Inhalt

VG München, Urteil v. 10.11.2021 – M 18 K 17.5671
Titel:

Kostenerstattung, Vorrang-Nachrang-Verhältnis, Konkurrenz zwischen Jugend- und Sozialhilfeleistungen, Begriff der geeigneten Wohnform, Hilfe zur Erziehung

Normenketten:
SGB X § 104
SGB VIII § 10
SGB VIII § 19
SGB VIII § 31
Schlagworte:
Kostenerstattung, Vorrang-Nachrang-Verhältnis, Konkurrenz zwischen Jugend- und Sozialhilfeleistungen, Begriff der geeigneten Wohnform, Hilfe zur Erziehung
Fundstelle:
BeckRS 2021, 35346

Tenor

I.Die Klage wird abgewiesen.
II.Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.  

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt vom Beklagten Kostenerstattung für die der Hilfeempfängerin A.M. im Zeitraum vom 1. März 2016 bis 23. August 2018 gewährten Sozialhilfeleistungen in Höhe von 24.993,14 EUR.
2
Die Hilfeempfängerin A.M., geb. am … … 1987, ist Mutter zweier Söhne, geb. am … … 2007 sowie am … … 2012, und lebte mit diesen im streitgegenständlichen Zeitraum in verschiedenen Wohnungen in A. im Kreisgebiet des Beklagten.
3
Am 1. März 2016 beantragte der Leistungserbringer C. beim Kläger als Sozialhilfeträger die Übernahme von Kosten für durch C. zu erbringendes betreutes Einzelwohnen für die Hilfeempfängerin ab dem 1. März 2016. Dem zwischen der Hilfeempfängerin und C. geschlossenen Betreuungsvertrag zufolge, der dem Antrag beigefügt wurde, werde im Rahmen des betreuten Einzelwohnens ein individuelles Therapieprogramm erstellt, welches als Schwerpunkte u.a. Hilfen zur selbstständigen Alltagsbewältigung und bei der Bewältigung von Krisen und Konflikten, Beratung bei psychischen und lebenspraktischen Problemen sowie Hilfestellung beim Aufbau von sozialen Kontakten beinhalten könne.
4
Im Rahmen des Antragsprozesses übersandte C. im Folgenden verschiedene Unterlagen an den Kläger, darunter einen Bericht des die Hilfeempfängerin seit 2003 behandelnden Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. vom 24. März 2016. Bei der Hilfeempfängerin seien demnach ein episodischer Cannabis-Abusus (ICD-10: F 12.1 G), ein depressives Syndrom mit Ängsten (ICD-10: F 41.1 G) sowie eine Anpassungsstörung bei schwieriger psychosozialer Lebenssituation (ICD-10: F 43.2 G, Z 73 G) diagnostiziert worden. Die Hilfeempfängerin befände sich zudem in einem Zustand nach Polytoxikomanie (ICD-10: F 19.2 Z). Durch die seelische/psychische Behinderung sowie die Suchterkrankung sei die Fähigkeit der Hilfeempfängerin zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in den Bereichen „Arbeit, arbeitsähnliche Tätigkeiten“, „Tagesgestaltung, Freizeitgestaltung“ sowie „Kommunikation und soziale Beziehungen“ eingeschränkt bzw. sei eine solche Einschränkung mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Die Hilfeempfängerin benötige dringend psychosoziale Hilfe und Unterstützung zur Realisierung langfristiger Drogenabstinenz, zur Schaffung eines drogenfreien sozialen Umfelds, sowie Hilfe bei der Bewältigung von Krisen und bei der Betreuung ihrer beiden Söhne.
5
Mit Schreiben vom 27. Mai 2016 leitete der Kläger die Antragsunterlagen an den Beklagten weiter und bat um Bearbeitung in eigener Zuständigkeit, da der Fall nach § 19 SGB VIII zu behandeln sei.
6
Der Leistungserbringer C. übersandte dem Kläger im Folgenden unter dem 31. Mai 2016 einen Berichtsbogen zum Ergebnis der vorläufigen Hilfeplanung (HEB-Bogen Teil A). Zur Beschreibung der aktuellen Situation der Hilfeempfängerin ist darin unter dem Punkt „Aufnahme und Gestaltung persönlicher, sozialer Beziehungen“ ausgeführt, dass sich die Hilfeempfängerin um ein gutes Verhältnis zu ihren Kindern bemühe; es sei ihr dabei wichtig, mehr eigene Verantwortung zu übernehmen und ihren Kindern eine verlässliche Mutter zu sein. Aktuell würden sich diese zur mehrwöchigen Diagnostik im Kinderzentrum M. befinden. Die Hilfeempfängerin begleite sie tagklinisch und erhalte selbst Therapie und Anleitung im Umgang mit ihren Söhnen. Viel Gewalt in der damaligen Beziehung der Eltern habe sich sehr negativ auf die psychosoziale Entwicklung der Söhne ausgewirkt. Für die nächsten zwölf Monate seien daher sozialtherapeutische Gespräche sowie eine ambulante Psychotherapie zur Stabilisierung und Sicherheit im Umgang mit den Söhnen sowie zur eigenen psychischen Stabilisierung geplant. Der HEB-Bogen beschreibt des Weiteren die Problemlagen der Hilfeempfängerin in Bezug auf die Punkte „Selbstversorgung und Wohnen“, „Arbeit/ Ausbildung“, „Tagesgestaltung, Freizeit, Teilnahme am gesellschaftlichen Leben“ sowie „Umgang mit den Auswirkungen der Behinderung“. U.a. sei demnach der Umgang mit finanziellen Ressourcen in den Vordergrund der Beratung getreten. Der Hilfeempfängerin falle es zudem schwer, ihren Alltag zu organisieren. Des Weiteren gelinge ihr die gesundheitliche Selbstfürsorge - im Gegensatz zur Versorgung der Kinder, welche sie nach eigenen Aussagen sehr ernst nehmen würde - noch nicht.
7
Mit Schreiben vom 16. Juni 2016 sandte der Beklagte die Antragsunterlagen unter Ablehnung der eigenen Zuständigkeit an den Kläger zurück. Eine ambulante Betreuung der Mutter mit dem Kind in einer eigens angemieteten Wohnung wie im vorliegenden Fall sei von § 19 SGB VIII nicht erfasst. Eine organisatorische, fachliche und personelle Infrastruktur, welche für diese Hilfeform prägend sei, sei dabei nicht gegeben.
8
Mit Schreiben vom 5. Juli 2016 teilte der Kläger dem Leistungserbringer C. mit, dass der Beklagte im Fall der A.M. eine Zuständigkeit abgelehnt habe und der Kläger als erstangegangener Träger nach Vorlage aller notwendigen Unterlagen über den Antrag entscheiden werde.
9
Mit Bescheid vom 10. Oktober 2016 bewilligte der Kläger sodann für den Zeitraum vom 1. März 2016 bis 28. Februar 2017 die Übernahme der Kosten für betreutes Einzelwohnen für die Hilfeempfängerin nach §§ 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 55 Abs. 2 Nr. 6 SGB IX (Anm. des Gerichts: in der damals gültigen Fassung).
10
Mit Schreiben vom selben Tage meldete der Kläger beim Beklagten einen Erstattungsanspruch in Bezug auf die bewilligten Leistungen ab dem 1. März 2016 gestützt auf § 102 SGB X an. Der Kläger gewähre die Kosten für das betreute Einzelwohnen für A.M. als erstangegangener Träger als vorläufige Leistung gemäß § 43 SGB I. Die Hilfeempfängerin habe einen nach § 10 Abs. 4 SGB VIII vorrangigen Anspruch der Jugendhilfe gemäß § 19 SGB VIII gegen den Beklagten. Der Terminus „geeignete Wohnform“ i.R.d. § 19 SGB VIII bedeute keineswegs, dass es sich hierbei zwangsweise um eine Einrichtung mit (teil-)stationärem Charakter handeln müsse. Auch jede sonstige betreute Wohnform, die geeignet sei, die notwendige Betreuung sicherzustellen, sei gemeint. Bei der Betreuung in einer geeigneten Wohnform stelle der Anbieter, hier C., sicher, dass die Mutter im Bedarfsfall auf die organisatorischen, fachlichen und persönlichen Ressourcen eines Hilfesystems zugreifen könne. Dies sei hier der Fall, sodass alle Merkmale des § 19 SGB VIII vorhanden seien. Allein die Tatsache, dass die Hilfeempfängerin den Mietvertrag mit einem privaten Vermieter und nicht mit dem Anbieter von Betreuungsleistungen abgeschlossen habe, stehe dem nicht entgegen. Alle vorliegenden Berichte würden zeigen, dass die Hilfen von A.M. ausschließlich und nur deshalb beantragt worden seien, um Unterstützung bei der Pflege und Erziehung der beiden Kinder zu erhalten. Die Gesundheit und das Wohlergehen der Hilfeempfängerin selbst nehme in den Betreuungsleistungen bisher nur geringen Raum ein und trete hinter den Bedürfnissen der Kinder in den Hintergrund.
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Mit Schreiben vom 13. Dezember 2016 bat der Kläger den Beklagten um Anerkennung des Erstattungsanspruchs gemäß § 104 SGB X, da der Kläger nur nachrangig verpflichteter Leistungsträger i.S.v. § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X sei.
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Der Beklagte erwiderte daraufhin mit Schreiben vom 5. Januar 2017, dass eine Leistung nach § 19 SGB VIII zwar grundsätzlich auch in einer eigens angemieteten Privatwohnung erbracht werden könne, notwendig sei insoweit jedoch, dass Unterkunft und Betreuung in der Verantwortung eines Trägers nach dessen Hilfekonzept erfolgen würden. Vorliegend erfolge die Lebensführung jedoch eigenverantwortlich und es werde lediglich ergänzend ambulante Hilfe gewährt. Es handele sich daher nicht um eine Betreuung in einer geeigneten Wohnform im Sinne des § 19 SGB VIII.
13
Mit Schreiben vom 27. Februar 2017 beantragte der Leistungserbringer C. für A.M. die Weiterbewilligung der Kostenübernahme für das betreute Einzelwohnen ab dem 1. März 2017 und übersandte dem Kläger im Folgenden den aktuellen Entwicklungsbericht (HEB-Bogen Teil B) der Hilfeempfängerin vom 3. März 2017. Hinsichtlich deren Entwicklung im Bereich „Persönliche, soziale Beziehungen“ wird ausgeführt, dass die Hilfeempfängerin nach wie vor im Spannungsfeld zwischen ihrer eigenen Familie, dem Ex-Partner und dessen Familie sowie den Bedürfnissen ihrer beiden Söhne stehe. Darüber hinaus habe die Hilfeempfängerin Probleme, ihr Geld angemessen einzuteilen und benötige weiterhin Unterstützung beim Umgang mit ihren knappen finanziellen Ressourcen. Auch im Umgang mit Unterlagen und Behördenangelegenheiten müsse sie mehr in die Eigenverantwortung kommen. Sie lasse sich schnell von persönlichen Problemen ablenken und gerate so in die Überforderung.
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Der Kläger bewilligte der Hilfeempfängerin mit Bescheid vom 19. April 2017 die Weitergewährung der Hilfe vom 1. März 2017 bis zum 28. Februar 2019 und meldete mit Schreiben vom selben Tag beim Beklagten einen weiteren Erstattungsanspruch gemäß § 102 SGB X für die Zeit ab dem 1. März 2017 an.
15
Mit weiterem Schreiben vom 19. Juni 2017, bat der Kläger den Beklagten letztmalig um Anerkennung des Kostenerstattungsanspruchs. Wie im Urteil des LSG München vom 10. Mai 2016 (Az.: L 8 SO 46/15) dargelegt werde, könne das betreute Einzelwohnen in einer selbst angemieteten Wohnung stattfinden. Zwar werde in vorgenanntem Urteil auch ausgeführt, dass die Verantwortung an ein Hilfesystem eines Trägers gekoppelt sein müsse, allerdings sei hiermit wohl gemeint, dass die Betreuung nach fachlichen Standards sichergestellt werden soll, was auch bei einem ambulant betreuten Einzelwohnen in der eigenen Wohnung der Fall sei. Zudem mache es im Hinblick auf den Bedarf und die Betreuung keinen Unterschied, ob die Maßnahme in der Wohnung des Anbieters oder eines Dritten durchgeführt werde.
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Der Beklagte lehnte die Kostenerstattung mit Schreiben vom 14. September 2017 weiterhin ab.
17
Mit Schriftsatz vom 4. Dezember 2017, eingegangen am 5. Dezember 2017, erhob der Kläger Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München mit dem Antrag:
18
Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die für die Leistungsberechtigte A.M. im Zeitraum vom 1. März 2016 bis 31. Oktober 2017 erbrachten Sozialhilfeaufwendungen in Höhe von 16.751,32 EUR sowie die ab 1. November 2017 weiterhin zu erbringenden Sozialhilfeleistungen zu erstatten.
19
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass ein Anspruch des Klägers nach § 104 SGB X bestehe, da die Leistungsberechtigte A.M. gemäß § 19 SGB VIII einen vorrangigen Anspruch auf Jugendhilfeleistungen gegen den Beklagten habe. Die Voraussetzungen des § 19 SGB VIII lägen - aus den bereits dargelegten Gründen - vor.
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Mit Schriftsatz vom 26. April 2018 nahm der Beklagte zur Klage Stellung und beantragte,
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die Klage abzuweisen.
22
Zur Begründung wurde vorgetragen, dass der Leistungsberechtigten kein Anspruch nach § 19 SGB VIII zustehe. Es liege im streitgegenständlichen Fall keine geeignete Wohnform gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII vor. Ergänzend zu den bereits vorgebrachten Argumenten führte der Beklagte aus, dass das in der Klageschrift zitierte Urteil des LSG München auf den streitgegenständlichen Sachverhalt nicht anwendbar sei. Diesem habe die Nachbetreuung einer Kindsmutter mit ihrer Tochter zugrunde gelegen, die zuvor in einer klassischen stationären Einrichtung nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII untergebracht worden sei. Diese Nachbetreuung sei durch den Leistungserbringer erfolgt, der zuvor auch die stationäre Jugendleistung erbracht habe. Insofern sei hier eine konzeptionelle sowie organisatorische Anbindung an den Leistungserbringer im Gegensatz zum streitgegenständlichen Fall gegeben gewesen.
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Des Weiteren werde der Interpretation des Klägers widersprochen, wonach eine Wohnung bereits dann an ein Hilfesystem des Trägers gekoppelt sei, wenn die Betreuung nach fachlichen Standards sichergestellt sei. Dies sei nicht ausreichend, vielmehr müsse eine Wohnung i.S.d. § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII u.a. konzeptionell an eine Einrichtung angebunden sein. Auch könne nicht dahinstehen, ob die Betreuung in der Wohnung eines Anbieters oder eines Dritten durchgeführt werde. Wie eine Wohnung angebunden sei, sei maßgeblich für die Frage des Vorliegens einer stationären Leistung. Würde der Ansicht des Klägers gefolgt werden, wäre die Durchführung einer ambulanten Leistung in einer Privatwohnung im Ergebnis kaum mehr möglich.
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Im Übrigen fehle es an dem erforderlichen Hilfebedarf i.S.d. § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, der auf Hilfe zur Erziehung gerichtet sei. Dieser sei gegeben, wenn ein Defizit bei dem allein erziehenden Elternteil kausal zu einem Defizit beim Kind führe. Im vorliegenden Fall sei durch den Beklagten ab Dezember 2007 eine sozialpädagogische Familienhilfe nach § 31 SGB VIII gewährt worden, aufgrund derer eine Stabilisierung und Verbesserung der Gesamtsituation innerhalb der Familie habe erreicht werden können. Zum 31. August 2015 sei diese Maßnahme erfolgreich abgeschlossen worden. Ein weiterer erzieherischer Hilfebedarf sei nicht festgestellt worden; nach der pädagogischen Einschätzung des Beklagten gelinge der Leistungsberechtigten die Erziehung der beiden Söhne. Die Leistungen von C. würden sich ausschließlich auf den Eingliederungshilfebedarf der Mutter beziehen.
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Weiterhin sei zu beachten, dass bei Vorliegen einer stationären Jugendhilfemaßnahme nach § 19 Abs. 3 SGB VIII der Unterhalt der leistungsberechtigten Personen (Mietkosten, Verpflegung etc.) vollständig sicherzustellen sei. Im streitgegenständlichen Fall werde jedoch ausschließlich eine ambulante Betreuung erbracht; der Lebensunterhalt müsse selbst bestritten werden.
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Der Kläger erwiderte hierauf mit Schriftsatz vom 7. Mai 2018, dass sich die Leistungserbringung durch C. auch auf den Umgang der Leistungsberechtigten mit ihren Kindern bezogen habe. So sei im Hilfeplanungsbogen vom 31. Mai 2016 als eines der Rahmenziele neben der psychischen Stabilisierung der Mutter auch die Stabilisierung und die Sicherheit im Umgang mit den Söhnen genannt. Des Weiteren erfasse § 19 SGB VIII entgegen der Ansicht des Beklagten nicht nur stationäre Leistungen. Dies würde aus dem Vergleich zu § 34 SGB VIII deutlich werden, welcher ebenfalls den Begriff „Wohnform“ verwenden würde, wobei diese sowohl ambulant als auch stationär sein könne.
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In den Schriftsätzen des Beklagten vom 20. Juni 2018 und vom 5. November 2018 sowie im Schriftsatz des Klägers vom 29. Juni 2018 wurden die bereits genannten Argumente im Wesentlichen wiederholt bzw. weiter vertieft.
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Mit Schriftsatz vom 8. Oktober 2020 bzw. vom 8. März 2021 teilten Kläger und Beklagter mit, auf mündliche Verhandlung verzichten zu wollen.
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Der Kläger führte überdies mit Schriftsatz vom 4. Oktober 2021 aus, dass die Maßnahme des betreuten Einzelwohnens zum 23. August 2018 beendet worden sei und somit ein Erstattungsanspruch für den Zeitraum vom 1. März 1016 bis zur Beendigung der Leistungserbringung am 23. August 2018 geltend gemacht werde. Dieser belaufe sich insgesamt auf 24.993,14 EUR.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakte sowie auf die vorgelegten Behördenakten verwiesen.

Entscheidungsgründe

31
Die zulässige Klage, über die das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden kann, ist unbegründet.
32
Ein Anspruch des Klägers gegen den Beklagten auf Kostenerstattung in Bezug auf die im Zeitraum 1. März 2016 bis 23. August 2018 bewilligten Leistungen des betreuten Einzelwohnens für die Hilfeempfängerin A.M. besteht nicht.
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Als Anspruchsgrundlage für die geltend gemachte Kostenerstattung kommt vorliegend allein § 104 SGB X in Betracht.
34
§ 102 SGB X, auf den sich der Kläger zunächst im Verwaltungsverfahren berufen hat und wonach ein Leistungsträger erstattungsberechtigt ist, der aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat, ist hingegen nicht einschlägig. Der Kläger hat als Sozialhilfeträger nach §§ 53, 54 SGB XII (i.d.F. vom 27.12.2013 bzw. 29.8.2013) die Leistung originär und nicht lediglich vorläufig erbracht. Dass der Hilfeempfängerin ein Anspruch auf (sozialhilferechtliche) Eingliederungshilfe zustand, ist eindeutig und wurde vom Kläger auch nicht in Zweifel gezogen. Streitgegenständlich ist vorliegend allein die im Rahmen des § 104 SGB X zu behandelnde Frage, ob neben dem sozialhilferechtlichen Anspruch der Hilfeempfängerin auch ein - vorrangiger - Anspruch auf Jugendhilfe gegen den Beklagten bestand.
35
Gemäß § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat und - wie hier - weder die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen noch der (vorrangige) Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat.
36
Ein entsprechender Erstattungsanspruch nach diesen Bestimmungen setzt damit voraus, dass Leistungspflichten (mindestens) zweier Leistungsträger nebeneinander bestehen und miteinander konkurrieren, wobei die Verpflichtung eines der Leistungsträger der Leistungspflicht des anderen nachgehen muss (vgl. BVerwG, U.v. 9.2.2012 - 5 C 3/11 - juris Rn. 26).
37
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben. Zwar sieht § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII (in der im streitgegenständlichen Zeitraum gültigen Fassung vom 11.9.2012) einen grundsätzlichen Vorrang der Jugendhilfe vor Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch, dem die sozialhilferechtlichen Eingliederungsleistungen hier unterfallen, vor. Eine Leistungspflicht des Beklagten nach jugendhilferechtlichen Vorschriften bestand im vorliegenden Fall jedoch nicht.
38
Der Hilfeempfängerin A.M. stand entgegen der Auffassung des Klägers im streitgegenständlichen Zeitraum kein Anspruch auf die von C. erbrachten Leistungen des betreuten Einzelwohnens nach § 19 SGB VIII zu.
39
Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII (i.d.F. vom 11.9.2012) sollen Mütter oder Väter, die allein für ein Kind unter sechs Jahren zu sorgen haben oder tatsächlich sorgen, gemeinsam mit dem Kind in einer geeigneten Wohnform betreut werden, wenn und solange sie auf Grund ihrer Persönlichkeitsentwicklung dieser Form der Unterstützung bei der Pflege und Erziehung des Kindes bedürfen.
40
Die Betreuung der Hilfeempfängerin und deren Kinder, von denen das jüngste zumindest bei Beginn der Hilfe noch unter sechs Jahre alt war, unterfällt bereits nicht dem Anwendungsbereich des § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII.
41
In der Praxis besteht hinsichtlich der von § 19 SGB VIII erfassten „Wohnform“ je nach Betreuungsintensität und abhängig vom Hilfebedarf der Mütter/Väter eine Vielfalt unterschiedlicher Konzeptionen und Modelle, die auch Wohnformen einbezieht, die in stärkerem Umfang auf Verselbstständigung und selbstverantwortliche Lebensführung ausgerichtet sind (vgl. Struck in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 19 Rn. 11 f.; Telscher in: Schlegel/Voelzke, SGB VIII, 2. Aufl., Stand: 2.8.2021, § 19 Rn. 44; Struck in: Münder/Meysen/Trenczek, SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 19 Rn. 10). Grundsätzlich kann daher im Einzelfall auch die Betreuung im Rahmen des betreuten Einzelwohnens eine geeignete Wohnform i.S.d. § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII darstellen. Erforderlich ist dabei in Abgrenzung zu anderen (ambulanten) Hilfeformen jedoch die organisatorische, fachliche und personelle Anbindung an das Hilfesystem eines Trägers. Die Wohnung muss sich insoweit also als dezentraler Teil einer Einrichtung darstellen (vgl. DIJuF, JAmt 2019, 146, 147; Struck in Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 19 Rn. 11).
42
Eine solche Organisationsform ist mit dem hier vorliegenden betreuten Einzelwohnen durch den Leistungserbringer C. nicht verbunden. Der Hilfeempfängerin obliegt ihre Lebensführung eigenverantwortlich; durch C. wird lediglich sozialpsychiatrische Betreuung und Begleitung geleistet, die zu vereinbarten Terminen in der eigenen Wohnung der Hilfeempfängerin stattfindet. Der Hilfe, die im Rahmen des § 19 SGB VIII geleistet wird, entspricht dies nicht. Allein die Tatsache, dass die Betreuung nach fachlichen Standards erfolgt, ist entgegen der Auffassung des Klägers unter Berufung auf das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 10. Mai 2016 - Az.: L 8 SO 46/15 - nicht ausreichend für das Vorliegen einer Wohnform i.S.d. § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII. Abgesehen davon, dass diese vom Kläger getroffenen Schlussfolgerung der zitierten Entscheidung nicht zu entnehmen ist, ist dieser in ihrer Pauschalität nicht zu folgen. Eine Betreuung nach fachlichen Standards sollte in jedweder Betreuungsform erfolgen und ist als Abgrenzungskriterium damit untauglich. Dem Urteil, welches der Kläger als Stütze seiner Argumentation heranzieht, lag überdies ein mit dem vorliegenden nicht zu vergleichender Sachverhalt zugrunde. Das im dortigen Fall als Wohnform gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII eingeordnete Einzelwohnen beschreibt das Landessozialgericht in seiner Entscheidung als „Teil eines Gesamtkonzeptes mit der stationären Einrichtung im gleichen Haus“, welches vorwiegend als Anschlussmaßnahme für Mütter, die zuvor eine klassische Mutter/Vater-Kind-Einrichtung besucht hätten, fungiere. Das Konzept des dort streitgegenständlichen betreuten Wohnens sehe eine ständige Leistungsbereitschaft wochentags und am Wochenende nach Absprache und eine Anknüpfung an die stationäre Einrichtung vor. Dass ein derartiges Konzept der Leistungserbringung hier nicht vorliegt, dürfte auf der Hand liegen. Im Rahmen des betreuten Wohnens werden im streitgegenständlichen Fall rein ambulante Betreuungsleistungen erbracht, ohne dass diese in irgendeiner Form an ein übergeordnetes Hilfesystem gekoppelt wären. Ein Anspruch der Hilfeempfängerin nach § 19 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII scheidet daher bereits mangels Vorliegen einer geeigneten Wohnform aus.
43
Auch ein in Hinblick auf die erbrachten Leistungen denkbarer Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII, z.B. in Form einer sozialpädagogischen Familienhilfe, § 31 SGB VIII, ist vorliegend nicht gegeben. Eine für Hilfe zur Erziehung im Generellen notwendige erzieherische Mangellage ist in Hinblick auf die Hilfeempfängerin und deren Kinder nicht zu erkennen.
44
§ 27 Abs. 1 SGB VIII gewährt dem Personensorgeberechtigten bei der Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen einen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung, wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Die Norm setzt demnach das Vorliegen einer erzieherischen Mangellage im Hinblick auf das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen voraus. Ob eine Mangellage vorliegt, bemisst sich daran, ob die Erziehung durch die Eltern dem Kindeswohl entspricht (vgl. Nellissen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. (Stand: 26.04.2021), § 27, Rn. 42). Werden die in der konkreten Familiensituation erreichbaren Standards für eine gelungene geistige, körperliche oder seelische Entwicklung des Kindes nicht erreicht und ist dadurch das Kindeswohl gefährdet, liegt ein Erziehungsdefizit vor. Das Defizit ist hierbei nicht am Maßstab eines erzieherischen Optimums (bestmögliche Erfüllung des Kindeswohls), sondern an dem des „erzieherischen Minimums“ (keine Gefährdung des Kindeswohls) zu messen (vgl. Kunkel/Kepert in: Kunkel/Kepert/Pattar, SGB VIII, 7. Aufl. 2018, § 27 Rn. 2).
45
Anhaltspunkte dafür, dass im vorliegenden Fall ein Erziehungsdefizit im Sinne einer (drohenden) Gefährdung für die geistige, körperliche oder seelische Entwicklung der beiden Kinder der Hilfeempfängerin im Leistungszeitraum vorlag, bestehen vorliegend nicht.
46
Laut dem ärztlichen Bericht vom 24. März 2016 hätten bei der Hilfeempfängerin, die sich in einem Zustand nach Polytoxikomanie (ICD-10: F 19.2 Z) befunden habe, ein depressives Syndrom mit Ängsten (ICD-10: F 41.1 G) sowie eine Anpassungsstörung bei schwieriger psychosozialer Lebenssituation (ICD-10: F 43.2 G, Z 73 G) vorgelegen. Die Fähigkeit der Hilfeempfängerin zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft in den Bereichen „Arbeit, arbeitsähnliche Tätigkeiten“, „Tagesgestaltung, Freizeitgestaltung“ sowie „Kommunikation und soziale Beziehungen“ sei aufgrund dessen eingeschränkt bzw. mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten gewesen. Dementsprechend identifizierte auch der von C. erstellte Sozialbericht vom 28. April 2016 mehrere Problemlagen in verschiedenen Bereichen und legte als eines der Förderziele des betreuten Einzelwohnens u.a. die langfristige psychische und emotionale Stabilisierung der Hilfeempfängerin fest. Entgegen der Auffassung des Klägers beschreibt jedoch weder der Sozialbericht vom 28. April 2016 noch der HEB-Bogen vom 31. Mai 2016 (Teil A - Ergebnis der vorläufigen Hilfeplanung) oder vom 3. März 2017 (Teil B - Entwicklungsbericht) ein Erziehungsdefizit, welches die Gewährung von Hilfe zur Erziehung nach §§ 27 ff. SGB VIII erforderlich gemacht hätte.
47
Das Gericht verkennt dabei nicht, dass die genannten Berichte (natürlich) auch die Lebenssituation der Hilfeempfängerin in Bezug auf die Beziehung zu ihren Kindern in den Blick nehmen. Nach § 4 Abs. 1 Nr. 4 SGB IX (in der insoweit mit der aktuellen Fassung vom 23. Dezember 2016 deckungsgleichen damals gültigen Fassung) sollen Leistungen zur Teilhabe - wie vorliegend das betreute Einzelwohnen - die persönliche Entwicklung des Hilfeempfängers ganzheitlich fördern und die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft sowie eine möglichst selbständige und selbstbestimmte Lebensführung ermöglichen oder erleichtern. Der ab 1. August 2018 geltende § 4 Abs. 4 SGB IX stellt überdies klar, dass Leistungen zur Teilhabe auch Leistungen für Mütter und Väter mit Behinderungen zur Versorgung und Betreuung ihrer Kinder umfassen (vgl. Gesetzesbegründung, BT-Drucksache 18/9522 S. 228). Grundsätzlich muss also der im Rahmen der sozialhilferechtlichen Eingliederungshilfe Leistungsberechtigte „in seiner jeweiligen Lebenslage und seiner individuellen Beeinträchtigung berücksichtigt werden“ (vgl. BT-Drucksache 18/9522 S. 227). Dementsprechend wurden auch in der (sozialhilferechtlichen) Hilfeplanung vorliegend Aspekte aufgenommen, die die Mutter-Kind-Beziehung betreffen, ohne dass dies für sich genommen auf einen jugendhilferechtlichen Bedarf hinweist.
48
Des Weiteren verkennt das Gericht nicht, dass sowohl die Hilfeempfängerin selbst als auch der die Leistung erbringende Dienst der C. offensichtlich davon ausgingen, dass in Bezug auf das Verhältnis der Hilfeempfängerin zu ihren Kindern noch Verbesserungspotential bestand. So führt der Sozialbericht vom 28. April 2016 beispielsweise aus, dass die Hilfeempfängerin in Zukunft eigenständiger und eigenverantwortlicher für ihre kleine Familie sorgen können möchte. Auch nennt der HEB-Bogen vom 31. Mai 2016 als eines der Planungsziele „Stabilisierung und Sicherheit im Umgang mit den Söhnen“. Dass die Hilfeempfängerin durch die ergriffenen Maßnahmen - möglicherweise auch in erster Linie - ihren Söhnen eine bessere Mutter sein wollte, bedeutet jedoch im Umkehrschluss nicht, dass bereits eine erzieherische Mangellage eingetreten war und die Hilfeempfängern eine dem Kindeswohl entsprechende Erziehung nicht mehr gewährleisten konnte. Gerade dies müsste jedoch eindeutig feststellbar sein, um den sozialrechtlichen Eingliederungshilfebedarf von einem jugendhilferechtlichen Erziehungsbedarf abzugrenzen.
49
Unter Berücksichtigung des Sozialberichts und der HEB-Bögen sowie angesichts der Tatsache, dass der Beklagte im Jahr 2015 eine in der Familie installierte, bis dahin über sieben Jahre laufende sozialpädagogische Erziehungshilfe - nach eigenen Angaben erfolgreich - hat beenden können, ist ein erzieherischer Bedarf, der eine Hilfe zur Erziehung nach den §§ 27 ff. SGB VIII nötig gemacht hätte, vorliegend abzulehnen. Die von § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII vorausgesetzte und für einen Anspruch nach § 104 SGB X erforderliche Vorrang-Nachrang-Konstellation zwischen Jugendhilfeleistungen und Leistungen der Sozialhilfe ist demnach nicht gegeben. Die Klage war daher abzuweisen.
50
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
51
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils und die Abwendungsbefugnis haben ihre Rechtsgrundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.