungen zu berücksichtigen und damit Unzulänglichkeiten des Gesetzgebers auszugleichen. Diese Möglichkeit habe die Beklagte weder erkannt, noch bei ihrer Entscheidung von dem ihr eingeräumten Ermessen Gebrauch gemacht. Es liege somit ein Ermessensnichtgebrauch und damit eine fehlerhafte Entscheidung vor. Darüber hinaus sei das Ermessen der Beklagten auf Null reduziert. Daher sei gem. § 101 Satz 1 FGO die Verpflichtung zum Erlass der Aussetzungszinsen auszusprechen.
33
Mit Schriftsatz vom 29. August 2019 beantragt die Beklagte:
34
Die Klage wird abgewiesen.
35
Zur Begründung wird ausgeführt, dass aufgrund der fehlenden Tatbestandsvoraussetzungen für eine Ermessenausübung kein Raum bleibe. Im Übrigen werde auf die übersandten Akten verwiesen.
36
In der mündlichen Verhandlung am 29. Juli 2021 trug die Klägerbevollmächtigte weiter vor, dass die Anträge auf Durchführung von Verständigungsverfahren mit Österreich und der Schweiz bereits am 5. Oktober 2011 beim Finanzamt … gestellt worden seien. Infolge der verzögerten Bearbeitung dieser Verfahrensanträge seien die Aussetzungszinsen über einen längeren Zeitraum aufgelaufen.
37
Hinsichtlich des übrigen Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

38
A. Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg.
39
Der Kläger hat keinen Anspruch auf den begehrten Verzicht der Beklagten auf die festgesetzten Aussetzungszinsen betreffend die Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuer 2001 bis 2003 sowie der Aussetzung der insoweit festgesetzten Nachzahlungszinsen, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
40
Rechtsgrundlage für den begehrten Verzicht wären § 237 Abs. 4 i.V.m. § 234 Abs. 2 AO, die in Bezug auf Billigkeitsmaßnahmen betreffend Aussetzungszinsen speziellere Regelungen gegenüber §§ 163, 277 AO darstellen (vgl. Koenig in ders., AO, 4. Aufl. 2021, § 234 Rn. 18 mit Verweis auf BFH, U.v. 18.4.1996 - V R 55/95 - BeckRS 1996, 22011790; vgl. BFH, U.v. 31.3.2010 - II R 2/09 - juris). Die Voraussetzungen für einen Verzicht liegen jedoch nicht vor, sodass der Beklagten insoweit kein Ermessen eröffnet wurde.
41
Gemäß § 234 Abs. 2 AO, auf den § 237 Abs. 4 AO verweist, kann auf Zinsen ganz oder zum Teil verzichtet werden, wenn ihre Erhebung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Die Voraussetzungen der Unbilligkeit decken sich dabei mit den Voraussetzungen der sachlichen und persönlichen Unbilligkeit nach §§ 163, 277 AO (Koenig, a.a.O.; BFH, U.v. 31.3.2010, a.a.O. Rn. 14).
42
I. Sachliche Unbilligkeitsgründe sind demnach gegeben, wenn nach dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers angenommen werden kann, dass er die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage - hätte er sie geregelt - im Sinne der beabsichtigten Billigkeitsmaßnahme entschieden hätte, weil die Geltendmachung des dem Gesetzeswortlaut entsprechenden Anspruchs nicht oder nicht mehr zu rechtfertigen ist oder dessen Wertungen zuwiderläuft (Klüger in Koenig, AO, 4. Aufl. 2021, § 227 AO Rn. 13 m.w.N.).
43
Es ist nicht davon auszugehen, dass die streitgegenständliche Heranziehung des Klägers zu Aussetzungszinsen dem Willen des Gesetzgebers zuwiderläuft.
44
1. Wie die Beklagte zutreffend ausführt, steht dem die Regelung des § 237 Abs. 5 AO entgegen. Danach ist ein Zinsbescheid nicht aufzuheben oder zu ändern, wenn der Steuerbescheid nach Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens aufgehoben, geändert oder nach § 129 AO berichtigt wird. Damit hat der Gesetzgeber ausdrücklich bestimmt, dass es in den genannten Fällen bei den festgesetzten Aussetzungszinsen verbleiben soll, auch wenn der Steuerpflichtige nach Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens sein Ziel der Herabsetzung der Steuerfestsetzung ganz oder teilweise erreicht.
45
Vorliegend wurden sowohl die die Steuerjahre 2001 bis 2003 betreffenden Gewerbesteuermessbeträge als auch die sich daraus ergebende Gewerbesteuer nach Durchführung von internationalen Verständigungsverfahren auf 0 EUR herabgesetzt. Die Pflicht zur Anpassung der Gewerbesteuermessbescheide an das Ergebnis der Verständigung ergab sich dabei aus § 175a AO.
46
Die Herabsetzung der Gewerbesteuermessbeträge sowie der Gewerbesteuer erfolgte dabei nach Abschluss des Rechtsbehelfsverfahrens i.S.v. § 237 Abs. 5 AO. Der Kläger hat den eröffneten Rechtsweg in Bezug auf die Gewerbesteuermessbescheide durchlaufen. Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Finanzgerichts München vom 28. Oktober 2014 wurde durch den Bundesfinanzhof zurückgewiesen. Rechtsbehelfsverfahren i.S.v. § 237 Abs. 1 Satz 2 AO und damit in diesen Fällen auch i.S.v. § 237 Abs. 5 AO ist das Rechtsbehelfsverfahren gegen die Gewerbesteuermessbescheide (vgl. Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, 156. Lfg, April 2019, § 237 Rn. 5 mit Verweis auf BFH, U.v. 31.8.2011 - X R 49/09 - BFHE 235, 107, BStBl II 2012, 219). Anlass für die erfolgte Aussetzung der Vollziehung der Gewerbesteuerbescheide sowie der Nachzahlungszinsbescheide war vorliegend jeweils die durch das Finanzamt erfolgte Aussetzung der Gewerbesteuermessbescheide aufgrund der gegen diese geführten Rechtsbehelfsverfahren (vgl. Begründung der Aussetzungsbescheide der Beklagten vom 19.1.2009 und 10.8.2012). Weil Klage- und Beschwerdeverfahren gegen die Gewerbesteuermessbescheide ohne Erfolg geblieben sind, waren nach § 237 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 AO auch für die Aussetzung der Gewerbesteuerbescheide sowie der festgesetzten Nachzahlungszinsen Aussetzungszinsen zu erheben. Die erfolgte Herabsetzung der Gewerbesteuermessbeträge aufgrund des durchgeführten Verständigungsverfahrens erfolgte nach der Zurückweisung der Beschwerde durch den Bundesfinanzhof und damit nach Abschluss des maßgeblichen Rechtsbehelfsverfahrens.
47
Die durchgeführten Verständigungsverfahren stellen dagegen keine Rechtsbehelfsverfahren im Sinne des § 237 Abs. 5 AO dar. Das Verständigungsverfahren und das nationale Rechtsbehelfsverfahren sind nebeneinander möglich (vgl. Nr. B.2.1.5 des Merkblatts des Bundesministeriums für Finanzen zum internationalen Verständigungs- und Schiedsverfahren auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 9. Oktober 2018; Art. 25 Abs. 1 des Gesetzes zu dem Abkommen vom 24. August 2000 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 26. März 2002: „unbeschadet der nach dem innerstaatlichen Recht dieser Staaten vorgesehenen Rechtsmittel“ und die im Wesentlichen wortgleiche Regelung in Art. 25 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen in der Fassung des Protokolls vom 27. Oktober 2010). Zudem ist die Umsetzung der Verständigungslösung durch die für die Steuerfestsetzung zuständige Behörde nicht die zwingende Folge des durchgeführten Verständigungsverfahrens, sondern erfordert eine Mitwirkung des Steuerpflichtigen (vgl. Nr. B.4.2 des Merkblatts vom 9. Oktober 2018).
48
2. Eine sachliche Unbilligkeit folgt auch nicht aus dem Umstand, dass die Anträge auf Durchführung des Verständigungsverfahrens mit Österreich und der Schweiz nach Vortrag der Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung bereits am 5. Oktober 2011 beim Finanzamt … gestellt wurden. Dass eine schnellere Bearbeitung der Anträge auf Durchführung eines Verständigungsverfahrens unter Umständen zu einem schnelleren Abschluss des Verständigungsverfahrens und damit zu einer früheren Herabsetzung des Gewerbesteuermessbetrags hätte führen können, begründet keine Unbilligkeit der festgesetzten Aussetzungszinsen.
49
Mit der Festsetzung von Aussetzungszinsen soll der Vorteil ausgeglichen werden, der dem Steuerpflichtigen dadurch entstanden ist, dass ihm der geschuldete Betrag für die Dauer des Rechtsbehelfsverfahrens weiter zur Verfügung stand, obwohl sich die angegriffene Festsetzung zum Zeitpunkt der Entscheidung über den jeweiligen Rechtsbehelf als rechtmäßig erwies (zu Sinn und Zweck der Aussetzungszinsen: BFH, U.v. 20.9.1995 - X R 86/94 - BFHE 178, 555, BStBl II 1996, 53 Rn. 13; U.v. 12.12.2007 - XI R 25/07 - juris Rn. 21). Dieser Vorteil ist auch dem Kläger während des Einspruchs- und Klageverfahrens zweifelsfrei entstanden.
50
Nach Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs besteht auch dann kein Anspruch auf Erlass bzw. Verzicht der Aussetzungszinsen, wenn das Gerichtsverfahren über die streitige Steuerfestsetzung nicht innerhalb angemessener Zeit abgeschlossen worden ist, denn auch bei einer überlangen Verfahrensdauer bestand der Vorteil für den Steuerpflichtigen während des gesamten Zeitraums (vgl. BFH, U.v. 21.2.1991 - V R 105/84 - BFHE 163, 313, BStBl II 1991, 498; B.v. 13.9.1991 - IV B 105/90 - BFHE 165, 469, 475, BStBl II 1992, 148). Der durch die Verzinsung bezweckte Vorteilsausgleich behält danach auch dann seinen Sinn, wenn staatliche Stellen für Entstehung und Höhe des Zinsanspruchs (mit-)verantwortlich sind (BFH, U.v. 20.9.1995 - X R 86/94 - BFHE 178, 555, BStBl II 1996, 53 Rn. 13).
51
Gegen eine aus seiner Sicht verzögerte Bearbeitung der Anträge auf Durchführung der Verständigungsverfahren durch das Finanzamt hätte der Kläger zudem Rechtsschutz suchen und so bei Erfolg einen früheren Abschluss des Verständigungsverfahrens herbeiführen können. Ein Ausgleich über die Verpflichtung der Beklagten zum Verzicht auf ihr zustehende Aussetzungszinsen ist auch aus diesem Grund nicht angezeigt (vgl. Oosterkamp in Pfirrmann/Rosenke/Wagner, BeckOK AO, 18. Edition, Stand: 5.10.2021, § 237 Rn. 32).
52
Für den Kläger wäre es zudem möglich gewesen, die Aussetzung der Vollziehung nicht zu beantragen, die festgesetzte Gewerbesteuer sowie die festgesetzten Nachzahlungszinsen zu den jeweiligen Fälligkeitszeitpunkten zu bezahlen und so das Entstehen von Aussetzungszinsen zu verhindern. Im Hinblick auf Umstände, die im Rahmen des Verständigungsverfahrens zu berücksichtigen sind, jedoch nicht zum Erfolg von Einspruch und Klage führen, hätte sich gerade diese Möglichkeit angeboten.
53
II. Gründe für eine persönliche Unbilligkeit sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
54
B. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung fußt auf § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
55
C. Die Berufung ist wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO.