Inhalt

VG München, Urteil v. 10.11.2021 – M 9 K 18.3353
Titel:

Baurechtlicher Vorbescheid nach Einvernehmensfiktion

Normenketten:
BayBO Art. 67 Abs. 4, Art. 68 Abs. 1, Art. 71 S. 1
BayVwVfG Art. 31 Abs. 1
BauGB § 14 Abs. 1, Abs. 2, § 31 Abs. 2, § 36 Abs. 2
Leitsätze:
1. Wird das gemeindliche Einvernehmen nicht rechtzeitig verweigert, gilt es nach Ablauf von zwei Monaten als erteilt. Mangels Klagebefugnis kann die Gemeinde dann nicht mehr gegen eine sodann erteilte Baugenehmigung vorgehen. (Rn. 28 – 31) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es entspricht der Billigkeit, dass die beigeladene Gemeinde als Kostenverursacherin die Hälfte der Verfahrenskosten trägt. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Vorbescheid, Fiktion des gemeindlichen Einvernehmens, Wohnhausneubau, Dachform, Bebauungsplan, Befreiung, Einvernehmensfiktion
Fundstelle:
BeckRS 2021, 38315

Tenor

I. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids des Landratsamtes vom 14. Juni 2018 verpflichtet, dem Kläger den Vorbescheid nach Maßgabe des Antrags vom 19. Juni 2017 zu erteilen.
II. Der Beklagte und der Beigeladene tragen die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags vorläufig vollstreckbar.   

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid des Beklagten, mit dem die Erteilung eines baurechtlichen Vorbescheids zum Neubau eines Wohnhauses mit Tiefgarage abgelehnt wurde.
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Der Kläger ist Eigentümer des Vorhabengrundstücks FlNr. …, das im Geltungsbereich des Bebauungsplanes Nr. 19 „T. ...“ liegt.
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Mit Antrag vom 21. September 2016 beantragte der Kläger einen Vorbescheid für den Neubau eines Wohnhauses mit Tiefgarage unter Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr. 19 zum Ausbau des Dachgeschosses, Dachneigung und Dachform, Wandhöhe, Baugrenze und GRZ. Der beigeladene Markt verweigerte das gemeindliche Einvernehmen aufgrund erheblicher rechtlicher Bedenken und teilte dies dem Landratsamt mit Stellungnahme vom 07. November 2016 mit.
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Mit Schreiben vom 19. Januar 2017 gab das Landratsamt dem Markt die Möglichkeit zur Stellungnahme im Rahmen der Ersetzung des gemeindlichen Einvernehmens, Art. 67 Abs. 4 Satz 1 BayBO, da die Voraussetzungen zur Erteilung der Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplanes Nr. 19 vorlägen. Nicht genehmigungsfähig sei lediglich die beantragte Befreiung von der Dachform. Im Bereich des Bebauungsplanes Nr. 19 seien bereits zahlreiche Befreiungen erteilt worden.
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Mit Schreiben vom 09. März 2017 teilte der Beigeladene Markt dem Landratsamt mit, dass der Marktgemeinderat mit Beschluss vom 06. März 2017 das Einvernehmen weiterhin verweigere. Befürchtet würde eine nachteilige Veränderung der Grundwassersituation durch den massiven Baukörper der Tiefgarage. Der Gestaltung der Dachform werde nicht zugestimmt. Der Bezugsfall zur Wandhöhe sei nicht relevant, da das Gebäude bereits vor Inkrafttreten des Bebauungsplanes gebaut worden sei. Die beantragten sieben Wohneinheiten seien zu massiv, auch wenn dies der Bebauungsplan nicht festsetze. Sie fügten sich nicht ein. Dieser Beschluss wurde dem Landratsamt mit Schreiben vom 13. April 2017 erneut übersandt.
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Der Kläger reichte am 19. Juni 2017 beim Landratsamt nach Abstimmung mit diesem geänderte Planunterlagen ein. Die Dachform wurde als Satteldach mit Dachneigung nach den Vorgaben des Beklagten geändert. Die geänderten Pläne wurden nach Prüfung durch das Landratsamt mit Schreiben vom 26. Juli 2017 mit folgendem Text zugesandt: „… zum oben genannten Bauantrag bitten wir wegen der neuen Pläne und der neuen Fragen um Entscheidung über das gemeindliche Einvernehmen“. Das Schreiben ging beim beigeladenen Markt am 02. August 2017 ein. Am 13. September 2017 fragte das Landratsamt nach, da keine Rückmeldung erfolgt war.
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Mit Schreiben vom 05. Oktober 2017, das beim Landratsamt am 10. Oktober 2017 einging, teilte der Beigeladene mit, dass weiterhin Einwände gegen das Vorhaben bestünden. In der Sitzung des Bauausschusses vom 27. September 2017 wurde auf die vorherigen Beschlüsse verwiesen sowie beschlossen, dass die geänderte Dachform und Dachneigung nicht befürwortet werde. Das Landratsamt gab dem Beigeladenen Markt mit Schreiben vom 07. November 2017 erneut die Möglichkeit zur Stellungnahme gemäß Art. 67 Abs. 4 Satz 2 BayBO unter Fristsetzung bis 15. Dezember 2017. Das Schreiben wurde ausweislich der Akten am 13. November 2017 zur Post gegeben.
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Am 04. Dezember 2017 fand ein Gespräch zwischen dem Beklagten und dem Beigeladenen statt, in dem die Möglichkeit zum Erlass einer Veränderungssperre erörtert wurde. In der Behördenakte befindet sich ein undatierter Vermerk mit dem Wortlaut: „VSperre kommt, nicht genehmigen“.
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Am 11. Dezember 2017 beschloss der Marktgemeinderat des Beigeladenen die Änderung des Bebauungsplanes Nr. 19 H. … „T. ...“ unter Erfassung des Vorhabengrundstücks. Ebenfalls in der Sitzung vom 11. Dezember 2017 beschloss der Marktgemeinderat des Beigeladenen den Erlass einer Veränderungssperre für das Gebiet der Änderung des Bebauungsplanes Nr. 19, die wiederum das Vorhabengrundstück erfasste. Die Bekanntmachung der Veränderungssperre und die öffentliche Auslegung der Satzung zur Veränderungssperre erfolgte am 18. Dezember 2017.
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Mit Schreiben vom 18. Dezember 2017, eingegangen beim Landratsamt am 19. Dezember 2017, teilte der Markt mit, dass nach dem Beschluss des Marktgemeinderats vom 11. Dezember 2017 das gemeindliche Einvernehmen weiterhin verweigert werde. Mit einem weiteren Schreiben vom 18. Dezember 2017, das beim Landratsamt ebenfalls am 19. Dezember 2017 einging, teilte der Beigeladene weiterhin den Beschluss über die Änderung des Bebauungsplanes, den Erlass der Veränderungssperre sowie die jeweiligen Bekanntmachungen mit. Weiterhin beantragte er die Zurückstellung des klägerischen Antrags bis zum Abschluss des Bauleitplanverfahrens.
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Mit Bescheid vom 14. Juni 2018 lehnte der Beklagte die Erteilung des beantragten Vorbescheids ab. Der Antrag sei trotz des Vorbringens, dass die Einvernehmensfiktion eingetreten sei, wegen der von Anfang an kommunizierten Haltung des Beigeladenen und der zwischenzeitlich erlassenen Veränderungssperre sowie wegen fehlender Normverwerfungskompetenz des Landratsamtes abzulehnen. Eine Ausnahme nach § 14 Abs. 2 BauGB könne wegen des Entgegenstehens öffentlicher Belange nicht erteilt werden.
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Der Bevollmächtigte des Klägers erhob mit Schriftsatz vom 12. Juli 2018 beim Verwaltungsgericht München Klage und beantragte,
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Den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 14. Juni 2018 zu verpflichten, dem Kläger den Vorbescheid zu erteilen,
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hilfsweise: den Vorbescheidantrag unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verbescheiden.
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Die Verpflichtungsklage habe Erfolg, da die Ablehnung des beantragten Vorbescheids rechtswidrig sei und den Kläger in seinen Rechten verletze. Die beantragten Befreiungen von den Festsetzungen des Bebauungsplanes seien zwingend zu erteilen, da die Voraussetzungen dafür gemäß § 31 Abs. 2 BauGB vorlägen. Im Geltungsbereich des Bebauungsplanes seien bereits zahlreiche Befreiungen erteilt worden, die den vom Kläger beantragten entsprächen. Das gemäß § 31 Abs. 2 BauGB grundsätzlich bestehende Ermessen sei vorliegend auf Null reduziert, da die engen Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt seien und zumindest gleichgewichtige, städtebaulich beachtenswerte Belange nicht entgegenstünden. Auch die Veränderungssperre habe nicht entgegen gestanden. Aufgrund des Ablaufs der Zwei-Monats-Frist des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB gelte das Einvernehmen der Gemeinde als erteilt.
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Der Beklagte beantragte,
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Klageabweisung.
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Auf Grund der Veränderungssperre sei die Genehmigung nicht zu erteilen gewesen. Die Rechtsprechung dazu befasse sich nur mit Fällen des erteilten Einvernehmens, das im vorliegenden Fall zu keinem Zeitpunkt vorgelegen habe, und nicht mit der Fiktion. Der Marktgemeinderat habe immer klargemacht, dass aus seiner Sicht die Befreiungen nicht zu befürworten seien, sodass kein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde. Auch wenn im Interesse der Verfahrensbeschleunigung der das Einvernehmen verweigernden Gemeinde nicht beliebig viel Zeit verschafft werden könne, sei fraglich, ob das Schreiben des Landratsamtes die Fiktionswirkung des § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB neu in Gang gesetzt habe. Die Gemeinde habe das Schreiben sowie die Erinnerung vom 13. September 2018 mangels Verweis auf § 36 Abs. 2 Satz 2 BauGB nicht als entsprechendes Ersuchen auffassen müssen, sodass der Markt eine weitere ausdrückliche Genehmigung nicht für erforderlich halten musste. Das Landratsamt habe das dauerhaft verweigerte Einvernehmen für gewichtiger angesehen, als den Gesichtspunkt des Zeitablaufs und daher die Veränderungssperre, die im Entscheidungszeitpunkt wirksam geworden war, als maßgebliche Entscheidungsgrundlage herangezogen.
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Die Veränderungssperre ist nicht mehr in Kraft. Mit Beschluss des Marktgemeinderats des Beigeladenen vom 25. November 2019 wurde die Veränderungssperre letztmalig bis zum 10. Dezember 2020 verlängert.
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In der mündlichen Verhandlung vom 29. Juli 2020 erklärten die Beteiligten ihre Zustimmung zu einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren. Sie teilten in der Folgezeit übereinstimmend mit, dass eine Einigung trotz verschiedener Bemühungen nicht erzielt werden konnte und baten um schriftliche Entscheidung.
21
Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Behördenakte sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 29. Juli 2020 Bezug genommen

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage hat Erfolg.
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Der Bescheid vom 14. Juni 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat Anspruch auf den beantragten Vorbescheid und die beantragten Befreiungen, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
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Nach Art. 71 Satz 1 i.V.m. Art. 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO ist der beantragter Vorbescheid zu erteilen, da hier ein baugenehmigungspflichtiges Vorhaben sowie genehmigungsfähige Fragen dazu vorliegen, die Veränderungssperre nicht mehr gültig ist und das gemeindliche Einvernehmen als erteilt gilt.
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Zweifel daran, dass die im Vorbescheidantrag vom 13. Juni 2017 gestellten Fragen zulässig sind, bestehen keine. Der Neubau eines Mehrfamilienhauses ist baugenehmigungspflichtig.
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Ein Vorbescheid ist nur zu erteilen, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegenstehen, die im Genehmigungsverfahren zu prüfen sind, worunter nach Art. 59 Satz 1 Nr. 1 a BayBO auch die §§ 29 bis 38 BauGB fallen, vgl. Art. 71 Satz 4, 68 Abs. 1 Satz 1 BayBO.
27
Die Veränderungssperre des Beigeladenen, § 14 Abs. 1 BauGB, hindert die Erteilung des Vorbescheids nicht, da sie zu dem für Verpflichtungsklagen maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr in Kraft ist.
28
Die Einvernehmensregelung des § 36 BauGB steht dem Vorbescheid nicht entgegen, da die Einvernehmensfiktion nach § 36 Abs. 2 S.2 BauGB am 03. Oktober 2017 eingetreten ist. Gem. § 36 Abs. 2 S.2 BauGB gilt das gemeindliche Einvernehmen als erteilt, wenn es nicht binnen zwei Monaten nach Eingang des Ersuchens der Genehmigungsbehörde verweigert wurde.
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Soweit vorgetragen wird, dass die Gemeinde das Schreiben des Beklagten vom 26. Juli 2017 nicht als Ersuchen im Sinne des § 36 Abs. 2 S. 2 BauGB hätte auffassen müssen, da auf diese Vorschrift nicht ausdrücklich verwiesen worden sei und dass sie deshalb eine ausdrückliche Verweigerung des Einvernehmens wegen der unveränderten Rechtslage nicht für erforderlich halten durfte, ist dies fernliegend und trifft nicht zu. Das Landratsamt hat mit Schreiben vom 26. Juli 2017 ausdrücklich um eine Entscheidung über das gemeindliche Einvernehmen gebeten und dies aufgrund der neuen Pläne und Fragen. Ausweislich des Beschlusses des Bauausschusses vom 27. September 2017 hat der beigeladene Markt dies auch so verstanden und beschlossen, dass weiterhin Einwände bestehen unter Hinweis auf die bereits zuvor gefassten Beschlüsse. Es ist nicht ansatzweise davon auszugehen, dass ein gemeindlicher Bauausschuss nicht weiß, was es bedeutet, wenn er erneut um Erteilung des gemeindlichen Einvernehmens gebeten wird.
30
Die Mitteilung über die Ablehnung des gemeindlichen Einvernehmens durch den Markt vom 05. Oktober 2017 ging erst am 10. Oktober 2017 beim Landratsamt ein und war damit nicht mehr rechtzeitig. Die Frist für den Markt begann am 03. August 2017 zu laufen, Art. 31 Abs. 1 BayVwVfG, § 187 Abs. 1 BGB und endete mit Ablauf des 02. Oktober 2017, Art. 31 Abs. 1 BayVwVfG, § 188 Abs. 2 BGB.
31
Aufgrund der Bindungswirkung der Gemeinde an das tatsächlich erteilte oder kraft Gesetz fingierte Einvernehmen ist davon auszugehen, dass die Gemeinde mangels Klagebefugnis nicht mehr gegen eine sodann erteilte Baugenehmigung vorgehen kann (BVerwG, U.v.12.12.1996 - 4 C 24/95). Unter Berücksichtigung des Vertrauensgesichtspunktes, der mit Erteilung des Einvernehmens für den Bauherrn entstanden ist, hat dies zur Folge, dass die dem Einvernehmen zugrundeliegenden öffentlichen Belange einem Vorhaben nicht mehr entgegengehalten werden können
32
Der beantragten Befreiungen sind zu erteilen. Das in § 31 Abs. 2 BauGB eingeräumte Ermessen ist auf Null reduziert, da die eng gefassten tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Befreiung vorliegen und keine sonstigen städtebaulich relevanten Gründe vorliegen. Die Beteiligten haben übereinstimmend erklärt, dass mit Ausnahme der mittlerweile nicht mehr bestehenden Veränderungssperre dem Bauvorhaben nichts entgegensteht.
33
Der Klage war daher mit der Kostenfolge des §§ 154, 155 Abs. 4, 159 VwGO stattzugeben. Es entspricht der Billigkeit, dass der Beigeladene als Kostenverursacher die Hälfte der Verfahrenskosten trägt.
34
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO iVm §§ 708f ZPO.