Inhalt

VGH München, Beschluss v. 07.03.2021 – 20 NE 21.524
Titel:

Erfolgloser Normenkontrolleilantrag gegen Ausgangsbeschränkungen infolge Corona-Pandemie

Normenketten:
VwGO § 47 Abs. 6
11. BayIfSMV § 2, § 3, § 4
GG Art. 2 Abs. 1, 2
IfSG § 28 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, Abs. 5, § 32
Leitsätze:
1. Die Maßnahme der nächtlichen Ausgangssperre in der 11. BayIfSMV ist voraussichtlich rechtmäßig, insbesondere hinreichend bestimmt, materiell im Rahmen der Vorgaben des § 28a IfSG und verhältnismäßig. (Rn. 11, 15, 19 und 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Selbst wenn man von offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache ausgeht, ergibt eine Folgenabwägung, dass die Interessen der Gesamtbevölkerung am Schutz von Leib und Leben die Interessen der Antragstellerin, ohne triftigen Grund die Wohnung zu verlassen sowie uneingeschränkt familiäre und soziale Kontakte zu pflegen, in der gegenwärtigen Pandemiesituation überwiegen. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Normenkontrolle, Eilantrag, Corona, Pandemie, Ausgangsbeschränkung, Folgenabwägung, Bestimmtheit
Fundstellen:
KommJur 2021, 179
LSK 2021, 3814
BeckRS 2021, 3814

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 10.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
1
1. Die Antragstellerin, die in Bayern lebt, beantragt nach § 47 Abs. 6 VwGO die vorläufige Außervollzugsetzung der §§ 2, 3 und 4 der Elften Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung (11. BayIfSMV vom 15.12.2020, BayMBl. 2020 Nr. 737), die zuletzt mit Verordnung vom 24. Februar 2021 (BayMBl. 2021 Nr. 149) geändert wurde und mit Ablauf des 7. März 2021 außer Kraft tritt (§ 29 11. BayIfSMV).
2
2. Die Antragstellerin trägt zur Begründung ihres am 19. Februar 2021 erhobenen Eilantrags im Wesentlichen vor, die Ausgangsbeschränkungen verletzten sie in ihrem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), körperliche Fortbewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG) und allgemeine Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG). Die Ausgangsbeschränkung schließe sie faktisch in ihre Wohnung ein, was zu einer extremen psychischen Belastung führe, die seit Dezember 2020 andauere. Die Ermächtigungsgrundlage in §§ 32 Satz 1, 28a Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 IfSG missachte das Zitiergebot (Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG). Die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 IfSG lägen nicht vor, weil ohne die Maßnahme eine effektive Eindämmung der Ausbreitung der Epidemie nicht erheblich gefährdet wäre. Die Zahl der Neuinfektionen sei rückläufig; dem Begründungserfordernis sei nicht hinreichend entsprochen worden. Die Ausgangsbeschränkung sei unverhältnismäßig, weil sie zur Eindämmung von COVID-19 ungeeignet sei; durch sie würden keine menschlichen Kontakte direkt verhindert. Der Normgeber bleibe stichhaltige, die Geeignetheit unter Beweis stellende Argumente schuldig. Die Maßnahme sei auch mit Blick auf Abstands- und Hygieneregeln im öffentlichen Raum nicht erforderlich. Die sinkenden Infektionszahlen zeigten, dass die direkten Maßnahmen wirkten und die indirekt wirkende Ausgangsbeschränkung nicht notwendig sei. Die Maßnahme sei auch unangemessen, weil sie das rechtsstaatliche Regel-Ausnahme-Verhältnis von Freiheitsbetätigung und -einschränkung ins Gegenteil verkehre. Die Unangemessenheit gelte besonders für Regionen mit geringerer Bevölkerungsdichte.
3
Die nächtliche Ausgangssperre sei rechtswidrig und unverhältnismäßig. Die Voraussetzungen für ihren Erlass nach § 28a Abs. 1 Nr. 3 Alt. 2 i.V.m. § 28a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 IfSG lägen nicht vor und seien auch nicht begründet worden. Der VGH Mannheim habe mit Beschluss vom 5. Februar 2021 (Az. 1 S 321/21) die Erforderlichkeit nächtlicher Ausgangssperren bei einem Inzidenzwert von 63,5 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen verneint. Die Regelung sei unbestimmt, weil regional nächtliche Verbotszonen entstünden, die Bürger nur mit erheblichem Informationsaufwand bestimmen könnten (vgl. auch Art. 51 Abs. 2 Satz 1 LStVG [gemeint wohl Abs. 3 Satz 1]). Die Maßnahme sei auch unverhältnismäßig. Sofern man nicht bereits ihre Geeignetheit verneine, sei sie jedenfalls nicht erforderlich. Begrenzte Aufenthaltsverbote mit Ausnahmeregelungen stellten ein milderes Mittel dar. Die nächtliche Ausgangssperre sei auch unangemessen, da sie mit ihrem indirekten Charakter keinen signifikanten Beitrag zur Bekämpfung von SARS-CoV-2 einschließlich der Virusmutationen leisten könne.
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Die Kontaktbeschränkung verletze die Antragstellerin in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG), ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) und in ihrem Grundrecht auf Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG). Die restriktive Kontaktbeschränkung auf nur eine haushaltsfremde Person sei nicht erforderlich und stehe im Widerspruch zur erlaubten Zusammenkunft am Arbeitsplatz. Eine Kontaktbeschränkung auf zwei Haushalte sei gleichermaßen geeignet. Die Kontaktbeschränkung sei auch unangemessen, weil sich die Infektionslage verbessert habe, selbst wenn man eine Gefährdung durch Virusmutationen einbeziehe und die Maßnahme nicht zwischen privatem und öffentlichen Raum differenziere. Es fehlten Privilegierungstatbestände für besonders schützenswerte familiäre Kontakte.
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3. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
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A. Der zulässige Antrag hat keinen Erfolg.
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Die Voraussetzungen des § 47 Abs. 6 VwGO, wonach das Normenkontrollgericht eine einstweilige Anordnung erlassen kann, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist, liegen nicht vor. Der von der Antragstellerin in der Hauptsache erhobene Normenkontrollantrag gegen §§ 2, 3 und 4 11. BayIfSMV hat unter Anwendung des Prüfungsmaßstabs im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO (1.) bei summarischer Prüfung voraussichtlich keinen Erfolg (2.). Auch eine Folgenabwägung fällt zulasten der Antragstellerin aus (3.).
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1. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache anhängigen oder noch zu erhebenden Normenkontrollantrags, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ ZfBR 2015, 381 - juris Rn. 12; zustimmend OVG NW, B.v. 25.4.2019 - 4 B 480/19.NE - NVwZ-RR 2019, 993 - juris Rn. 9). Dabei erlangen die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags eine umso größere Bedeutung für die Entscheidung im Eilverfahren, je kürzer die Geltungsdauer der in der Hauptsache angegriffenen Normen befristet und je geringer damit die Wahrscheinlichkeit ist, dass eine Entscheidung über den Normenkontrollantrag noch vor dem Außerkrafttreten der Normen ergehen kann.
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Ergibt die Prüfung der Erfolgsaussichten der Hauptsache, dass der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet sein wird, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Erweist sich dagegen, dass der Antrag zulässig und (voraussichtlich) begründet sein wird, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache suspendiert werden muss. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist (BVerwG, B.v. 25.2.2015 ‒ 4 VR 5.14 u.a. ‒ juris Rn. 12).
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Lassen sich die Erfolgsaussichten nicht absehen, ist im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden. Gegenüberzustellen sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber später Erfolg hätte, und die Folgen, die entstünden, wenn die begehrte Außervollzugsetzung erlassen würde, der Normenkontrollantrag aber später erfolglos bliebe. Die für eine einstweilige Außervollzugsetzung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass sie - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 u.a. - juris Rn. 12; Ziekow in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 395; Hoppe in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 47 Rn. 106).
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2. Nach diesen Maßstäben sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache bei der nur möglichen, aber ausreichenden summarischen Prüfung (vgl. BVerwG, B.v. 25.2.2015 - 4 VR 5.14 - ZfBR 2015, 381 - juris Rn. 14) voraussichtlich nicht gegeben.
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a) Der Senat geht im einstweiligen Rechtsschutzverfahren davon aus, dass die angegriffenen Maßnahmen nach §§ 2, 3 und 4 11. BayIfSMV mit § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1, § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG eine verfassungsgemäße Rechtsgrundlage haben (vgl. BayVGH, B.v. 8.12.2020 - 20 NE 20.2461 - juris Rn. 22 ff.).
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Die Verordnungsermächtigung in § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1, § 28a Abs. 1 Nr. 3 IfSG verstößt auch nicht gegen das Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG (vgl. auch BayVGH, B.v. 12.5.2020 - 20 NE 20.1080 - juris Rn. 14 m.w.N.). Soweit die Antragstellerin eine Benennung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG vermisst, ist dieser mit dem Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18. November 2020 (BGBl. I S. 2397) in § 28 Abs. 1 Satz 4 IfSG ergänzt worden (vgl. BT-Drs. 19/24334 S. 21 und 71). Die zusätzliche Benennung von Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG, der materielle Anforderungen an Freiheitsbeschränkungen statuiert (vgl. auch BVerfG, B.v. 28.9.2020 - 2 BvR 1235/17 - NStZ-RR 2020, 387 - juris Rn. 40), ist neben Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG entbehrlich.
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b) Die angegriffenen Normen sind in formeller Hinsicht wohl nicht zu beanstanden.
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aa) Der Senat teilt bei summarischer Prüfung die Zweifel der Antragstellerin an der Bestimmtheit der nächtlichen Ausgangssperre (§ 3 11. BayIfSMV) nicht.
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Nach dem im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) gründenden Bestimmtheitsgebot müssen normative Regelungen wie z.B. Rechtsverordnungen so gefasst sein, dass der Betroffene seine Normunterworfenheit und die Rechtslage so konkret erkennen kann, dass er sein Verhalten danach auszurichten vermag (BVerfG, B.v. 9.4.2003 - 1 BvL 1/01 - BVerfGE 108, 52 - juris Rn. 61). Die Anforderungen an die Normenklarheit sind dann erhöht, wenn die Unsicherheit bei der Beurteilung der Gesetzeslage die Betätigung von Grundrechten erschwert (vgl. BVerfG, B. v. 3. 11.1982 - 1 BvR 210/79 - BVerfGE 62, 169). Sieht eine Rechtsverordnung - wie hier § 28 Nr. 2 11. BayIfSMV - die Ahndung von Verstößen als Ordnungswidrigkeit vor, gilt hier ein strenger Maßstab (BayVGH, B. v. 28.7.2020 - 20 NE 20.1609 - BeckRS 2020, 17622). Unter dem Gesichtspunkt der Normenklarheit hinreichend bestimmt im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG ist, wenn jedermann vorhersehen kann, welches Verhalten verboten ist (vgl. Remmert in Maunz/Dürig, GG, Stand August 2020, Art. 103 Abs. 2 Rn. 92).
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Diese Voraussetzungen werden von der nächtlichen Ausgangssperre in § 3 11. BayIfSMV bei summarischer Prüfung noch erfüllt. Die Normadressaten können der amtlichen Bekanntmachung der jeweiligen Kreisverwaltungsbehörden entnehmen, ob eine solche Ausgangsbeschränkung gilt (vgl. § 3 Satz 2 11. BayIfSMV). Für die Betroffenen ist erkennbar, ob ihre Wohnortgemeinde und damit sie selbst ihr unterworfen sind. Da der räumliche Geltungsbereich der Vorschrift aus der amtliche Bekanntmachung ohne weitere Nachforschungen, besondere Fähigkeiten und Sachkenntnisse erkennbar ist (vgl. anders der frühere 15-km-Umkreis in § 25 Abs. 1 der 11. BayIfSMV i.d.F.v. 20.1.2021, vgl. BayVGH, B.v. 26.1.2021 - 20 NE 21.162 - juris Rn. 17 f.), erscheint die angegriffene Regelung bei summarischer Prüfung hinreichend bestimmt.
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bb) Den von der Antragstellerin hinsichtlich § 2 11. BayIfSMV gerügten formellen Verstoß gegen die Begründungspflicht aus § 28a Abs. 5 Satz 1 IfSG kann der Senat nicht erkennen. In der Begründung ist zu erläutern, in welcher Weise die Schutzmaßnahmen im Rahmen eines Gesamtkonzepts der Infektionsbekämpfung dienen. Eine empirische und umfassende Erläuterung ist nicht geschuldet (vgl. BT-Drs. 19/24334 S. 74). Dem ist der Verordnungsgeber wohl hinreichend nachgekommen, indem er die Fortführung der Maßnahmen insbesondere auf das sich weiterhin auf hohem Niveau bewegende Infektionsgeschehen und den Nachweis besorgniserregender Virusvarianten in Bayern gestützt hat (vgl. Begründungen vom 24.2.2021, BayMBl 2021 Nr. 150 und vom 12.2.2021, BayMBl. 2021, Nr. 113). Eine detaillierte Auseinandersetzung, weshalb die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen aufrechterhalten bleiben, obwohl erste Öffnungsschritte erfolgt sind, war in formeller Hinsicht nicht notwendig.
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c) Die Bestimmungen in §§ 2, 3 und 4 11. BayIfSMV sind voraussichtlich materiell rechtmäßig, weil sie sich bei summarischer Prüfung an die Vorgaben in § 28a IfSG halten. Zur Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst auf die Senatsentscheidungen vom 12. Januar 2021 (Az. 20 NE 20.2933 - juris Rn. 37 ff.) und 19. Januar 2021 (Az. 20 NE 21.129 - juris Rn. 11 ff.) verwiesen.
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aa) Sowohl zum Zeitpunkt der Entscheidung des Verordnungsgebers, die Geltungsdauer der 11. BayIfSMV bis zum 7. März 2021 (§ 1 Nr. 9 der Verordnung zur Änderung der 11. BayIfSMV vom 12.2.2021, BayMBl. 2021 Nr. 112) nochmals zu verlängern, als auch zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats liegen die Voraussetzungen des § 28a Abs. 3 Satz 4, 5 und 10 IfSG vor. Die Anzahl der Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen (Inzidenz) betrug am 3. März 2021 bundesweit 64 und in Bayern 67. Wegen der Überschreitung des Schwellenwertes von 50 sind nach § 28a Abs. 3 Satz 4 und 5 IfSG umfassende Schutzmaßnahmen zu ergreifen, die eine effektive Eindämmung des Infektionsgeschehens erwarten lassen.
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bb) Auch einen Verstoß gegen § 28a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 IfSG vermag der Senat noch nicht zu erkennen. Die diesbezüglichen Ausführungen im Senatsbeschluss vom 12. Januar 2021 (20 NE 20.2933 - juris Rn. 39 ff.) gelten gegenwärtig weiter. Die Gefährdungsprognose des Verordnungsgebers, dass eine wirksame Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 ohne die Ausgangsbeschränkungen erheblich gefährdet wäre, erweist sich auch gegenwärtig nicht als rechtsfehlerhaft.
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(1) Soweit die Antragstellerin auf das rückläufige Infektionsgeschehen verweist, lässt sie insbesondere die derzeit unsichere Lage infolge der zunehmenden Verbreitung besorgniserregender Virusmutationen (VOC) mit potenziell leichterer Übertragungsmöglichkeit und möglicherweise schwereren Krankheitsverläufen außer Acht. Besonders die Variante B.1.1.7, die u.a. in Großbritannien vermehrt aufgetreten ist, breitet sich derzeit mit großer Geschwindigkeit in Deutschland aus. Das RKI schätzt die Gefahr für die Bevölkerung weiterhin als sehr hoch ein, zumal derzeit noch verlässlich abschätzbar sei, ob und in welchem Maße die VOC die Wirksamkeit der verfügbaren Impfstoffe beeinträchtigen (vgl. RKI, Risikobewertung, Stand 26.2.2021, abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html). Auch der Hinweis der Antragstellerin auf die Entscheidung des VGH Baden-Württemberg vom 5. Februar 2021 (Az. 1 S 321/21 - juris), greift nicht durch. Sie betrifft eine abendliche und nächtliche Ausgangssperre, die in Bayern seit 14. Februar 2021 nur noch in Landkreisen und kreisfreien Städten mit einer 7-Tage-Inzidenz von über 100 gilt (vgl. § 3 11. BayIfSMV; vgl. hierzu auch BayMBl 2021 Nr. 113 S. 3).
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(2) Abgesehen davon dauert die von der Antragstellerin beschriebene positive Entwicklung eines deutlichen Rückgangs der Infektionszahlen inzwischen nicht mehr an. Die Zahl der Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 sind zuletzt wieder angestiegen bzw. stagnieren auf einem Niveau von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen. Auch wenn Infektionszahlen nicht ansteigen, sich aber auf einem zu hohen Niveau „seitwärts“ bewegen, können die Voraussetzungen des § 28a Abs. 2 Satz 1 IfSG vorliegen, zumal das Infektionsgeschehen schnell kippen und es wieder zu einem exponentiellen Wachstum der Neuinfektionen kommen kann (vgl. BayVGH, B.v. 14.12.2020 - 20 NE 20.2907 - NJW 2021, 178 - juris Rn. 32 ff.).
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(3) Das Vorbringen der Antragstellerin, die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 IfSG lägen nicht (mehr) vor, weil nicht belegt sei, dass ohne die Maßnahme eine effektive Eindämmung der Ausbreitung der Epidemie erheblich gefährdet wäre, greift ebenfalls nicht durch. Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber Schutzmaßnahmen im Hinblick auf ihre spezifische Eingriffsintensität grundrechtsdeterminiert eingrenzen (vgl. BT-Drs. 19/24334 S. 73). Die Regelung betont das Gebot der Erforderlichkeit der Maßnahme, indem sie klarstellt, dass von besonders grundrechtsintensiven Maßnahmen erst dann Gebrauch gemacht werden darf, wenn mildere Mittel zur wirksamen Eindämmung der Verbreitung von COVID-19 nicht ebenso erfolgversprechend sind.
25
Im Übrigen darf der Verordnungsgeber nicht erst dann tätig werden, wenn die Tatsachengrundlage für eine Maßnahme in der Wissenschaft als übereinstimmend gesichert bewertet wird. Der Rückgang der Fallzahlen belegt, dass die angeordneten Beschränkungen wirksam sind (vgl. BayVerfGH, E.v. 1.2.2021 - Vf. 98-VII-20 - juris Rn. 20 f.).
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d) Die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen nach §§ 2, 3 und 4 11. BayIfSMV dürften gegenwärtig verhältnismäßig, also geeignet, erforderlich und angemessen sein.
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(1) Zur Geeignetheit der Maßnahmen kann auf die Ausführungen des Senats im Beschluss vom 12. Januar 2021 verwiesen werden (Az. 20 NE 20.2933 - juris Rn. 46). Im Übrigen darf der Verordnungsgeber nicht erst dann tätig werden, wenn die Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen in der Wissenschaft übereinstimmend als gesichert bewertet wurde (vgl. bereits oben Rn. 25).
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(2) Bei summarischer Beurteilung ist vorliegend auch kein gleich wirksames, die Normbetroffenen weniger belastendes (milderes) Mittel erkennbar. Insoweit kann auf die Ausführungen zu § 28 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 IfSG verwiesen werden (vgl. oben Rn. 21 ff.). Das Vorbringen der Antragstellerin zum Vorrang „direkter“ gegenüber „indirekter“ Schutzmaßnahmen greift deshalb im Ergebnis nicht durch.
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(3) Angesichts des zwar zwischenzeitlich rückläufigen, aber weiterhin angespannten Infektionsgeschehens sowie der gravierenden Auswirkungen im Fall einer (konkret drohenden) Überlastung des Gesundheitssystems stehen die mit den Maßnahmen verbundenen Einschränkungen für die Grundrechte der Antragstellerin, auf die sie sich beruft (Art. 2 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1, Art. 6 GG), derzeit noch nicht außer Verhältnis zu Gewicht und Dringlichkeit der die Maßnahmen rechtfertigenden Gründe.
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Ob und in welcher Form Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen im entscheidungserheblichen Zeitpunkt eine angemessene Schutzmaßnahme darstellen, hat der Verordnungsgeber nach § 32 IfSG zu entscheiden. Dieser hat in einer dokumentierten Entscheidung die besonders gewichtigen infektiologischen Erfordernisse mit sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen auf den Einzelnen und die Allgemeinheit nach § 28a Abs. 6 IfSG abzuwägen. Dabei dürfte es sich um eine prognostische Abwägungsentscheidung handeln, welche dem Verordnungsgeber einen Beurteilungsspielraum eröffnet, der gerichtlich nur begrenzt überprüfbar ist (BayVGH, B. v. 8.12.2020 - 20 NE 20.2461 - juris Rn. 25). Der gerichtlichen Kontrolle unterliegt allerdings die Frage, ob der Verordnungsgeber von sachlichen Erwägungen ausgegangen ist. Hierbei kommt der Begründung der Verordnung nach § 28a Abs. 5 IfSG besondere Bedeutung zu. Die Entscheidung, die Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen in der bisherigen Form - mit Ausnahme der landesweiten nächtlichen Ausgangssperre - bis 7. März 2021 noch einmal zu verlängern, wurde mit dem aktuellen Infektionsgeschehen - einschließlich der Unwägbarkeiten im Zusammenhang mit neuen besorgniserregenden Virusvarianten mit mutmaßlich höherer Übertragungsgefahr und gegebenenfalls schweren Krankheitsverläufen - begründet (vgl. BayMBl. 2021 Nr. 113). Diese Einschätzung ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt (noch) nicht rechtlich zu beanstanden (vgl. auch BayVerfGH, E.v. 1.2.2021 - Vf. 98-VII-20 - juris Rn. 20).
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3. Selbst wenn man von offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache ausgeht, ergibt eine Folgenabwägung, dass die Interessen der Gesamtbevölkerung am Schutz von Leib und Leben (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) die Interessen der Antragstellerin, ohne triftigen Grund die Wohnung zu verlassen sowie uneingeschränkt familiäre und soziale Kontakte zu pflegen, in der gegenwärtigen Pandemiesituation überwiegen.
32
Das pandemische Geschehen ist weiterhin auf hohem Niveau. Nach dem Situationsbericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom 3. März 2021 (abrufbar unter https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Maerz_2021/2021-03-03-de.pdf? blob=publicationFile) ist nach wie vor eine hohe Anzahl an Übertragungen in der Bevölkerung in Deutschland zu beobachten. Das RKI schätzt die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland insgesamt als sehr hoch ein. Nach der aktuellen Risikobewertung des RKI (Stand 26.2.2021, vgl. https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Risikobewertung.html) ist die Dynamik der Verbreitung einiger neuer Varianten (VOC) von SARS-CoV-2 besorgniserregend. Es ist noch unklar, wie sich deren Zirkulation auf die Situation in Deutschland auswirken wird. Aufgrund der vorliegenden Daten zu einer erhöhten Übertragbarkeit der VOC besteht grundsätzlich die Möglichkeit einer Verschlimmerung der Lage. Ob und in welchem Maße die VOC die Wirksamkeit der verfügbaren Impfstoffe beeinträchtigen, ist derzeit noch nicht sicher abzuschätzen. Das individuelle Risiko, schwer zu erkranken, kann anhand der epidemiologischen bzw. statistischen Daten nicht abgeleitet werden. Auch ohne bekannte Vorerkrankungen und bei jungen Menschen kann es zu schweren bis hin zu lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen kommen. Langzeitfolgen können auch nach leichten Verläufen auftreten.
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In dieser Situation ergibt die Folgenabwägung, dass die zu erwartenden Folgen einer Außervollzugsetzung der angegriffenen Normen - im Hinblick auf die damit einhergehende mögliche Eröffnung weiterer Infektionsketten - schwerer ins Gewicht fallen als die Folgen ihres weiteren Vollzugs für die Grundrechte der Antragstellerin. Insbesondere ist ihr die Kontaktaufnahme zu anderen Haushalten weiterhin möglich. Die Mindestpflege von Sozialkontakten ist auch unter Geltung des § 4 Abs. 1 11. BayIfSMV gewährleistet (vgl. BayVGH, B.v. 19.1.2021 - 20 NE 21.129 - juris Rn. 25)
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4. Der Senat hat auch die weiteren Argumente der Antragstellerin, die diese ausführlich vorgetragen hat, erwogen. Auch diese sind nicht geeignet, dem Antrag zum Erfolg zu verhelfen, ohne dass es einer ausdrücklichen Auseinandersetzung bedurft hätte.
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B. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Da die angegriffene Verordnung bereits mit Ablauf des 7. März 2021 außer Kraft tritt (§ 29 11. BayIfSMV), zielt der Eilantrag inhaltlich auf eine Vorwegnahme der Hauptsache, weshalb eine Reduzierung des Gegenstandswertes für das Eilverfahren nach Ziff. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 nicht angebracht ist.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).