Titel:
Schadensersatz aus nichtigem Wettbewerbsverbot als steuerpflichtiges Einkommen
Normenketten:
EStG § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, § 19 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Nr. 2, § 24 Nr. 1 lit. b, § 38 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 S. 1, § 41a
LStDV § 2 Abs. 2 Nr. 4
ZPO § 767 Abs. 1, § 794 Abs. 1 Nr. 1, § 797
BGB § 371
Leitsätze:
1. Bei einem Prozessvergleich handelt es sich nicht um eine gerichtliche Urkunde iSv § 797 ZPO (entgegen OLG München BeckRS 9998, 116075). (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der in einem Prozessvergleich geregelte Schadensersatzanspruch des ausgeschiedenen Vorstands wegen entgangenen Gewinns aufgrund einer nichtigen nachvertraglichen Wettbewerbsklausel zählt zu den steuerpflichtigen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit im Sinne des § 2 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 EStG (Abgrenzung von OLG Hamm BeckRS 2016, 95520). (Rn. 19 – 20) (redaktioneller Leitsatz)
3. Im Rahmen der Vollstreckungsgegenklage gegen eine in einem Prozessvergleich titulierte Forderung kann auch die Herausgabe des Titels analog § 371 BGB beantragt werden. (Rn. 27 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Prozessvergleich, Schadensersatz, nichtiges Wettbewerbsverbot, Vorstand, steuerpflichtige Einkünfte, Lohnsteuer, Vollstreckungsgegenklage, Titelherausgabe
Vorinstanz:
LG München I, Beschluss vom 12.05.2020 – 5 HK O 7491/19
Rechtsmittelinstanz:
OLG München, Endurteil vom 15.12.2021 – 7 U 2770/21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 39820
Tenor
I. Die Zwangsvollstreckung aus dem gerichtlichen Vergleich gemäß Beschluss des Landgerichts München I vom 12.5.2020, Az. 5HK O 7491/19 wird für unzulässig erklärt.
II. Der Beklagte wird verurteilt, die ihm erteilte vollstreckbare Ausfertigung des unter Ziffer I. genannten Vergleichsbeschlusses an die Klägerin herauszugeben.
III. Der Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
IV. Das Urteil ist in Ziffer I. vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von € 30.965,30 und in Ziffer III. in Höhe von 105 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten im Rahmen der Zwangsvollstreckung um den Umfang der Erfüllung des in einem gerichtlichen Vergleich titulierten Zahlungsanspruchs.
2
I. Der Beklagte war in der Zeit vom 1.5.2016 bis zum 31.12.2018 zum Vorstand der Klägerin bestellt. Der zwischen den Parteien abgeschlossene Vorstandsdienstvertrag enthielt ein nachvertragliches Wettbewerbsverbot, das mit Urteil des Landgerichts München I vom 31.10.2018, Az. 5HK O 18492/17 als nichtig eingestuft wurde. Im Rahmen eines auf Schadensersatz wegen entgangener Einkünfte aus anderweitiger Tätigkeit gerichteten Verfahrens vor dem Landgericht München I, Az. 5HK O 7491/19 schlossen die Parteien mit umgekehrten Parteirollen einen am 12.5.2020 gemäß § 278 Abs. 6 ZPO festgestellten Vergleich (Anlage K 1), der im Wesentlichen folgende Vereinbarungen enthielt:
„1. Die Beklagte [scil.: H1. AG] zahlt an den Kläger [scil.: … M…] einen Betrag von € 80.000,-.
2. Mit diesem Vergleich sind sämtliche wechselseitigen Ansprüche der Parteien abgegolten, soweit diese darüber verfügen können.“
3
Nachdem der Prozessbevollmächtigte des Beklagten mit E-Mail vom 5.6.2020 (Anlagenkonvolut K 3) die Frage an die Prozessbevollmächtigten der Klägerin gerichtet hatte, wann mit einer Abrechnung und Auszahlung des Vergleichsbetrags durch die Klägerin gerechnet werden könne, teilte der Prozessbevollmächtigte der Beklagten in einem an die Prozessbevollmächtigten der Klägerin adressierten Schreiben vom 22.6.2020 (Anlagenkonvolut K 3) im Wesentlichen folgendes mit:
„Sehr geehrter Herr Kollege Dr. S…, wie bedauern diesen Schritt gehen zu müssen, aber ihre Mandantin hat bis heute keine Zahlungen geleistet. Wir haben deshalb mit gleicher Post vollstreckbare Ausfertigung des Prozessvergleichs vom 12.05.2020 beantragt und fordern ihre Mandantin nunmehr auf, den gemäß Ziffer 1 des vorgenannten Prozessvergleichs geschuldeten Betrag in Höhe von € 80.000,00 bis spätestens zum 29.06.2020 abzurechnen und auf einer der genannten Geschäftskonten auszubezahlen.
4
Am 22.6.2020 veranlasste die Klägerin die Überweisung eines Betrages von € 49.034,70 netto an den Beklagten und führte einen Betrag von € 30.965,30 als Lohnsteuer und Solidaritätszuschlage an das Finanzamt ab.
5
Mit weiterem Schreiben vom 3.7.2020 (Anlagenkonvolut K 3) forderten der Prozessbevollmächtigte des Beklagten die Klägerin auf, den vollen Betrag in Höhe von € 80.000,- zu bezahlen. Hinsichtlich der näheren Einzelheiten dieses Schreibens wird auf diesen Teil des Anlagenkonvoluts K 3 Bezug genommen.
6
Unter dem 29.10.2020 teilte der Prozessbevollmächtigte des Beklagten den Prozessbevollmächtigten der Klägerin Folgendes mit:
„Sehr geehrter Herr Kollege Dr. E…, aufgrund des zuletzt mit Ihnen geführten Telefonats gehen wir gemeinsam mit unserem Mandanten davon aus, dass eine einvernehmliche Regelung zwischen den Parteien, wie mit Ihrem Hause angedacht, nicht zustanden kommen wird. Wie kollegialiter zugesagt, unterrichten wir Sie hiermit, dass wir das Zwangsvollstreckungsverfahren aus dem Prozessverglich vom 12.05.2020 eingeleitet haben.
7
II. Zur Begründung ihrer Klage macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, den vereinbarten Zahlungsbetrag ordnungsgemäß abgerechnet und erfüllt zu haben. Die Schadensersatzleistung müsse den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit zugerechnet werden und unterliege als Ersatz für steuerpflichtige entgangene oder entgehende Einnahmen der Lohn- bzw. Einkommensteuer einschließlich des Solidaritätszuschlags. Auch die außergerichtliche Geltendmachung mit der Bitte um Abrechnung belege die Einschätzung des Beklagten, es handele sich um einen Bruttobetrag. Die Beendigung des Anstellungsverhältnisses sei für die Steuerbarkeit ohne Bedeutung. Eine Anzeigepflicht nach § 41 c Abs. 4 EStG könne nicht angenommen werden, weshalb es bei der Haftung der Klägerin aus § 42 d Abs. 1 EStG bleibe.
8
Die Klägerin beantragt daher:
I. Die Zwangsvollstreckung aus dem gerichtlichen Vergleich gemäß Beschluss des Landgerichts München I vom 12.5.2020, Az. 5HK O 7491/19 wird für unzulässig erklärt.
II. Der Beklagte wird verurteilt, die ihm erteilte vollstreckbare Ausfertigung des unter Ziffer I. genannten Vergleichsbeschlusses an die Klägerin herauszugeben.
9
III. Der Beklagte beantragt demgegenüber:
10
Zur Begründung beruft er sich im Wesentlichen darauf, die Klägerin habe den Vergleich nicht vollumfänglich erfüllt. Auf die Vereinbarung einer Brutto- oder Nettozahlung komme es nicht an, weil es sich um einen nicht steuerbaren Schadensersatzbetrag handele. Dieser stelle keinen Ausgleich für die Beschränkung der gewerblichen Tätigkeit dar, sondern bedeute einen Ausgleich dafür, dass die Klägerin aufgrund des unterlassenen Wettbewerbs durch den Beklagten einen ungerechtfertigten Vorteil erlangt habe. Eine Bestätigung der Rechtsauffassung der Klägerin lasse sich dem Schreiben vom 3.7.2020 über die Bestätigung der Abrechnung und der Auszahlung nicht herleiten; unter den Begriff der „Abrechnung“ falle jede Buchung, die im Rahmen einer ordnungsgemäßen kaufmännischen Buchhaltung vorzunehmen sei. Eine Abführungspflicht an das Finanzamt lasse sich nicht aus dem nachvertraglichen Wettbewerbsverbot ableiten, weil dieses nicht als Dienstvertrag einzuordnen sei. Eine nachträgliche Haftung der Klägerin aus §§ 42 d Abs. 2, 41 c Abs. 4 Nr. 1 EStG lasse sich nicht bejahen. Die Klägerin habe keine Berechtigung zur Berechnung und zur Entscheidung über die Verpflichtung des Beklagten zur Zahlung von Lohnsteuer. Vielmehr habe sie ein Geschäft des Beklagten geführt, ohne hierzu beauftragt gewesen zu sein. Ein eventuell entgegenstehender Wille des Beklagten sei unbeachtlich, nachdem die Begleichung fremder Steuerschulden nicht im öffentlichen Interesse liege. Auf den Einwand der alsbaldigen Rückgewähr könne sich die Klägerin gleichfalls nicht berufen, weil sie keine Gegenforderung habe und auch nicht angeben könne, ob und gegebenenfalls welche Steuerschuld überhaupt entstanden sei. Das Nichteinbehalten sowie das Nichtabführen der von der Klägerin angenommenen Steuerschuld führe zu keinem Nachteil bei ihr.
11
IV. Zur Ergänzung des Tatbestands wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze samt Anlagen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 25.2.2021 (Bl. 45/48 d. A.).
Entscheidungsgründe
12
I. Die Vollstreckungsabwehrklage ist zulässig und begründet.
13
1. Die Vollstreckungsabwehrklage ist zulässig.
14
a. Die Vollstreckungsgegenklage im Sinne des § 767 Abs. 1 ZPO ist der statthafte Rechtsbehelf. Aufgrund von § 767 Abs. 1 ZPO sind Einwendungen, die den durch das Urteil festgestellten Anspruch selbst betreffen, vom Schuldner im Wege der Klage beim Prozessgericht des ersten Rechtszugs geltend zu machen. Diese Vorschrift findet aufgrund der Verweisungsregelung in § 795 ZPO auch auf den Prozessvergleich im Sinne des § 794 Abs. 1 Nr. 1 ZPO Anwendung, weshalb die von der Klägerin geltend gemachte Erfüllung des Anspruches mit diesem Rechtsbehelf geltend gemacht werden kann.
15
b. Das Landgericht München I ist örtlich und sachlich zuständig, weil die gem. § 802 ZPO eine ausschließliche Zuständigkeit begründende Vorschrift des § 767 Abs. 1 ZPO auch für den Prozessvergleich als Titel zur Anwendung gelangt und demnach das Gericht zuständig ist, das den Titel geschaffen hat (vgl. BGH NJW 1980, 188, 189; BayObLG NJW-RR 1997, 1368, 1369 = FamRZ 1998, 35, 37 = MDR 1997, 1031). Entgegen einer zum Teil vertretenen Auffassung (vgl. OLG München NJW 1961, 2265 f.) kann insbesondere nicht davon ausgegangen werden, bei dem Prozessvergleich handele es sich um eine gerichtliche Urkunde im Sinne des § 797 ZPO. Als gerichtliche Urkunde im Sinne dieser Vorschrift können nur solche angesehen werden, die vom Gericht im Sinne des durch das Beurkundungsgesetz ersetzen 10. Abschnitt des ehemaligen FGG mit der Überschrift „Gerichtliche und notarielle Urkunde“ errichtet wurden (vgl. Wolfsteiner in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl., § 797 Rdn. 44; Seiler in: Thomas-Putzo, ZPO, 41. Aufl., § 797 Rdn. 2; Geimer in: Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 797 Rdn. 1).
16
c. Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis für die Klage muss bejaht werden, weil der Beklagte mit Schreiben vom 29.10.2020die Prozessbevollmächtigten der Klägerin darüber unterrichtet haben, das Zwangsvollstreckungsverfahren aus dem Prozessvergleich vom 12.5.2020 eingeleitet zu haben und damit eine Zwangsvollstreckung ernstlich droht, was als ausreichend angesehen werden muss (vgl. Herget in: Zöller, ZPO, a.a.O., § 767 Rdn. 8; Seiler in: Thomas-Putzo, ZPO a.a.O., § 767 Rdn. 14; Karsten Schmidt/Brinkmann in: Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl., § 767 Rdn. 43)
17
2. Die Vollstreckungsgegenklage ist begründet, weil der bestehende Anspruch durch Erfüllung im Sinne des § 362 Abs. 1 BGB erloschen ist. Nach dieser Vorschrift erlischt das Schuldverhältnis, wenn die geschuldete Leistung an den Gläubiger bewirkt wird. Die Klägerin hat vorliegend die titulierte Forderung in Höhe von € 80.000,- dadurch erfüllt, dass sie unstreitig einen Betrag von € 49.034,70 an den Beklagten überwies und einen weiteren Betrag in Höhe von € 30.965,30 an das Finanzamt abführte.
18
a. Bei dem vereinbarten Zahlungsbetrag von € 80.000,- handelt es sich um einen Bruttobetrag, auch wenn dieser im Vergleich nicht so bezeichnet ist.
19
(1) Der titulierte Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von € 80.000,- muss als zu den steuerpflichtigen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 EStG gezählt werden. Im Ausgangsprozess begehrte der Beklagte von der Klägerin Schadensersatz mit der Begründung, aufgrund der Verwendung einer nichtigen Vertragsbestimmung über ein nachvertragliches Wettbewerbsverbot in dem Vorstandsdienstvertrag habe die hiesige Klägerin die ihr gegenüber dem Beklagten obliegenden Pflichten verletzt. Dabei handelte es sich also um einen auf § 280 Abs. 1 BGB gestützten Schadensersatzanspruch, nicht aber um einen Bereicherungsanspruch des Beklagten gegen die Klägerin. Insoweit unterscheidet sich der Sachverhalt grundlegend von der dem vom Beklagten zitierten Urteil des Oberlandesgerichts Hamm vom 8.8.2018 (GmbHR 2017, 254 ff.) zugrunde liegenden Konstellation, wo die dortige Klägerin einen Anspruch auf Rückzahlung der gezahlten Karenzentschädigung auf der Grundlage von § 812 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. BGB begehrte. Vorliegend ging es indes um einen anderweitig erzielbaren Verdienst bei einem anderen Unternehmen, der dem Beklagten entging, weil er sich an das Wettbewerbsverbot hielt.
20
(2) Dieser Schadensersatzbetrag muss als steuerpflichtig angesehen werden. Das vom Beklagten bei dem anderen Unternehmen erzielbare Entgelt hätte ohne jeden Zweifel der Einkommensteuerpflicht als Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit unterlegen. Die Karenzentschädigung selbst wird von § 2 Abs. 2 Nr. 4 LStV als Arbeitslohn behandelt. Dem kann nicht entgegengehalten werden, mit der Beendigung des Vorstandsdienstverhältnisses habe kein Arbeitsverhältnis mehr bestanden und der geltend gemachte Betrag könne daher nicht der Einkommensteuerpflicht unterliegen. Gerade die Wertung aus § 2 Abs. 2 Nr. 4 LStDV, wonach Entschädigungen, die dem Arbeitnehmer als Ersatz für entgangenen oder entgehenden Arbeitslohn oder für die Aufgabe oder Nichtausübung einer Tätigkeit gewährt werden, zum Arbeitslohn gehören, zeigt, dass der von der Klägerin bezahlte Betrag der Einkommensteuerpflicht unterliegt, nachdem er als Entschädigung für die dem Beklagten entgangene Vergütung bei einem Wettbewerbsunternehmen im Wege des Schadensersatzes gezahlt wurde. Aufgrund von § 24 Nr. 1 Buchst. a. in Verbindung mit §§ 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4, 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 EStG gehören zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit auch Entschädigungen, die als Ersatz für entgangene oder entgehende Einnahmen gewährt worden sind. Die Zahlungen dienen unmittelbar dem Ausgleich des Schadens, der dem Beklagten aus der Tatsache entstanden ist, dass er sich an das nachvertragliche Wettbewerbsverbot hielt und nicht das Angebot eines Wettbewerbs annahm. Dann aber handelt es sich um Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit (vgl. BFH DB 2016, 2644).
21
b. Der im Vergleich genannte Betrag ist mangels anderweitiger Vereinbarung als Bruttobetrag zu verstehen. Die Vergütungspflicht und damit auch die hier gegebene Konstellation eines Schadensersatzanspruchs wegen entgangener Vergütungsansprüche umfasst auch die Leistungen, die nicht in einer unmittelbaren Auszahlung an den Dienstverpflichteten bestehen. Die Vergütung unterliegt wie auch hier regelmäßig öffentlich-rechtlichen Abzügen. Abzug und Abführung von Vergütungsbestandteilen betreffen nur die Frage, wie der Arbeitgeber bzw. hier der Dienstberechtigte seine Zahlungspflicht gegenüber dem Arbeitsnehmer bzw. Dienstverpflichteten erfüllt. Der Arbeitgeber oder Dienstberechtigte erfüllt sein Pflicht zur Zahlung der Vergütung gegenüber dem Arbeitnehmer oder wie hier dem Dienstverpflichteten auch dadurch, dass er die vom Dienstverpflichteten zu entrichtenden Beträge für Steuern vom Lohn einbehält und an das Finanzamt gemäß §§ 38 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 EStG abführt (vgl. BAG AP BPersVG § 46 Nr. 1; NJW 2001, 3570, 3571 = ZIP 2001, 1929, 1930 f. = DB 2001, 2196, 2197 = BB 2001, 2270, 2271 = MDR 2001, 1360 = NZA 2001, 1195 f. = AP BGB § 288 Nr. 4 = RdA 2002, 177 f.; Preis in: Erfurter Kommentar zum Arbeitsrecht, 17. Aufl., § 611 Rdn. 474; Krause in: Münchener Handbuch zum Arbeitsrecht, Band 1: Individualarbeitsrecht I, 4. Aufl., § 62 Rdn. 44).
22
2. Vorliegend war die Klägerin berechtigt, die Einkommensteuer samt Solidaritätszuschlag unmittelbar an das Finanzamt abzuführen.
23
a. Aus den oben genannten Gründen schuldet der Beklagte die Einkommensteuer. Der Arbeitgeber oder hier die Klägerin als Dienstverpflichtete nimmt insoweit eine Aufgabe der Finanzbehörden wahr, wenn er die Lohnsteuer samt Solidaritätszuschlag an das Finanzamt abführt. Auf diese Weise ist sichergestellt, dass der Arbeitnehmer Teile seiner Vergütung in der steuerrechtlich vorgeschriebenen Art und Weise erfüllt. Der Arbeitnehmer ist Schuldner der Lohnsteuer gem. § 38 Abs. 2 Satz 1 EStG, wobei unter den Begriff des Arbeitnehmers im einkommensteuerrechtlichen Sinn auch ein Vorstandsmitglied einer Aktiengesellschaft zählen muss. Die Klägerin als Arbeitgeber oder Dienstberechtigte behält die Lohnsteuer für Rechnung des Arbeitnehmers gem. § 38 Abs. 3 Satz 1 EStG von der Vergütung ein; die Abführung an das Finanzamt nach § 41 a EStG erfolgt zugunsten des Arbeitnehmers als Vorauszahlung auf dessen zu erwartende Einkommensteuerschuld. Materiell handelt es sich somit um eine Leistung an den Dienstverpflichteten bzw. Arbeitnehmer, die nur aus formellen Gründen des Steuerrechts vom Arbeitgeber unmittelbar an das Finanzamt erbracht wird. Es geht um eine Vereinfachung des Verfahrens und vor allem die Sicherstellung der vom Arbeitnehmer, also hier dem Kläger als Dienstverpflichteten, geschuldeten Steuerzahlung. Diese vornehmlich technischen Gesichtspunkte verändern den materiellen Charakter der Zahlung an den Arbeitnehmer nicht. Dementsprechend erhält dieser unter Umständen zu viel abgeführte Steuer im Wege der Veranlagung nach § 46 EStG teilweise oder ganz erstattet (vgl. BAG NJW 2001, 3570, 3571 = ZIP 2001, 1929, 1931 = DB 2001, 2196, 2197 = BB 2001, 2270, 2271 = NZA 2001, 1195, 1196 = AP BGB § 288 Nr. 4 = RdA 2001, 177, 178). Vor einer überhöhten Zahlung durch die Klägerin ist der Beklagte demgemäß hinreichend geschützt. Im Verfahren nach § 46 EStG kann er insbesondere geltend machen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang sich seine Steuerschuld durch die Regelung in § 34 EStG über außerordentliche Einkünfte reduzieren kann.
24
b. Etwas anderes ergibt sich namentlich nicht aus der Regelung in §§ 42 d Abs. 2, 41 c Abs. 4 EStG. Aufgrund von § 41 c Abs. 4 Nr. 1 EStG hat der Arbeitgeber in Fällen, in denen er die Lohnsteuer nach § 41 c Abs. 1 EStG nicht nachträglich einbehält oder nicht nachträglich einbehalten kann, weil der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber Arbeitslohn nicht mehr bezieht, dies dem Betriebsstättenfinanzamt unverzüglich anzuzeigen; in dieser Situation haftet der Arbeitgeber aufgrund der ausdrücklichen Regelung in § 42 d Abs. 2 EStG nicht. Da es sich aufgrund der Regelung in § 2 Abs. 2 Nr. 4 LStV vorliegend indes um Arbeitslohn handelt, kann diese Regelung nicht eingreifen.
25
Soweit der Beklagte geltend macht, die Klägerin hätte eine unberechtigte Geschäftsführung ohne Auftrag im Sinne der §§ 677, 678 BGB in Widerspruch zu seinem wirklichen oder mutmaßlichen Willen übernommen, rechtfertigt dies kein anderes Ergebnis. Zum einen handelte die Klägerin in Übereinstimmung mit den einkommensteuerrechtlichen Vorgaben. Zum anderen muss davon ausgegangen werden, dass die Erfüllung von Steuerschulden im öffentlichen Interesse liegt (vgl. BGHZ 7, 346, 355; OLG München, Urteil vom 26.3.1991, Az. 18 U 6302/90 - zitiert nach juris; Erman-Dornis, BGB, 15. Aufl., § 679 Rdn. 5; in diese Richtung auch Bergmann in: Staudinger BGB, Neubearb. 2020, § 679 Rdn. 247), nachdem das Allgemeinwohl durch die nicht seltenen Fälle nicht rechtzeitiger Begleichung der Steuerschuld nicht nur unwesentlich, sondern erheblich beeinträchtigt wird. Angesichts dessen kann der Gegenauffassung (vgl. Palandt-Sprau, BGB, 80. Aufl., § 679 Rdn. 3) nicht gefolgt werden. Folglich kann der Beklagte auch nicht Rückforderung aus § 678 BGB im Wege des Schadensersatzes verlangen. Die Zahlung der Klägerin hat ihre Rechtsgrundlage in §§ 38 Abs. 2 und Abs. 3 EStG, weshalb auch nicht von einer fehlenden sonstigen Berechtigung ausgegangen werden kann.
26
II. Die Klage auf Herausgabe der vollstreckbaren Ausfertigung des Beschlusses des Landgerichts München I vom 12.5.2020 ist zulässig und begründet.
27
1. Die Klage ist zulässig, insbesondere kann die Klage auf Herausgabe der vollstreckbaren Ausfertigung eines unter § 794 ZPO fallenden Titels gemäß § 260 ZPO gleichzeitig mit der Vollstreckungsgegenklage erhoben werden. In dieser Situation besteht nämlich nicht die Gefahr einer Umgehung der Voraussetzungen dieser Klage (vgl. BGH NJW 2015, 1181, 1183 = WM 2015, 985, 997 = DNotZ 2015, 417, 421; NJW - RR 2015, 521, 522; OLG Koblenz NJW - RR 2002, 1509, 1510; OLG Hamm BeckRS 2008, 19831; Karsten Schmidt/Brinkmann in: Münchener Kommentar zur ZPO, a.a.O., § 767 Rdn. 20; Lackmann in: Musielak/Voit, ZPO, 17. Aufl., § 767 Rdn. 14; Palandt-Grüneberg, BGB, 80. Aufl., § 371 Rdn. 4; Olzen in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2016, § 371 Rdn. 7; Looschelders in: BeckOGK BGB, Stand 1.3.2021, § 371 Rdn. 16 und 36).
28
2. Die Klage ist begründet, weil der Klägerin ein Anspruch aus § 371 BGB analog zusteht. Aufgrund von § 371 BGB kann der Schuldner dann, wenn über die Forderung ein Schuldschein ausgestellt ist, neben der Quittung Rückgabe des Schuldscheins verlangen. Eine Analogie ist zulässig und geboten, wenn das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht so weit mit dem Tatbestand vergleichbar ist, den der Gesetzgeber geregelt hat, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen (vgl. BGH NJW 2007, 3124, 3125 = WM 2007, 1791 1792; NZM 2016, 890, 891 = WuM 414, 415). Eine derartige planwidrige Regelungslücke muss hier bejaht werden, nachdem die vollstreckbare Ausfertigung eines Vergleichs nicht als Schuldschein angesehen werden kann. Durch Vorlage einer Ausfertigung des in der Vollstreckungsgegenklage ergangenen Urteils kann ein Schuldner die Einstellung der Zwangsvollstreckung gemäß § 775 Nr. 1 ZPO erreichen. Damit könnte er aber allein nicht verhindern, dass die Vollstreckung trotz des Urteils erst einmal versucht wird und gegebenenfalls sogar Erfolg hat, weil die Unzulässigkeit der Zwangsvollstreckung beispielsweise dem nicht informierten Personal des Schuldners unbekannt war oder die Unzulässigkeit mangels Ausfertigung des Titels nicht sofort nachgewiesen werden kann. Ein solcher Missbrauch eines Titels lässt sich nur mit einem Anspruch auf dessen Herausgabe verhindern, den das Prozessrecht für die Vollstreckungsgegenklage nicht vorsieht (vgl. BGHZ 127, 146, 148 f. = NJW 1994, 3225 = ZIP 1994, 1720 = DNotZ 1995, 139, 140; NJW 2015, 1181, 1183 = WM 2015, 985, 987 = DNotZ 2015, 417, 421 f.; Wolfsteiner in: Münchener Kommentar zur ZPO, a.a.O., § 724 Rdn. 55; Karsten Schmidt/Brinkmann in: Münchener Kommentar zur ZPO, a.a.O., § 767 Rdn. 20; Lackmann in: Musielak/Voit, ZPO, a.a.O., § 767 Rdn. 14; Fetzer in: Münchener Kommentar zum BGB, 8. Aufl., § 371 Rdn. 8; Olzen in: Staudinger, BGB, a.a.O., § 371 Rdn. 7).
29
Da der Anspruch auf Zahlung eines Betrages von € 80.000,- (brutto) durch Erfüllung erloschen ist, kann die Klägerin auch die Herausgabe der vollstreckbaren Ausfertigung des Beschlusses vom 12.5.2020 verlangen.
30
Angesichts dessen musste die Klage in vollem Umfang Erfolg haben.
31
III. 1. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO; als Unterlegener hat der Beklagte die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
32
2. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich hinsichtlich Ziffer I. und II. des Tenors aus § 709 Satz 1 ZPO und in Bezug auf Ziffer III. des Tenors aus §§ 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO. Eine Entscheidung über den Beschluss vom 24.11.2020 musste nicht mehr ergehen, weil dieser durch die Entscheidung in der Hauptsache hinfällig wird (vgl. Zöller-Herget, ZPO, a.a.O., § 707 Rdn. 20).