Titel:
Keine Beihilfe für kieferorthopädische Zweitbehandlung einer über 18-Jährigen
Normenkette:
BayBhV § 15 S. 1
Leitsatz:
Wird die „Fortsetzung“ einer abgeschlossenen kieferorthopädischen Behandlung notwendig, ist grundsätzlich von einer Neubehandlung auszugehen; dies gilt vor allem dann, wenn zwischen den Behandlungen ein längerer Zeitraum vergangen ist, auch wenn die erste Behandlung fehlgeschlagen ist. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Beihilfe, Kieferorthopädische Zweitbehandlung bei einer Ü18-Jährigen, kieferorthopädische Behandlung, volljährig, Fortsetzung, Neubehandlung, Zweitbehandlung
Fundstelle:
BeckRS 2021, 37333
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt die Gewährung weiterer Beihilfeleistungen für eine kieferorthopädische Behandlung seiner Tochter. Der Kläger ist dem Grunde nach beihilfeberechtigt. Der Bemessungssatz zu krankheitsbedingten Aufwendungen seiner Tochter, geb. … … …, beträgt 80 v.H.
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Mit Formblatt vom 24. November 2020 beantragte der Kläger die Gewährung von Beihilfe für seine Tochter, u.a. für eine Rechnung des Zahnzentrums … vom … … … über einen Betrag von 1.879,83 € für eine kieferorthopädische Behandlung mit Invisalign-Schienen.
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Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 30. November 2020 wurde seitens des Beklagten von der Rechnung vom … … … ein Betrag von 0,00 € als beihilfefähig anerkannt und dem Kläger dementsprechend keine Beihilfe gewährt. Zur Begründung wurde mit Blick auf die Volljährigkeit der Tochter auf § 15 BayBhV verwiesen und um die Vorlage des Heil- und Kostenplans vom 4. Juni 2020 gebeten. Nach Vorlage dieses Plans durch den Kläger wies der Beklagte mit Schreiben vom 7. Dezember 2020 darauf hin, dass das Vorliegen einer schweren Kieferanomalie nicht ersichtlich sei. Auch sei kein beabsichtigtes kieferchirurgisches Vorgehen erkennbar.
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Mit Schreiben vom 20. Dezember 2020 legte der Kläger hiergegen Widerspruch ein. Die durchgeführten Behandlungen seien zum Erhalt der Zahngesundheit dringend notwendig gewesen.
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Der Widerspruch gegen den Beihilfebescheid vom 30. November 2020 wurde mit Widerspruchsbescheid vom 30. Dezember 2020 zurückgewiesen. Zur Begründung wurde auf das fehlende Vorliegen einer schweren Kieferanomalie und das alleinige kieferorthopädische Vorgehen verwiesen.
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Hiergegen hat der Kläger Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München erhoben.
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Der Klägerbevollmächtigte beantragte zuletzt sinngemäß,
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Unter Aufhebung des Bescheids des Beklagten vom 30. November 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Dezember 2020 wird der Beklagte verurteilt, an den Kläger 1.503,86 € zu zahlen.
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Zur Klagebegründung wurde ausgeführt, dass mit Vorlage eines Heil- und Kostenplans vom 11. Juni 2015 im Jahr 2015 mit der kieferorthopädischen Behandlung der Tochter begonnen worden sei. Die Behandlung sei seitens des Beklagten mit Schreiben vom 30. Juni 2015 als beihilfefähig anerkannt worden. Im Jahr 2020 habe lediglich die Behebung von Mängeln der früheren zahnärztlichen Behandlung stattgefunden. Der Kläger habe deswegen bei Antragstellung auch den neuen Heil- und Kostenplan nicht vorgelegt. Es handle sich nicht um den Beginn einer (neuen) Behandlung, sondern vielmehr um die Wiederaufnahme der ursprünglichen kieferorthopädischen Behandlung im Sinne eines Mängelbeseitigungsverfahrens. Aus einem undatierten vorgelegten Schreiben des behandelnden Kieferorthopäden mit der Überschrift „Kieferorthopädische Rezidivbehandlung“ ergibt sich, dass sich die Tochter nach „abgeschlossener“ Erstbehandlung im Laufe des Jahres 2019 im Frontzahnbereich ab und an in die Unterlippe gebissen habe. Dies sei dem Zahnarzt gegenüber nicht kommuniziert worden, da die Tochter dies nicht in Zusammenhang mit dem Retentionsverlust der Zähne gebracht habe. Erst im Jahr 2020 sei das Problem aufgrund des steigenden Leidensdrucks gegenüber dem Zahnarzt kommuniziert worden. Es habe sich herauskristallisiert, dass es zu einem kieferorthopädischen Rezidiv gekommen sei. Durch die darauffolgende kieferorthopädische Behandlung habe die normale Kaufunktion wiederhergestellt und der Behandlungserfolg durch eine Retention konserviert werden können. Eine zweite Stellungnahme des behandelnden Kieferorthopäden vom … … … wiederholte dies wortgleich mit Ausnahme des (nunmehr fehlenden) ersten Satzes.
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Der Beklagte beantragte,
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Zur Begründung wurde vorgetragen, dass die letzte auf die kieferorthopädische Behandlung aus 2015 zurückzuführende Maßnahme mit Rechnung vom … … … abgerechnet worden sei. Angesichts dieses Zeitraums stelle sich die Behandlung in 2020 nicht als Fortsetzung dar. Aus der Stellungnahme des Kieferorthopäden gehe gerade hervor, dass sich der weitere Behandlungsbedarf erst nach abgeschlossener Erstbehandlung herausgestellt habe. Zu diesem Zeitpunkt sei die Tochter des Klägers bereits volljährig gewesen.
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Der Beklagte hat mit Schreiben vom 1. März 2021, der Klägervertreter mit Schreiben vom 6. Mai 2021 auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichtet.
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Der Beklagte hat mit Schreiben vom 1. März 2021, der Klägervertreter mit Schreiben vom 18. November 2021 das Einverständnis mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin anstelle der Kammer erklärt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 S. 2 VwGO).
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage, über die nach übereinstimmender Erklärung der Beteiligten durch die Berichterstatterin und im schriftlichen Verfahren nach § 101 Abs. 2 VwGO entschieden werden konnte, hat keinen Erfolg, da sie unbegründet ist.
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I. Die Klage ist als Verpflichtungsklage in Form der Versagungsgegenklage statthaft, § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO. Denn bei einer verständigen Würdigung des klägerischen Begehrens gem. § 88 VwGO zielt der Antrag des Klägers auf den Erlass konkret bezifferter Leistungsbescheide ab, sodass der auf Verurteilung zur Zahlung gerichtete Klageantrag entsprechend als Antrag auf Erlass eines Verwaltungsaktes auszulegen ist.
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II. Für die rechtliche Beurteilung beihilferechtlicher Streitigkeiten ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Entstehens der Aufwendungen maßgeblich, für die Beihilfe verlangt wird (stRspr, vgl. statt aller BVerwG, U.v. 2.4.2014 - 5 C 40.12 - NVwZ-RR 2014, 609 Rn. 9). Die Aufwendungen gelten nach § 7 Abs. 2 Satz 2 BayBhV in dem Zeitpunkt als entstanden, in dem die sie begründende Leistung erbracht wird. Für die vorgenommene kieferorthopädische Behandlung entstehen Aufwendungen mit jeder Inanspruchnahme des Arztes (Mildenberger, Beihilferecht in Bund, Ländern und Kommunen, Stand: 1. Juli 2021, Bd. 2 Anm. 12 zu § 7 Abs. 2 BayBhV).
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Bei den streitgegenständlichen Behandlungen im August 2020 bestimmt sich die Beihilfefähigkeit daher nach Art. 96 Bayerisches Beamtengesetz (BayBG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 29. Juli 2008 (GVBl. S. 500), zuletzt geändert durch Gesetz vom 23. Dezember 2019 (GVBl. S. 724), und der Verordnung über die Beihilfefähigkeit von Aufwendungen in Krankheits-, Geburts-, Pflege- und sonstigen Fällen (Bayerische Beihilfeverordnung - BayBhV) vom 2. Januar 2007 (GVBl. S. 15) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 12. Oktober 2018 (GVBl. S. 794).
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III. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Gewährung einer Beihilfe in Höhe von 1.503,86 € hinsichtlich der mit Rechnung vom … … … abgerechneten Aufwendungen für die kieferorthopädische Behandlung seiner Tochter.
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Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 BayBhV sind Aufwendungen beihilfefähig, wenn sie dem Grunde nach medizinisch notwendig (Nr. 1), der Höhe nach angemessen (Nr. 2) sind und die Beihilfefähigkeit nicht ausdrücklich ausgeschlossen ist (Nr. 3).
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Hinsichtlich kieferorthopädischer Leistungen erfahren diese Grundsätze in § 15 BayBhV eine weitere Konkretisierung. Demnach sind Aufwendungen für kieferorthopädische Leistungen nur beihilfefähig, wenn vor Behandlungsbeginn (1.) ein Heil- und Kostenplan vorgelegt wird und (2.) die behandelte Person das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat (Satz 1). Die Altersbegrenzung nach Satz 1 Nr. 2 gilt nicht bei schweren Kieferanomalien, (1.) die eine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlung erfordern, sowie (2.) in besonderen Ausnahmefällen, wenn nach einem zahnärztlichen Gutachten (§ 48 Abs. 7) eine alleinige kieferorthopädische Behandlung medizinisch ausreichend ist (Satz 2).
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Da weder die Voraussetzungen des Satz 1 noch die des Satz 2 vorliegen, sind die geltend gemachten Aufwendungen nicht beihilfefähig.
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a) Es handelt sich nicht um Aufwendungen für kieferorthopädische Leistungen, für die vor Behandlungsbeginn ein Heil- und Kostenplan vorgelegt wurde und bei der die Tochter des Klägers das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, § 15 Satz 1 BayBhV.
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Die im Jahr 1997 geborene Tochter des Klägers hatte im Zeitpunkt der streitgegenständlichen kieferorthopädischen Leistungen im August 2020 unstreitig das 18. Lebensjahr vollendet.
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Aufwendungen, die nach Vollendung des 18. Lebensjahr entstehen, sind nach § 15 Satz 1 BayBhV dann beihilfefähig, wenn es sich um eine kieferorthopädische Behandlung handelt, die vor Vollendung des 18. Lebensjahrs begonnen wurde (vgl. Nr. 5 VV zu § 15 BayBhV). So liegt der Fall hier nicht.
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Die streitgegenständlichen Aufwendungen im August 2020 sind nicht Bestandteilt der im Jahr 2015 - im Zeitpunkt der Minderjährigkeit - begonnenen kieferorthopädischen Behandlung.
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In zeitlicher Hinsicht gilt insofern ein regelmäßiger Behandlungszeitraum von vier Jahren. Erweist sich eine aktive kieferorthopädische Weiterbehandlung als medizinisch erforderlich, ist Voraussetzung für die (zeitliche) Verlängerung die vorherige Anerkennung der Beihilfestelle im 16. Behandlungsquartal unter Vorlage eines neuen Heil- und Kostenplans, vgl. Nr. 3 Satz 1, 2,3 VV zu § 15 BayBhV. Auf diese Notwendigkeiten wurde der Kläger mit Schreiben vom 30. Juni 2015 ausdrücklich hingewiesen. Auch bei einer Weiterbehandlung hätte demnach die Vorlage eines neuen Heil- und Kostenplans erfolgen müssen. Insofern verfängt das klägerische Argument, er habe den Heil- und Kostenplan vom 4. Juni 2020 deswegen nicht vorgelegt, weil er selbst nicht von einer Neubehandlung ausgegangen sei, nicht. Hier fehlt es jedenfalls schon an einer solchen notwendigen Vorabanerkennung einer aktiven kieferorthopädischen Weiterbehandlung über vier Jahr durch die Beihilfestelle.
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Aber auch in der Sache stellen die streitgegenständlichen Leistungen keine Weiterbehandlung oder „Fortsetzung“ der kieferorthopädischen Behandlung aus 2015 dar. Eine Zweitbehandlung liegt z.B. vor, wenn nach einer gewissen Zeit nach Abschluss der (ersten) Retentionsphase erkennbar wird, dass die abgeschlossene Erstbehandlung nicht zum beabsichtigten Erfolg geführt hat (Mildenberger, Beihilferecht in Bund, Ländern und Kommunen, Stand 1. Juli 2021, Bd. 2, Anmerkung 6 zu § 15 BayBhV). Wird die „Fortsetzung“ einer abgeschlossenen kieferorthopädischen Behandlung notwendig, ist grundsätzlich von einer Neubehandlung auszugehen. Dies gilt vor allem dann, wenn zwischen den Behandlungen ein längerer Zeitraum vergangen ist, auch wenn die erste Behandlung fehlgeschlagen ist (VG München, U.v. 28.10.2010 - M 17 K 09.971 - juris Rn. 25 zu einem Zeitraum von drei Jahren; VG Köln, U.v. 24.8.2015 - 10 K 2616/14 - juris Rn. 26 zu einem Zeitraum von zwei Jahren; VG Saarland, U.v. 13.7.2011 - 6 K 1775/10 - juris Rn. 44 zu einem Zeitraum von sieben Jahren). Die im Jahr 2015 begonnene Behandlung wurde bereits im Jahr 2017 abgeschlossen. Die letzte hierauf zurückzuführende Maßnahme wurde mit Rechnung vom … … … abgerechnet, was eine Behandlungspause von knapp drei Jahren und damit in zeitlicher Hinsicht eine Neubehandlung darstellt. Die Einwendungen des Klägerbevollmächtigten, dass es sich lediglich um ein Mängelbeseitigungsverfahren hinsichtlich der Behandlung aus 2015-2017 gehandelt habe, führen angesichts der vorstehend ausgeführten Grundsätze zu keiner anderen Bewertung. Für die Frage der Neu- bzw. Zweitbehandlung kommt es nicht darauf an, ob sich die eigentlich schon korrigierte Fehlstellung erneut einstellt oder ob eine andere Fehlstellung eintritt.
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Die Einstufung als Neubehandlung wird durch die Ausführungen des behandelnden Kieferorthopäden bestätigt, wenn dieser von einer „abgeschlossenen Erstbehandlung“ und einer „kieferorthopädischen Rezidivbehandlung“ spricht. Auch erstellte der Arzt einen neuen Heil- und Kostenplan. Hierdurch wird deutlich, dass der Kieferorthopäde nicht eine noch nicht abgeschlossene Behandlung fortsetzen wollte, sondern ein neues Behandlungskonzept verfolgte (vgl. VG Saarland, U.v. 13.7.2011 - 6 K 1775/10 - juris Rn. 46).
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b) Auch ist die Altersgrenze des § 15 Satz 1 Nr. 2 BayBhV nicht nach § 15 Satz 2 BayBhV unanwendbar. Dies ist im Fall einer schweren Kieferanomalie gegeben, die eine kombinierte kieferchirurgische und kieferorthopädische Behandlung erfordert oder in einem besonderen Ausnahmefall, in dem nach einem zahnärztlichen Gutachten eine alleinige kieferorthopädische Behandlung medizinisch ausreichend ist.
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Es ist weder vorgetragen noch sind Anhaltspunkte ersichtlich, dass die Tochter des Klägers unter einer schweren Kieferanomalie leidet. Zudem ist lediglich eine kieferorthopädische Behandlung beabsichtigt und durchgeführt worden.
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c) Ein Beihilfeanspruch ergibt sich schließlich auch nicht aus dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes wegen des früheren Erstattungsverhaltens des Beklagten.
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Ausweislich der vorgelegten Behördenakte hat der Beklagte Aufwendungen im Zusammenhang mit der streitgegenständlichen kieferorthopädischen Neubehandlung im Juni 2020 und Juli 2020 mit Bescheid vom 13. August 2020 als beihilfefähig anerkannt. Aus der einfachen kommentarlosen Gewährung von Beihilfe kann aber nicht schutzwürdig auf eine Fortsetzung der Anerkennungspraxis geschlossen werden. Die Bewilligung der Beihilfe gilt nur für die gewährte Beihilfe und nicht für künftige Aufwendungen (OVG Hamburg, U.v. 24.9.2004 - 1 Bf 47/01 - juris Rn. 55). Bei jedem neuen Beihilfeantrag muss die Festsetzungsstelle prüfen, ob die rechtlichen Voraussetzungen für eine Beihilfegewährung gegeben sind (OVG Saarl, U.v. 9.3.2009 - 1 A 148/08 - juris Rn. 60).
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IV. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.