Inhalt

LG Regensburg, Beschluss v. 11.11.2021 – SR StVK 1144/21
Titel:

Aussetzung des Vollzugs des Widerrufs eines Urlaubs

Normenketten:
StVollzG § 114 Abs. 2 S. 1
BayStVollzG Art. 16 Abs. 2
Leitsätze:
1. Der Hinweis, dass der Urlaub nur gewährt werden könne, wenn die Coronalage dies zulasse, ändert nichts an der Einstufung des Urlaubs als genehmigt. Es handelt sich lediglich um einen bloßen Hinweis im Sinne einer Meinungsäußerung. Eine konkrete Bedingung ist nicht darin zu erblicken. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die aktuelle Coronalage steht der Bewilligung von Vollzugslockerungen nicht grundsätzlich entgegen. (Rn. 32) (redaktioneller Leitsatz)
3. Führt die (summarische) Prüfung zu dem Ergebnis, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig und der Antragsteller dadurch in seinen Rechten verletzt ist, kann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts bestehen. (Rn. 88) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Hinweis, Coronalage, Vollzugslockerungen, offensichtlich rechtswidrig, öffentliches Interesse, sofortige Vollziehung
Fundstelle:
BeckRS 2021, 35002

Tenor

1. Der Vollzug der angefochtenen Maßnahme (Widerruf des Urlaubs für den 12.11.) wird ausgesetzt.
2. Die Staatskasse trägt die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Antragstellers.
3. Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 100 € festgesetzt.

Gründe

I.
1
Der Antragsteller befindet sich in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt S. im offenen Vollzug und greift im einstweiligen Rechtsschutz den Widerruf eines bewilligten Urlaubs für den 12.11.2021 bis 14.11.2021 an.
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Mit Schreiben vom 09.11.2021, hier eingegangen am 10.11.2021, hat der Antragsteller eine gerichtliche Entscheidung nach § 114 StVollzG beantragt. Konkret beantragt er, dass der Widerruf seines für den 12.11.2021 an sich genehmigten Urlaubs im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes aufgehoben werde und er seinen Urlaub wahrnehmen könne. Der Urlaub sei im Hinblick auf die rote Corona - Ampel widerrufen worden. Er sei jedoch 2-fach geimpft, so dass für ihn eigentlich 2 G gelten müsse. Alle Gefangenen im offenen Vollzug wären geimpft.
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Die JVA S. nahm mit Schreiben vom 11.11.2021 Stellung und führte aus, dass der Antrag unzulässig sei, da er die Hauptsache vorwegnehme.
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Zudem sei der Antrag unbegründet. Der Urlaub für den 12.11.2021-14.11.2021 (Urlaubsantrag vom 11.10.2021) sei dem Antragsteller genehmigt worden.
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Es sei jedoch darauf hingewiesen worden, dass der Urlaub nur gewährt werde, sofern die Coronalage dies zulasse.
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Aufgrund eines JMS vom 13.09.2021 dürften bei Eintritt der roten Warnstufe Lockerungsmaßnahmen, die nicht durch Bedienstete begleitet würden, zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt durch Ausbreitung einer Infizierung unter Gefangenen wie Personal und damit einhergehenden Quarantänemaßnahmen nicht mehr gewährt werden. Seit 09.11.2021 bestehe bayernweit die Warnstufe rot. Auch bayernweit würden dadurch verschärfte Regelungen zum Infektionsschutz gelten. Es handle sich dabei um einen Widerrufsvorbehalt und der Widerruf wäre nach Art. 16 II Nr. 1 möglich wegen veränderter Umstände.
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Die Impfung mit Boostern wäre neben der dringenden täglichen ärztlichen Arbeit zu erledigen. Geimpfte Bedienstete müssten zwar nicht in Quarantäne, würden aber nach Kontakt mit Infizierten innerdienstliche freigestellt. Es befänden sich pro Monat 12 Bedienstete nicht im Dienst, weil ihre Kinder sich infiziert hätten.
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Das Interesse des Antragsstellers sei beim Widerruf gewürdigt worden, müsse aber hinten anststehen wegen der schwerwiegenden Gefahr für die Anstalt. Das JMS vom 13.9.2021 erlaube dies nicht.
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Der Antragssteller hätte seinen Vater besuchen wollen. Die Pflege sozialer Kontakte sei aber auch über Telefon möglich. Es wären Mobiltelefone ausgehändigt worden.
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Wegen der näheren Einzelheiten wird auf die vorgenannten Schriftstücke verwiesen und Bezug genommen.
II.
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Der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist zulässig und begründet.
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1. Gemäß § 114 Abs. 1 StVollzG hat ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung keine aufschiebende Wirkung. Nach § 114 Abs. 2 S. 1 StVollzG kann das Gericht den Vollzug einer angefochtenen Maßnahme aussetzen, wenn die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird und ein höher zu bewertendes Interesse an dem sofortigen Vollzug nicht entgegensteht.
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Allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzung für einen Eilantrag ist somit ein schutzwürdiges Interesse des Antragstellers an der begehrten Entscheidung. Ein solches schutzwürdiges Interesse hat der Antragsteller durch Darlegung, dass ihm für den 12.11.2021 ursprünglich ein Urlaub genehmigt worden sei, dargelegt.
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Das ist auch schon dann möglich, wenn noch kein Antrag in der Hauptsache gestellt wurde.
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2. Der Antrag ist auch begründet.
16
Das Gericht kann nach § 114 Abs. 2 S. 1 StVollzG den Vollzug der angefochtenen Maßnahmen aussetzen, wenn die Gefahr besteht, dass die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird und ein höher zu bewertendes Interesse an dem sofortigen Vollzug nicht entgegensteht. Diese Regelung ist als Ausprägung des Grundrechts des effektiven Rechtsschutzes zu verstehen und lässt erkennen, dass das Gesetz grundsätzlich irreparable Rechtsverletzungen verhindern will. Die Gefahr solcher Rechtsverletzungen wird nur in Kauf genommen, wenn ein höher zu bewertendes Interesse am sofortigen Vollzug besteht.
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Erforderlich ist eine Abwägung zwischen dem im Strafvollzugsgesetz zum Ausdruck gekommenen öffentlichen Interesse an einem wirksamen und deshalb in der Regel sofortigen Vollzug von Anstaltsmaßnahmen einerseits und dem Interesse des Antragstellers andererseits, einstweilen von belastenden Maßnahmen verschont zu bleiben, die letztlich möglicherweise nicht aufrechterhalten bleiben können. Entgegenstehende höherrangige Interessen des Staates können namentlich bei Maßnahmen der Gefahrenabwehr vorliegen, die aus Sicherheitsgründen erforderlich sind oder den Schutz elementarer Ordnungsfunktionen (Sicherheit und Ordnung der Anstalt) dienen. Auch kann eine Rolle spielen, ob nach einer summarischen Prüfung der Antragsteller mit seinem Rechtsbehelf voraussichtlich Erfolg haben wird.
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Solche vorgenannten höherrangigen Interessen am sofortigen Vollzug der ausgesprochenen belastenden Maßnahmen sind vorliegend jedoch nicht gegeben. Dem Interesse des Antragstellers, einstweilen vom Vollzug verschont zu bleiben, steht nach summarischer Prüfung kein höher zu bewertendes Interesse am sofortigen Vollzug entgegen. Denn nach summarischer Prüfung ist die gegen den Antragsteller verhängte Maßnahme jedenfalls nicht offensichtlich rechtmäßig.
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Auch kann eine Rolle spielen, ob nach einer summarischen Prüfung der Antragsteller mit seinem Rechtsbehelf voraussichtlich Erfolg haben wird (vgl. BVerfG, NJW 2004, 223/225). Der Eilantrag muss aber die angefochtene Maßnahme nach Inhalt, Zeitpunkt und Begründung vollständig bezeichnen (vgl. Arloth, StVollzG, § 114, Rn. 3 m.w.N.).
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Der Widerruf ist offensichtlich rechtswidrig und daher die Vollziehung auszusetzen.
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Dem Interesse des Antragstellers einstweilen vom Vollzug verschont zu bleiben, steht nach summarischer Prüfung das höher zu bewertende Interesse der Justizvollzugsanstalt am Festhalten des Widerrufs des Urlaubs im vorliegenden Einzelfall nicht entgegen. Denn bei offensichtlich rechtswidrigen Maßnahmen kann ein überwiegendes Vollzugsinteresse nicht bestehen.
a) Rechtswidrigkeit des angegriffenen Widerrufs
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Der Widerruf des bewilligten Urlaubs ist offensichtlich rechtswidrig.
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Der Urlaub war zunächst genehmigt worden.
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Der Hinweis, dass der Urlaub nur gewährt werden könne, wenn die Coronalage dies zulasse, ändert nichts an der Einstufung des Urlaubs als genehmigt. Es handelt sich, wie die JVA selbst darlegt, lediglich um einen bloßen Hinweis im Sinne einer Meinungsäußerung. Eine konkrete Bedingung ist nicht darin zu erblicken, zumal nicht auf den ersten Blick erkennbar ist, was unter dem etwaigen Zulassen der Coronalage zu verstehen ist, mithin welche Bedingungen konkret eintreten müssten (z.B. bestimmte Inzidenz etc.), damit der Urlaub genehmigt ist. Zwar ist auch im Bescheid, mit welchem der Urlaub genehmigt ist ein solcher Passus vermerkt. Allerdings ist dieser auch nicht konkret. Insbesondere wird nicht etwa im Bescheid ausgeführt, dass die Gewährung des Urlaubs nur nach Maßgabe des JMS vom 13.09.2021 gelten soll.
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Ein freier Widerrufsvorbehalt würde, soweit er, was fraglich wegen des abschließenden Charakters der Art. 13 und 16 BayStVollzG fraglich ist, und ist, zulässig ist, auch nur den Vertrauensschutz beschränken. Trotzdem müsste sich der Widerruf als ermessensrichtig darstellen, was hier nicht der Fall ist (unten bb).
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Daher stellt die Genehmigung des Urlaubs eine den Antragsteller begünstigende Maßnahme auf dem Gebiet des Strafvollzugs dar und ihr Widerruf eine belastende Maßnahme, die die Kammer bei offensichtlicher Rechtswidrigkeit auszusetzen hat. Dadurch lebt die bewilligte Maßnahme, hier der Urlaub wieder auf.
aa) Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des Widerrufs
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Ein Widerruf oder eine Rücknahme dieser Maßnahme ist grundsätzlich nur in Anwendung von Art. 16 II BayStVollzG möglich ((KG Beschl. v. 11.5.2001 - 5 Ws 195/01 Vollz, BeckRS 2015, 17638, beck-online). Ob Ausnahmsweise auch Art. 6 II 2 BayStVollzG herangezogen werden kann, kann hier offen bleiben.
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Es handelt ist dabei um eine Ermessensentscheidung (dazu bb), bei der dem Vertrauensschutz besondere Bedeutung zukommt (Arloth, § 14 StVollZG Rn. 11). Die Ermessensentscheidung ist seitens des Gerichts nur eingeschränkt überprüfbar.
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Die Anstalt stützt den Urlaubswiderruf auf die Generalklausel des Art. 6 Abs. 2 S. 2 BayStVollzG und nicht auf Art. 16 II BayStVollzG. Es existiert jedoch mit Art. 16 BayStVollzG eine speziellere Regelung, so dass der Anwendungsbereich der Generalklausel womöglich nicht eröffnet ist. Das kann jedoch offen bleiben, weil selbst Art. 6 II 2 BayStVollzG den Widerruf nicht rechtfertig.
aaa) Art. 16 II BayStVollzG
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Die Widerrufsgründe für Lockerungen sind in Art. 16 BayStVollzG abschließend genannt und verdrängen Art. 105a BayStVollzG mit Art. 48 ff BayVwVfG. Der in der Stellungnahme der Anstalt genannte Widerrufsgrund („Aufrechterhaltung der Sicherheit und zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt durch Ausbreitung einer Infizierung unter Gefangenen wie Personal und damit einhergehenden Quarantänemaßnahmen“) ist in Art. 16 nicht genannt.
aaaa) Art. 16 II Nr. 1 BayStVollzG
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Es handelt sich dabei auch nicht um einen Fall des Art. 16 II Nr. 1 BayStVollzG.
aaaaa) Allgemeine Erwägungen zum Infektionsschutz als Versagungsgrund
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Denn die aktuelle Corona-Lage steht der Bewilligung von Vollzugslockerungen nicht grundsätzlich entgegen.
33
Die JVA stützt den Widerruf alleine auf das JMS und damit auf den Eintritt der sog roten Corona-Ampel in Bayern („Landesweit stark erhöhte Intensivbettenbelegung“ nach § 17 der 14. BayIfS-MV). Es handelt sich dabei um eine Maßnahme des vorbeugenden Infektionsschutzes zum Schutz des Gesundheitssystems. Die Verhinderung jeder einzelnen Infektion ist nicht mehr Ziel des § 28 a IfSG, bzw. war es noch nie.
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Allgemeine Erwägungen zum notwendigen Infektionsschutz in der JVA ohne Bezug zu einer Gefahr für die Sicherheit und Ordnung können die Versagung von Vollzugslockerungen nicht rechtfertigen. Daher kann auch eine insgesamt höhere Inzidenz die Versagung von Lockerungen nicht rechtfertigen.
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Grundsätzlich ist die Kammer der Ansicht, dass die Verhinderung einer Verbreitung von SARS-CoV-2 eine Angelegenheit des Infektionsschutzes ist und daher das Gesundheitsamt bzw. das Gesundheitsministerium zu entscheiden hat, weil die JVA keine Infektionsschutzbehörde ist (dazu der Unterzeichner, COVuR 2020, 853: a.A. Arloth, 14. Ed. 1.2.2021, BayStVollzG Art. 6 Rn. 6 unter Hinweis auf BayObLG, Beschluss vom 10.12.2020 - 203 StObWs 462/20, das aber zur Rechtmäßigkeit keinerlei Ausführungen enthält auch nicht passim, wie Arloth meint).
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Dabei würde die Anordnung auch nicht gegenüber der JVA ergehen, sondern gegenüber den Gefangenen. Daher liegt auch kein Fall der Polizeipflichtigkeit von Behörden vor, sondern es ist ganz einfach nur das IfSG anzuwenden.
„Hinsichtlich der Versagung von Lockerungen sieht das BayStVollzG zwar vor, dass dieser versagt werden können bei Missbrauchsbefürchtungen, Art. 13 II BayStVollzG. Allerdings ist das versehentliche Einbringen von SARS-CoV-2 sicher kein Missbrauch. Soweit darüber hinaus ein Ermessen besteht ist dieses üblicherweise determiniert durch Gründe des Strafvollzugs und der Therapie und Resozialisierung des Gefangenen und nicht den Infektionsschutz. Hier bestehen daher die gleichen Probleme wie bei den Besuchen.“ (Gietl, COVuR 2020, 853).
„Der Bund hat von seiner konkurrierenden Kompetenz des Seuchenschutzes nach Art. 74 Nr. 19 GG im Hinblick auf die Verhütung der Infektion zwischen Menschen abschließend Gebrauch gemacht und hat, wie § 36 IfSG zeigt, dabei auch den Infektionsschutz in der JVA mitgeregelt. Insbesondere die Generalklausel des § 28 IfSG zeigt, dass der Bund abschließend Gebrauch gemacht hat von seiner Kompetenz. Dass § 28 a Abs. 1 Nr. 15 IfSG nun keine Besuchsverbote für Justizvollzugsanstalten vorsieht, aber für Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens, kann an der fehlenden „Awareness“ des Gesetzgebers liegen oder auch daran, dass insbesondere Einrichtungen des Gesundheitswesens aufgrund der dort gehäuften Vorerkrankungen ein höheres Risiko für schwere Verläufe mit sich bringen. Damit zeigt der Gesetzgeber aber nicht, dass er von seiner Kompetenz zum Infektionsschutz für Justizvollzugsanstalten keinen Gebrauch machen will. Daneben gibt es keine Gesetzgebungsmaterie „Infektionsschutz im Strafvollzug“. Infektionsschutz ist vielmehr eine Querschnittsmaterie, die sich wie, die aktuellen Beschränkungen zeigen quer durch alle Lebensbereiche erstrecken und somit auch Materien der Länder berühren können und somit auch den Strafvollzug. Das zeigt z.B. § 28 a I Nr. 16, der sich auch dem Betrieb von Hochschulen, also klassischer Ländergesetzgebungsmaterie widmet.
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Soweit der Bund von einer Materie, hier dem Seuchenschutz, abschließend Gebrauch gemacht hat, unterfällt sie nicht mehr der Landesgesetzgebung, Art. 72 Abs. 1 GG. „In diesem Sinne ist Materie regelmäßig ein durch das Bundesgesetz geregelter Ausschnitt aus Lebensvorgängen oder ein geschlossener Kreis von möglichen Handlungen im Hinblick auf ein oder mehrere zu schützende Rechtsgüter.“ Vorliegend ist das geschützte Rechtsgut und die mögliche Handlung durch das IfSG geregelt und somit kann über landesrechtliche Generalklauseln zu Gunsten des Infektionsschutzes keine Regelung erlassen werden.
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Solange das Strafvollzugsrecht zur Gesetzgebungsmaterie des Bundes gezählt hat, haben sich diese Fragen hier bei der Auslegung der Generalklauseln nicht gestellt. Nachdem es sich nun aber um Landesgesetzgebung handelt, ist die Frage der Kompetenz bei der Auslegung der Generalklauseln mit heranzuziehen.
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Daher scheitert auch eine entsprechende Anordnung nach der Generalklausel des BayStVollzG. Zwar dürfen nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 und 2 BayStVollzG nicht im BayStVollzG vorgesehene Beschränkungen auferlegt werden, „die zur Aufrechterhaltung der Sicherheit oder zur Abwendung einer schwerwiegenden Störung der Ordnung der Anstalt unerlässlich sind.“ Diese Generalklausel kann aber einerseits nur angewendet werden, wenn das Land die Gesetzgebungskompetenz besitzt für die Regelung der Materie. Zum anderen ist die Anwendung der Generalklausel ausgeschlossen, wenn eine Spezialnorm besteht, die engere oder andere Versagungsgründe vorsieht und damit abschließend ist. Das ist für den Besuch in Art. 28 BayStVollzG der Fall. Besuchsverbote können daher nicht auf die Generalklausel gestützt werden, soweit nicht eine Infektionsschutzrechtliche Anordnung oder Verordnung vorliegt.
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Erst wenn eine solche Verordnung vorliegt, können die JVAen diese Anordnung oder Verordnung als Teil der „Sicherheit“ nach Art. 6 Abs. 2 BayStVollzG durchsetzen. Denn Sicherheit in diesem Begriff meint die Sicherheit allgemein und nicht nur wie in den Spezialnormen der JVA. Teil dieser Sicherheit sind daher vollstreckbare allgemeine Regeln außerhalb des BayStVollzG. Das setzt daher soweit die JVA selbst nicht zuständige Fachbehörde ist eine entsprechende vollziehbare Regel voraus, die die JVA durchsetzen kann. So sind die Kontakbeschränkungen im privaten Raum des § 3 der 9. BayIfSMV sicherlich durch die JVA vollziehbar, so dass nur ein Hausstand und maximal 5 Personen einen Besuch absolvieren dürfen. Darüber hinaus, können Besuche nicht untersagt werden aufgrund des Art. 6 BayStVollzG.
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Selbstverständlich können derart weitreichende Einschränkungen auch nicht auf das Hausrecht oder allgemeine Erwägungen des Fürsorgegedankens für Bedienstete und Gefangene gestützt werden. Einer solchen Renaissance des „besonderen Gewaltverhältnisses“ steht der Vorbehalt des Gesetzes entgegen, der bei Strafgefangenen, die in ihrem Alltag dem Staat ausgeliefert sind, eine höhere und keine geringere Regelungsdichte verlangt. Das Hausrecht kann auf keinen Fall herangezogen werden. Denn die Gefangenen nutzen die Räume der JVA nicht freiwillig, so dass das Hausrecht und die Ermächtigung zum Erlass einer Hausordnung der JVA zwar für kleinere Verhaltensregeln tragfähige Grundlagen sein mögen. Keinesfalls können sie aber gesetzliche Positionen entziehen, weil dies dann für alle gesetzlichen Positionen der Gefangene gelten würde. Umgekehrt ist die Umsetzung der Fürsorge und Schutzpflicht zugunsten anderer Menschen im Hinblick auf den Seuchenschutz gerade die Materie des IfSG und dort geregelt. Daneben können daher Fürsorgepflichten für sich genommen keine Rolle spielen beim Eingriff in gesetzliche Rechte, wenn dies nicht aufgrund des IfSG erfolgt.“ (Gietl, COVuR 2020, 853, beck-online).
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Die Kammer hat auf dieses Problem bereits in den Beschlüssen vom SR StVK 355/21 vom 26.5.2021 und Beschluss SR StVK 326/21 vom 1.6.2021 hinsichtlich der Quarantäne hingewiesen. Im Beschluss SR StVK 632/21 (13.7.2021) hat sich die Kammer mit den Vollzugsmodalitäten von Lockerungen beschäftigt und auf dieses Problem hingewiesen. Auch in anderen Verfahren teilweise schon im Jahr 2020 hatte die Kammer dieses Problem in Verfügungen problematisiert. Der Beitrag des Unterzeichners, der der Anstaltsleitung bekannt ist, datiert vom 15.12.2020. Die Kammer hat sich zudem geschlossen dieser Ansicht angeschlossen und dies der JVA mitgeteilt.
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In der seitdem vergangenen Zeit ist es nicht gelungen oder es wurde nicht versucht eine Anordnung des Gesundheitsamtes oder eine Verordnung des Gesundheitsministeriums als zuständige Fachbehörden zu erlangen für die Strafgefangenen der JVA, die natürlich als Vollzug von Bundesrecht dem BayStVollzG vorgehen würden. Es kommt daher nicht in Betracht zu Lasten der Strafgefangenen, die ihnen gesetzlich zustehenden Rechtspositionen aus allgemeinen infektionsschutzrechtlichen Erwägungen zu verkürzen. Denn es stünden rechtlich tragfähige Möglichkeiten zur Verfügung, die allerdings aus nicht nachvollziehbaren Gründen von Seiten des Freistaats Bayern nicht ergriffen werden.
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Zudem wäre auch nach dem IfSG fraglich, ob eine Maßnahme nach § 28 a I IfSG möglich wäre. Es dürfte sich zwar um eine Maßnahme handeln, die auf § 28 a I Nr. 3 IfSG gestützt werden kann. Derartige Maßnahmen kann nach § 9 SchAusnahmV nicht gegenüber Geimpften und Genesenen ausgesprochen werden. Der Antragssteller aber ist geimpft, jedenfalls hat die JVA dem nicht widersprochen. Insoweit spricht der Angleichungsgrundsatz gegen eine Versagung von Lockerungen.
bbbbb) Gefährdung der Sicherheit und Ordnung der Anstalt, Art. 6 II 2 BayStVollzG
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Soweit allerdings aus der Verbreitung der Krankheit mittelbar auch die Sicherheit der Anstalt gefährdet ist, kann dies Sicherheitsmaßnahmen rechtfertigen, wenn deren Voraussetzungen vorliegen.
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Es kann offen bleiben, ob es in Betracht kommt auf die Generalklausel Art. 6 II 2 BayStVollzG Grundrechtseingriffe zu stützen die über die speziell geregelten Maßnahmen hinausgehen oder wenn deren Voraussetzungen nicht vorliegen. Das widerspricht zwar der anerkannten sicherheitsrechtlichen Dogmatik und den Vorgaben des Grundgesetzes zum Gesetzesvorbehalt, muss aber hier nicht geklärt werden.
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Nach Ansicht der Kammer spricht viel dafür, dass der Widerruf und die Versagung von Urlaub ist im BayStVollzG abschließend geregelt, so dass ein Rückgriff auf die Generalklausel des womöglich Art. 6 II 2 BayStVollzG nicht möglich ist. Das aber kann offen bleiben, weil die Voraussetzungen des Art. 6 II 2 BayStVollzG hier schon nicht vorliegen.
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Die Verbreitung einer Infektion mit SARS-CoV-2 gefährdet zwar wegen der Möglichkeit der Infektion von Bediensteten und Gefangenen auch den geregelten Dienstbetrieb und damit die Sicherheit und Ordnung der Anstalt, so dass Art. 6 II 2 BayStVollzG als Eingriffsgrundlage in Betracht kommt. Hier kann aber offen bleiben, ob Art. 6 II 2 BayStVollZG neben abschließenden Regeln über Lockerungen gilt. Denn die Voraussetzungen liegen nicht vor.
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Angesichts der drohenden Gefahr, dass der „Betrieb“ in der JVA wiederum Wochen ruht oder die Sicherheit dort gefährdet ist, mag dies möglicherweise ausreichen.
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Dabei hat die JVA aber darzulegen, dass ein solches Problem tatsächlich droht. Es drängt sich nämlich nicht auf.
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Der Antragssteller hat, von der JVA unwidersprochen, dargelegt, dass alle Gefangenen im offenen Vollzug vollständig geimpft wären. Es ist daher nicht zu befürchten, dass diese Gefangenen in das Krankenhaus eingeliefert werden müssen. Alleine die (Durchbruchs-)Infektion vermag keine Gefahr für die JVA darstellen, wenn nicht gleichzeitig die Quarantäne einer Vielzahl von Bediensteten droht oder Gefangene im Krankenhaus bewacht werden müssen. Die Verhinderung alleine einer Infektion ist reines Infektionsschutzrecht und kein Strafvollzugsrecht.
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Eine Hospitalisierung droht auch nicht von einer Vielzahl von Gefangenen im offenen Vollzug. Die Impfung schützt weitreichend vor Hospitalisierung, jedenfalls für 6 Monate.
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Sollte die Impfung bereits länger zurückliegen, besteht nach § 2 ImpfV auch für Strafgefangenen ein Anspruch auf einen Booster nach 6 Monaten, welchen die JVA dann anzubieten hat.
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Wenn die befürchteten Infektionen tatsächlich eine derart schwerwiegende Gefahr für die Sicherheit und Ordnung der Anstalt darstellen, muss die JVA die Booster-Impfungen als Reihenimpfungen mit allen zumutbaren Möglichkeiten durchsetzen. Dabei wären dann zuerst die Gefangenen zu impfen, die besonders gefährdet sind und diejenigen, die Lockerungen erhalten.
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Die Hospitalisierung kann daher nicht durch die Bindung von Personal zur Aufsicht die Anstalt gefährden, weil sie nicht konkret zu befürchten ist, allenfalls abstrakt.
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Auch droht geimpften Bediensteten keine Quarantäne und damit ein Ausfall als Aufsichtspersonal. Soweit ungeimpfte Bedienstete im offenen Vollzug arbeiten, wären diese ggf. gegen geimpfte Bedienstete auszutauschen, so dass der Betrieb dort nicht gefährdet ist. Die Kammer geht davon aus, dass weiterhin zwischen offenen Vollzug und geschlossenen Vollzug kein Personal ausgetauscht wird.
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Dass im Einzelfall über das Krankenhaus oder die Psychiatrie Gefangenen aus dem Offenen Vollzug mit solchen des geschlossenen Vollzugs zusammenkommen kann angesichts der geringen Zahl der Gefangenen im offenen Vollzug nicht rechtfertigen, generell von Lockerungen abzusehen.
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Es stellt sich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit weiter die Frage, ob der Impfstatus von Bediensteten geeignet ist, Rechte der Gefangenen präventiv zu beschneiden. Das Verhalten der Bediensteten und die fehlende Impflicht in diesem sensiblen Bereich ist der Antragsgegnerin zuzurechnen und nicht dem Antragssteller.
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Soweit sich ein Bediensteter tatsächlich infizieren sollte fällt er im Dienst zwar aus für die Dauer der Krankheit oder der Quarantäne. Das aber ist mittlerweile ein allgemeines Lebensrisiko, dass die Anstalt nicht vorbeugend dergestalt auflösen darf, dass sie den Gefangenen Lockerungen entzieht. Denn die Bediensteten können sich nicht nur in der JVA anstecken, sondern ebenso privat. Das zeigt die Stellungnahme der Anstalt exemplarisch auf. Eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung der JVA kann sicher daher hier nur dann ergeben, wenn tatsächlich konkret Personalnot droht und eine Ansteckung am Dienstort wesentlich wahrscheinlicher ist als im privaten Umfeld.
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Es mag sein, dass auch geimpfte Bedienstete die Kontaktpersonen waren, innerdienstlich vom Dienst freigestellt werden. Dabei handelt es sich um eine vorbeugende Maßnahme des Infektionsschutzes durch die JVA, die sicherlich lobenswert ist. Das kann aber nicht zu einer präventiven Versagung von Lockerungen führen, wenn sich ein Personalengpass nicht konkret abzeichnet. Denn es obliegt nach ständiger Rechtsprechung der JVA für eine ausreichende Personalausstattung zu sorgen. Nur wenn diese nicht mehr zumutbar geleistet werden kann, können Lockerungen versagt werden.
ccccc) Mitwirkungspflichten nach 58 Abs. 2
„Daneben sieht Art. 58 Abs. 2 BayStVollzG zwar eine Unterstützungspflicht für Maßnahmen des Gesundheitsschutzes und der Hygiene vor. Dabei ergibt sich bereits aus Art. 58 Abs. 1 S. 2 BayStVollzG in Verbindung mit Art. 108 BayStVollzG, dass eine zwangsweise Durchsetzung der Maßnahmen nur unter den dort beschriebenen Bedingungen zulässig ist, also insbesondere eine zwangsweise Untersuchung und Behandlung oder Ernährung. Andere Maßnahmen sind nicht vorgesehen. Eine Maskenpflicht von Gefangenen mag man aufgrund dieser Unterstützungspflicht noch annehmen können, darüberhinausgehende Maßnahmen kann man auf diese Rechtsgrundlage m. E. nicht stützen. Denn die Pflicht zur Unterstützung kann nicht einfach in einen Duldungszwang von Eingriffen und einen Entzug von Ansprüchen/Rechten umgedeutet werden.“ (Gietl, COVuR 2020, 853).
ddddd) Fürsorge für Mitgefangene und Bedienstete
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Auch können allgemeine Fürsorgegedanken keine gesetzliche Grundlage ersetzen. Denn es ist gerade Aufgabe des Gesetzgebers die Einschränkung der Freiheitsrechte Dritter auch zu Gunsten Dritter (Fürsorgeprinzip) zu regeln. Das hat er durch das IfSG und das BayStvollzG auch getan. Jede andere Einschätzung würde die Abschaffung des besonderen Gewaltverhältnisses rückgängig machen und in ihr Gegenteil verkehren.
„Das GG ist eine wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts erkennt; sein Menschenbild ist allerdings nicht das des selbstherrlichen Individuums, sondern das der in der Gemeinschaft stehenden und ihr vielfältig verpflichteten Persönlichkeit (BVerfGE 12, 45 [51] = NJW 61, 355; BVerfGE 28, 175 [189]). In Art. 1 Abs. 3 GG werden die Grundrechte für Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung für unmittelbar verbindlich erklärt. Dieser umfassenden Bindung der staatlichen Gewalt widerspräche es, wenn im Strafvollzug die Grundrechte beliebig oder nach Ermessen eingeschränkt werden könnten. Eine Einschränkung kommt nur dann in Betracht, wenn sie zur Erreichung eines von der Wertordnung des GG gedeckten gemeinschaftsbezogenen Zweckes unerläßlich ist und in den dafür verfassungsrechtlich vorgesehenen Formen geschieht. Die Grundrechte von Strafgefangenen können also nur durch oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, das allerdings auf - möglichst engbegrenzte - Generalklauseln nicht wird verzichten können.“ (BVerfG NJW 1972, 811)
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Das gilt genauso für die durch einfaches Recht zugebilligte Vollzugslockerungen. Denn der Freiheitsentzug steht von vornherein unter der Beschränkung, dass bei vorliegen der Voraussetzungen die Lockerungen zu gewähren sind. Der Widerruf oder Versagung ist daher ein Eingriff in Art. 2 II GG und daher an den Maßstäben des BVerfG zu messen.
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Eine Schutzpflicht für Bedienstete kann daher die Versagung von Lockerungen nicht begründen. Denn diese verlassen die Anstalt auch privat. Es handelt sich letztlich bei der Infektion am Arbeitsplatz um allgemeines Lebensrisiko, das auch Bedienstete am Amtsgericht S. tragen müssen.
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Die Kammer verkennt nicht die Schutzpflichten der JVA auch für andere Gefangene und die Todesgefahr für diese Personen und die o.g. Mitwirkungspflicht.
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Allerdings ist diese Fürsorgepflicht, wie dargelegt, für sich genommen nicht geeignet, gesetzliche Rechte einzuschränken. Zudem kann die Fürsorgepflicht nicht dauerhaft dazu führen, dass Geimpfte ihre Rechte vorenthalten werden zu Gunsten von ungeimpften Gefangenen. Soweit es keinen medizinisch zwingenden Grund gibt, dass die Impfung unterlassen wird, hat sich der Gefangene selbstbestimmt dafür entschieden, ungeimpft zu bleiben. Dann aber wäre es paternalistisch, diesen Gefangenen zu Lasten anderer Gefangenen, vor den Folgen seiner Impfentscheidung zu beschützen. Hier endet daher zwingend ohnehin die Fürsorgepflicht.
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Auch besonders gefährdete Gefangenen wird man nach 18 Monaten eher durch organisatorische Maßnahmen als durch pauschale Lockerungsversagung schützen müssen. Dass im offenen Vollzug derartige Personen anwesend sind, ist nicht erkennbar.
bbbb) Missbrauchsbefürchtungen, Art. 16 II Nr. 2/3 BayStVollzG
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Missbrauchsbefürchtungen vermögen zudem auch den Widerruf nicht rechtfertigen.
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Es sind keine konkreten Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass der Antragssteller sich nicht an die Hygienevorschriften der JVA als Weisungen oder die normalen allgemeinen Regeln der BayIfSMV halten würde.
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Hierzu hat die JVA zudem auch ihren Beurteilungsspielraum nicht ausgeübt, jedenfalls fehlt es hier an individuellen Ausführungen, was aber notwendig wäre. Pauschale Behauptungen abstrakter Möglichkeiten sind keine Ausübung des Beurteilungsspielraums.
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Im Übrigen zeigt der den Urlaub bewilligende Bescheid, dass die Anstalt dem Antragsteller dahingehen vertraut, dass er die Coronaregeln einhält. Dass sich aus der Änderung durch § 17 der 14. BayIfSMV etwas anderes ergibt, ist nicht plausibel.
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Dem Antragsteller wurde nämlich die Weisung erteilt, diese Regeln einzuhalten. Weshalb alleine das Vorliegen von § 17 der 14. BayIfSMV an dem Vertrauensvorschuss etwas ändern soll, wurde nicht gewürdigt.
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Es wurde nicht im Einzelfall dargelegt, weshalb nunmehr bei alleinigem Ausgang nicht mehr davon ausgegangen werden kann, dass Abstands- und Hygieneregeln eingehalten werden und Risikokontakte vermieden werden. Etwa hätte Berücksichtigung finden müssen, welches Interesse der Antragsteller daran hat, sich nicht an die Hygiene- und Abstandsregeln zu halten.
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Bei einem Gefangenen im offenen Vollzug besteht in der Regel ein gesteigertes Interesse an einer baldigen Entlassung. Das Durchstehen einer Coronainfektion mit etwaiger Quarantäne ist unter Haftbedingungen deutlich erschwerter zu sehen als in häuslicher Quarantäne. Er hat daher ein erhebliches Eigeninteresse, sich nicht zu infizieren.
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Dabei ist es entgegen der Anstalt nicht erforderlich, dass ständig kontrolliert wird, welche Personen der Antragssteller trifft. Auch bei anderen unbegleiteten Ausgängen weiß die Anstalt nicht stets, ob Lockerungsmissbrauch droht.
bb) Ermessensfehler
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In jedem Fall ist der Widerruf ermessensfehlerhaft.
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Es stellt sich schon die Frage, ob überhaupt eine Ermessensentscheidung getroffen wurde. Denn beim Widerruf handelt es sich um eine solche, wie Art. 16 II BayStVollzG deutlich zeigt.
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Die JVA hat sich vielmehr an das JMS gebunden gefühlt und pauschal an die „rote Ampel“ nach § 17 der 14. BayIfsMV angeknüpft. Eine Ermessensentscheidung im Einzelfall liegt darin möglicherweise gar nicht, so dass sogar ein Ermessensausfall vorliegen könnte. In der Stellungnahme wird eine solche Ermessensentscheidung nun dargelegt. Es ist aber zweifelhaft, ob die JVA wirklich alle Einzelfälle geprüft hat, nachdem gestern bei der Kammer eine Vielzahl von Eilanträgen deswegen eingegangen ist.
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Allerdings ist auch die Ermessensentscheidung ohnehin fehlerhaft, wenn man annimmt, es liegt eine vor.
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Bereits die Anknüpfung an die rote Ampel ist nicht ermessensgerecht.
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In der Stellungnahme führt die Anstalt aus, dass im Hinblick auf das JMS vom 13.09.2021 der gewährte Urlaub widerrufen worden sei. Dieses knüpft an den Eintritt der roten Corona-Ampel nach der BayIfSMV an.
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Diese sog. Rote Ampel ist in § 17 14. BayIfSMV definiert knüpft an eine landesweit erhöhte Intensivbettenbelegung an. Das ist das einzige Kriterium. Diese Intensivbettenbelegung aber hat keinen Bezug zur Infektionsgefahr für den einzelnen Gefangenen oder für den Betrieb der JVA. Vielmehr dient sie, wie nunmehr § 28 a Abs. 3 S. 1 IFSG verlangt der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems, aber nicht der JVA. Zwar mag dies dazu führen, dass ggf. Strafgefangenen auch nicht auf Intensivstation versorgt werden können. Eine erhöhte Gefahr für die Funktionsfähigkeit der Anstalt ergibt sich daraus nicht. Es ist daher schon willkürlich an diese Grenze anzuknüpfen.
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Gesichtspunkte im Einzelfall, wie etwa das konkrete Interesse des Antragstellers am Urlaub, was er im Urlaub plant (Kontakte etc.), Vollzugsverhalten des Antragstellers (mithin wie ihm vertraut werden kann) wurden nicht gesehen. Die Anstalt hat zudem pauschal für alle Strafgefangene im offenen Vollzug die Lockerungen aufgrund des JMS vom 13.09.2021, welches für die JVA bindend sei, ausgesetzt. Dabei wird nicht in Betracht gezogen, dass bis auf die FFP2-Maskenpflicht die schärferen Regeln außerhalb der JVA nicht für zweifach geimpfte Personen gelten.
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Der Hinweis der Anstalt, der Antragssteller könne statt 3 Tagen Urlaub bei seinem Vater mit diesem telefonieren zeigt vielmehr, dass der JVA die Bedeutung von realen Kontakten für die Achtung als Mensch und für die Resozialisierung nicht das erforderliche Gewicht beigemessen hat.
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Bei der Entscheidung der JVA wäre auch zu beachten, dass es sich nicht um kurzfristige Maßnahmen handelt. Vielmehr ist offenkundig, dass die getroffenen Maßnahmen der 14. BayIfSMV wohl den ganzen Winter gelten werden, so dass der Antragssteller seinen Urlaub auch nicht zeitnah wird nachholen können. Auch ist der Resozialisierungsanspruch und der Angleichungsgrundsatz nicht eingestellt worden. Angesichts der sonstigen Regeln für Geimpfte und Genesene in der BayIfSMV spricht dieser für die Gewährung von Lockerungen.
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Zuzugeben ist, dass ein absoluter Schutz vor Einschleppung von SARS-CoV-2 in die Anstalt durch Gefangenen nicht gewährleistet ist. Das aber ist ohnehin nicht möglich, weil auch die Bediensteten das Virus einschleppen können. Zudem ist eine Abwägung durchzuführen, die nicht pauschale und dauerhaft zu Gunsten der Sicherheit stattfinden kann.
cc) Verfahrensfehler
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Es liegt zudem ein Verfahrensfehler vor. Nach Art. 26 BayVwVfG hätte die JVA den Antragssteller vor dem Widerruf als belastende Entscheidung anhören müssen. Nachdem eine Ermessensentscheidung zu treffen war und der Urlaub auch wichtige Gründe hätte haben können und kann, kann sich dies nach Art. 46 BayVwVfG auch auswirken.
b) Vorwegnahme der Hauptsache
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Eine Vorwegnahme der Hauptsache liegt nicht vor. Vielmehr ist vorläufige Aussetzung einer belastenden Maßnahme, sofern die Voraussetzungen für eine stattgebende Eilentscheidung im Übrigen vorliegen, gerade die typische, vom Gesetzgeber vorgesehene Folge des vorläufigen Rechtsschutzes und stellt keine Vorwegnahme der Hauptsache dar (BVerfG Beschl. v. 8.4.2014 - 2 BvR 1800/13, BeckRS 2014, 51359).
c) Interessenabwägung
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Angesichts der eindeutigen Rechtslage kann eine Interessenabwägung unterbleiben.
„Ergibt die (summarische) Prüfung, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig und der Antragsteller dadurch in seine Rechten verletzt ist, kann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts bestehen (unstreitig, vgl. nur BVerwG Buchholz 402.45 Nr. 14 zu einem Vereinsverbot). Gegenläufige öffentliche Interessen können die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nicht überwinden.“ (BeckOK VwGO/Gersdorf, 59. Ed. 1.7.2021, VwGO § 80 Rn. 188).
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Nachdem der Impfstatus der Gefangenen unwidersprochen durch die JVA im offenen Vollzug 100 % beträgt und die Kammer davon ausgeht, dass der offene Vollzug weiterhin getrennt ist vom Rest der Anstalt, würde die einzig relevante Gefahr für die Sicherheit und Ordnung der Anstalt ohnehin hinter dem Anspruch aus Art. 2 II 2 GG und auf Resozialisierung zurückstehen.
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Dies vor allem auch, weil der JVA seit Monaten die Rechtsansicht der Kammer bekannt ist und sie sich entweder nicht um eine Klärung durch die Fachbehörden bemüht hat oder diese offensichtlich Maßnahmen über die BayIfSMV hinaus in der JVA nicht für notwendig halten.
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Die Untätigkeit dieser Behörden kann aber nicht dazu führen, dass die JVA als unzuständige Behörde eigene Maßnahmen treffen kann, wenn dieser Zustand lange bekannt ist.
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Der JVA war auch bekannt, dass es sich dabei nicht nur um die Meinung des Unterzeichners handelt. Die Kammer hat ihre Ansicht einhellig an die JVA kommuniziert.
II.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 121 Absatz 4, StVollzG, § 467 Abs. 1 StPO, diejenige über den Streitwert auf §§ 60, 65, 52 GKG).
III.
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Gegen die vorliegende Entscheidung ist ein Rechtsmittel gemäß § 114 Absatz 2 Satz 3, 1. Halbsatz StVollzG nicht gegeben. Soweit die JVA der Ansicht ist, es handle sich um eine Vorwegnahme der Hauptsache kann sie womöglich Rechtsbeschwerde zum BayObLG einlegen. Der JVA ist die einschlägige Rechtsprechung bekannt und sie kann sie in eigener Zuständigkeit prüfen. Bis zu einer Entscheidung des BayObLG ggf. als einstweilige Anordnung bleibt aber dieser Beschluss wirksam.