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VG Bayreuth, Urteil v. 18.05.2021 – B 3 K 20.30075
Titel:

Flüchtlingsschutz für alleinstehende Frau aus dem Irak ohne schutzbereite männliche Familienangehörige 

Normenkette:
AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3a Abs. 2 Nr. 6, § 3b Abs. 1 Nr. 4, § 3c Nr. 3
Leitsatz:
Eine alleinstehende Frau aus dem Irak ohne schutzbereite männliche Familienangehörige gehört zu einer bestimmten sozialen Gruppe iSd § 3 Abs. 1 Nr. 1 iVm § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Bei einer Rückkehr drohen ihr im gesamten Staatsgebiet mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit geschlechtsspezifische Verfolgungshandlungen durch nichtstaatliche Akteure. (Rn. 22 – 23) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Alleinstehende Frau ohne schutzbereite männliche Familienangehörige, Irak, Bestimmte soziale Gruppe, alleinstehende Frau, keine schutzbereiten männlichen Familienangehörigen, bestimmte soziale Gruppe, geschlechtsspezifische Verfolgung, kurdische Gebiete, Flüchtlingslager, Jezidin
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 18.10.2021 – 5 ZB 21.30929
Fundstelle:
BeckRS 2021, 33616

Tenor

1. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 17.01.2020 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

1
Die Klägerin, eine irakische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit und jesidischen Glaubens, reiste nach eigenen Angaben am 14.11.2019 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 27.11.2019 stellte sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag.
2
In ihrer Anhörung nach § 25 AsylG am 10.01.2020 gab die Klägerin an, im Irak zuletzt ca. ein Jahr lang in einem Flüchtlingslager in Zakho gelebt zu haben. Davor habe sie ein Jahr lang in Mossul, gelebt, da ihr Vater dort gearbeitet habe und anschließend, nach dem Tod ihres Vaters, bei einem Onkel in Shekhan. Sie habe den Irak im September 2019 verlassen und sei in die Türkei geflogen. Von dort aus sei sie nach ca. einem Monat versteckt in einem LKW nach Deutschland gebracht worden. Ihre Mutter lebe nach wie vor im Flüchtlingslager in Zakho. Ansonsten habe sie in ihrem Heimatland noch drei Schwestern und eine verheiratete Schwester, einen Onkel und Tanten. In Deutschland habe sie zwei Brüder und eine Schwester. Nachdem sie aus finanziellen Gründen nach der 12. Klasse die Schule habe abbrechen müssen, habe sie im Irak zweieinhalb Jahr lang in einem Labor gearbeitet. Sie habe dort 10.000 Dinar am Tag verdient. Ihr Einkommen sei nicht gut gewesen, aber sie habe sich damit ihren Lebensunterhalt finanzieren können. Außerdem habe es im Flüchtlingslager Organisationen gegeben, die sie unterstützt hätten.
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Der Grund für ihre Ausreise aus dem Irak sei es gewesen, dass ihr Vater aufgrund seines jesidischen Glaubens 2014 getötet worden sei. Daraufhin sei sie mit ihren fünf Schwestern und ihrer Mutter zu ihrem Onkel nach Shekhan gezogen, wo sie aber zunächst nur 10 Tage geblieben seien. Dann seien sie nach Mossul zurückgekehrt, doch nach der Eroberung der Stadt durch den Islamischen Staat hätten sie Mossul wieder verlassen müssen und seien wieder zu ihrem Onkel gegangen, wo sie zwei Jahre geblieben seien. Dort sei es ihnen aber aus finanziellen Gründen nicht gut gegangen und ihr Onkel sei nicht nett zu ihnen gewesen. Er habe versucht, sie und ihre Schwestern zu einer Heirat zu zwingen. Zudem hätten ihnen die Muslime in der Umgebung dort das Leben schwergemacht; sie hätten sie belästigt und gewollt, dass sie Muslime werden. U.a. seien sie auch sexuell belästigt worden. Ihr Onkel hätte sich um sie kümmern sollen, doch das habe er nicht getan. Aus diesem Grund seien sie dann schließlich in das Flüchtlingslager nach Zakho gegangen. Mit wem genau ihr Onkel sie habe verheiraten wollen, wisse sie nicht, ihr sei nur bekannt, dass diese Person viel älter gewesen sei als sie. Grund dafür, dass ihr Onkel sie habe verheiraten wollen, sei es gewesen, dass er sie nicht mehr habe bei sich haben wollen. Ob auch finanzielle Interessen an der geplanten Hochzeit eine Rolle gespielt hätten, wisse sie nicht. Er habe etwa ein Jahr, nachdem sie zu ihm gezogen seien, angefangen, von Hochzeitsplänen zu sprechen. Sie habe aber noch gar nicht daran gedacht zu heiraten, weil sie weiter habe zur Schule gehen wollen. Noch während sie noch bei ihrem Onkel gelebt habe, habe sie angefangen, in einem Labor in Shekhan zu arbeiten. Diese Arbeit habe sie auch noch eine Zeit lang fortgeführt, als sie bereits im Flüchtlingslager gewesen seien. Sie habe im Krankenhaus in Shekhan ein Zimmer gehabt, wo sie gewohnt habe, wenn sie gearbeitet habe und an den Feiertagen habe sie im Flüchtlingslager gewohnt. Nachdem sie in das Flüchtlingslager gezogen seien, hätten sie keine Probleme mehr mit ihrem Onkel und der Zwangsheirat gehabt. Als sie ihm gesagt hätten, dass sie nach Zakho wollten, habe er sie rausgeschmissen und seitdem hätten sie mit ihm nichts mehr zu tun. In Zakho sei sie nicht geblieben, weil es dort finanziell schwierig gewesen sei, zu überleben. Zudem hätten die Jesiden in Kurdistan keine Rechte. Die Flüchtlingslager in Zakho würden immer wieder angezündet.
4
Gefragt, welche Probleme sie konkret aufgrund ihres jesidischen Glaubens gehabt habe, trug die Klägerin vor, in Kurdistan sei es so, dass wenn die Leute wüssten, dass eine Frau Jesidin ist, würden sie immer versuchen, sie sexuell zu belästigen. Abgesehen davon habe sie aber keine Probleme gehabt.
5
Gefragt, wo sich ihre Familienangehörigen im Irak aufhalten würden, gab die Klägerin an, ihr Onkel sei in Shekhan, drei ihrer Schwestern und ihre Mutter würden im Flüchtlingslager in Zakho leben und die verheiratete Schwester lebe in Baachiqa. Die Schwestern und die Mutter im Flüchtlingslager würden dort von Organisationen versorgt.
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Auf Nachfrage gibt die Klägerin weiter an, sie habe in dem Labor nur bis 2018 gearbeitet. Danach habe sie gelegentlich in der Landwirtschaft gearbeitet.
7
Gefragt, was sie bei einer Rückkehr in den Irak befürchte, gab die Klägerin an, sie könne dort finanziell nicht überleben. Außerdem würde man sie als Jesidin dort nicht in Ruhe leben lassen. Jesiden hätten in Kurdistan keine Rechte. Alle paar Jahre gebe es einen Völkermord gegen sie. Sie sei nicht schon früher ausgereist, weil hierzu die finanziellen Mittel gefehlt hätten. Die Reise habe sie dann mit Hilfe ihrer Mutter und Unterstützung durch eine Organisation finanziert.
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Mit Bescheid vom 17.01.2020, laut Aktenvermerk am 17.01.2020 per Einschreiben zur Post gegeben, wurde der Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf Asylanerkennung und auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet abgelehnt (Ziffern 1 bis 3) und festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 4). Die Klägerin wurde zur Ausreise binnen einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides aufgefordert, widrigenfalls sie in den Irak abgeschoben werde (Ziffer 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 6).
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Zur Begründung des Bescheids wird insbesondere ausgeführt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Voraussetzungen für die Anerkennung als Asylberechtigte lägen im Sinne des § 30 Abs. 1 AsylG offensichtlich nicht vor. Aus dem Sachvortrag seien keine flüchtlingsrelevanten Verfolgungshandlungen ersichtlich. Die sexuellen Belästigungen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Jesiden erreiche nicht das für eine Verfolgungshandlung notwendige Maß an Intensität im Sinne des § 3a Nr. 1 AsylG. Die Gefahr einer Verfolgung bei Rückkehr in den Irak aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft der Jesiden sei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegeben. Die Klägerin habe selbst angegeben, dass bis auf die sexuellen Belästigungen keine weiteren Probleme existiert hätten. Vielmehr habe sie angegeben, den Irak aus finanziellen Gründen verlassen zu haben, was eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet gemäß § 30 Abs. 2 AsylG rechtfertige.
10
Der Klägerin drohe im Irak auch offensichtlich kein ernsthafter Schaden. Die ihrerseits dargelegten Probleme mit ihrem Onkel, der sie zu einer Zwangsheirat habe drängen wollen, seien durch den Auszug der Klägerin aus dessen Wohnung bereits zwei Jahre vor ihrer Ausreise aus dem Irak beseitigt worden. Seitdem gebe es keinen Kontakt mehr mit dem Onkel und habe es auch keine ähnlichen Vorkommnisse mehr gegeben. Eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Klägerin aufgrund von bewaffneten Auseinandersetzungen seien weder für die Heimatregion Sinjar in Ninive, noch für die autonome Kurdische Region anzunehmen. Die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG sei daher ebenfalls als offensichtlich unbegründet abzulehnen.
11
Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak führten nicht zu der Annahme, dass bei der Abschiebung der Klägerin eine Verletzung des Art. 3 EMRL vorliege. Auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin sei die Wahrscheinlichkeit einer Verletzung des Art. 3 EMRK durch die Abschiebung nicht beachtlich. Die Klägerin habe zwar geschildert, den Irak aufgrund finanzieller Schwierigkeiten verlassen zu haben, jedoch sei nicht ersichtlich, dass sie bei einer Rückkehr in den Irak um ihr Existenzminimum fürchten müsse. Zum einen habe sie bereits vor der Ausreise in einem Krankenhaus gearbeitet, zum anderen habe sie auch bis zu ihrer Ausreise einer Tätigkeit in der Landwirtschaft nachgehen können. Auch könne sie auf ein familiäres Netzwerk zurückgreifen, da sie ihre Mutter und Geschwister in Zakho habe und eine weitere Schwester in Bashika. Zudem sei sie auch auf die mögliche Unterstützung durch ihre in Deutschland lebenden Geschwister zu verweisen.
12
Auf die weiteren Gründe des Bescheids wird Bezug genommen.
13
Mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 27.01.2020, eingegangen bei Gericht am selben Tag, erhob die Klägerin Klage und beantragte zuletzt,
1.
Der Bescheid der Beklagten vom 17.01.2020 wird aufgehoben.
2.
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zu gewähren, weiter hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
14
Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, es sei nicht richtig, dass sich die Klägerin, wie durch die Beklagte behauptet, lediglich aus wirtschaftlichen Gründen in der Bundesrepublik aufhalte. Grund hierfür sei vielmehr ihre Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Jesiden. Die Rechtsprechung zur Situation der Jesiden in Ninive sei bis heute nicht einheitlich; auf ein stattgebendes Urteil des VG Düsseldorf vom 21.11.2018 (Az. 16 K 15068/17.A) werde verwiesen. Die Klägerin habe in ihrer Anhörung klar zum Ausdruck gebracht, dass sie in dieser Region als Jesidin nicht mehr leben könne. Auch eine individuelle Verfolgung habe sie glaubhaft dargelegt. Die Familie sei von Männern, die ihren Vater umgebracht hätten, verfolgt worden. Jedenfalls wäre es vor einer Ablehnung des Antrags als offensichtlich unbegründet erforderlich gewesen, der Klägerin hierzu weitergehende Fragen zu stellen. Auch habe sie vorgetragen, durch muslimische Männer schikaniert und sexuell belästigt worden zu sein, als Jesidin keine Rechte zu haben und auch im Flüchtlingslager nicht sicher gewesen zu sein, weil die Zelte angezündet würden. Es sei also nicht richtig, dass sie lediglich aus finanziellen Gründen ausgereist sei.
15
Der Islamische Staat habe Anhänger der Glaubensgemeinschaft der Jesiden systematisch verfolgt. Diese Verfolgung dauere auch weiterhin an.
16
Mit Beschluss des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 29.01.2020 wurde die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 17.01.2020 angeordnet.
17
Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 04.02.2020,
die Klage abzuweisen.
18
Mit Beschluss vom 23.04.2021 wurde der Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
19
Wegen des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf das Protokoll vom 17.05.2021 verwiesen.
20
Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die beigezogene Bundesamtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

21
Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch gegen die Beklagte auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, weshalb die entsprechende Verpflichtung nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO auszusprechen war.
22
1. Die Klägerin ist ohne schutzbereite männliche Familienangehörige auf sich alleingestellt und gehört deshalb zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 letzter Halbsatz AsylG, weshalb ihr die Flüchtlingseigenschaft zusteht (VG Bayreuth; U.v. 16.3.2021 - 3 K 19.30866; ders. U.v. 17.6.2020 - B 3 K 18.31815; ders. U.v. 21.11.2019 - B 3 K 19.31176; VG Stade, U.v. 23.7.2019 - 2 A 19/17, Rn. 46; VG Aachen, U.v. 17.5.2019 - 4 K 1634/17.A; VG Weimar, U.v. 17.4.2019 - 6 K 20181/17 We; VG Hannover, U.v. 10.4.2019 - 6 A 2689/17; U.v. 26.2.2018 - 6 A 6292/16, VG Karlsruhe, U.v. 21.2.2019 - A 10 K 4198/17, VG Münster, U.v. 2.10.2019 - 6a K 3033/18.A und U.v. 2.10.2018 - 6a K 5132/16.A - bis auf VG Bayreuth jeweils juris).
23
Als alleinstehende Frau ohne männlichen Schutz hat die Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG zu befürchten. Nach der derzeitigen Auskunftslage sind alleinstehende Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige im Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im gesamten Staatsgebiet geschlechtsspezifischen Verfolgungshandlungen gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG durch nichtstaatliche Akteure i.S.d. § 3c Nr. 3 AsylG ausgesetzt. Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln ist die irakische Gesellschaft von Diskriminierung der Frauen geprägt. Die Frauen werden in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletzt, sie werden gegenüber den Männern diskriminiert, sie werden in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit beschnitten und ihnen wird es sehr erschwert, alleine zu überleben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, am öffentlichen Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und entsprechend zu arbeiten, ihnen drohen Ehrenmorde und Zwangsverheiratung und ihnen droht Misshandlung, wenn sie sich nicht den strengen Bekleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften in der Öffentlichkeit unterordnen (Bundesamt für Fremdenwesen, Länderinformation der Staatendokumentation Irak vom 03.03.2021 (im Folgenden: BFA, Länderinformation), S. 85 ff., Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 22.01.2021 (im Folgenden: AA, Lagebericht), S. 13 f.; EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak, Gezielte Gewalt gegen Individuen, März 2019, S. 175 ff, S. 185 ff.; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche zu Frauenhäusern in Kirkuk vom 05.02.2018, Frage 3). Schutzbereite und - willige Akteure i.S.d. § 3c Nr. 1 und 2 AsylG sind auch nicht ersichtlich. Der Staat geht trotz der generellen Zielsetzung in der Verfassung bislang nicht gegen Übergriffe und Diskriminierungen vor, d.h. er setzt weder die in der Verfassung garantierte Gleichstellung von Frauen und Männern in einfaches Recht um noch ist in der Praxis eine Verbesserung zu verzeichnen (BFA, Länderinformation, S. 85 f.; AA, Lagebericht, S. 13 f.; vgl. auch VG Weimar, U.v. 17.4.2019 - 6 K 20181/17 We - juris).
24
Die Klägerin schilderte in der mündlichen Verhandlung glaubhaft ihre Fluchtgeschichte und den Bruch mit ihrem Onkel. Für das Gericht steht aufgrund ihrer Aussage fest, dass ihre Ausreise wie von ihr vorgetragen stattgefunden hat und dass sie im Irak keine schutzbereiten männlichen Verwandten hat.
25
Die Klägerin konnte ihre Fluchtgeschichte ausführlich und in sich stimmig selbst bei umfangreichen und kritischem Nachfragen schildern. Widersprüchliche Angaben in der mündlichen Verhandlung hinsichtlich des Aufenthaltes bei dem Onkel der Klägerin konnte diese aufklären. Die Klägerin gab in der mündlichen Verhandlung in nachvollziehbarer Weise an, dass ihre Mutter dauerhaft bei ihrem Onkel gelebt hatte und die Klägerin wegen ihrer damaligen Tätigkeit teilweise dort übernachtete, sodass das Gericht von der Wahrheit des von der Klägerin vorgetragenen Sachverhalts überzeugt ist.
26
Nach diesem Sachverhalt, drohen der Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen, da sie im gesamten irakischen Staatsgebiet als alleinstehende Frau ohne schutzbereite männliche Familienangehörige einer geschlechterspezifischen Verfolgungshandlung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt wäre. Neben ihrem Onkel sind keine weiteren Familienangehörigen im Irak vorhanden von denen die Klägerin einen männlichen Schutz erlangen könnte. Die Brüder der Klägerin befinden sich seit 2008/2009 und 2014 in Deutschland, ebenso wie eine Schwester. Der Vater der Klägerin ist am 11.05.2014 getötet worden. Die Mutter der Klägerin und die anderen Schwestern der Klägerin befinden sich zudem in der Türkei.
27
Die Klägerin führt in glaubwürdiger Art und Weise aus, dass sie im Falle einer Rückkehr nicht mit einer Unterstützung von Seiten ihres Onkels rechnen kann. Die Klägerin hat aufgrund ihrer Flucht vor dem Onkel mit diesem gebrochen. Sie hat überzeugend geschildert, dass sie wegen der - unter anderem auch finanziell - schlechten Situation mit dem Onkel die Schule nicht abschließen konnte. In der Folge ist sie einer Tätigkeit als Laborassistenz nachgegangen, die der Onkel nur widerwillig akzeptierte, weil die Klägerin so auch ihre Mutter finanziell unterstützen konnte. Dennoch wollte der Onkel weiterhin, dass die Klägerin heiratet. Die Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung überzeugend dargestellt, dass der Onkel sie „verkaufen“ wollte. Es ist damit zu rechnen, dass dieser auch bei einer Rückkehr der Klägerin versuchen wird, sie gegen ihren Willen zu verheiraten. Selbst wenn die Klägerin finanzielle Unterstützung beispielsweise durch Verlobten erhielt, ist davon auszugehen, dass der Onkel die Klägerin zu einer Heirat zwingen wird. Der Onkel strebte eine Heirat der Klägerin selbst dann noch an, als sie aufgrund ihrer Tätigkeit ein eigenes Einkommen hatte. Es ist zu erwarten, dass der Onkel die in Deutschland erfolgte Verlobung der Klägerin nicht akzeptieren würde. Zwar ist die Klägerin mit einem ursprünglich aus dem Irak stammenden Mann verlobt. Jedoch ist nicht davon auszugehen, dass der Verlobte mit ihr zurück in den Irak gehen wird, weil er seit 2017 die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt und mit der Klägerin im Moment auch nicht in einem gemeinsamen Hausstand lebt.
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Auch ist nicht absehbar, dass die Klägerin Unterstützung von ihrer verheirateten noch im Irak lebenden Schwester erhalten würde. Die Klägerin schilderte nachvollziehbar, dass sie in dieser Familie nur eine Belastung darstellen würde, so dass mit einer dauerhaften Unterstützung nicht zu rechnen ist. Ein Indiz hierfür ist auch, dass die Klägerin nach ihrer Flucht vor ihrem Onkel nicht bei der verheirateten Schwester unterkommen konnte, sondern in einem Flüchtlingslager auf kurdischem Gebiet lebte.
29
Auch wenn die Klägerin zwischen ihrer Flucht vor dem Onkel und der Flucht nach Deutschland in einem Flüchtlingslager gelebt hatte und dort unmittelbar keiner Verfolgungshandlung ausgesetzt war, so ist dennoch bei einer Rückkehr auch in ein entsprechendes Flüchtlingslager auf kurdischem Gebiet kein hinreichender Schutz der Klägerin gewährleistet. Viele Frauen und Mädchen sind durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. Minderjährige Frauen werden vermehrt in Flüchtlingslagern zur Heirat gezwungen. Dies geschieht, um ihnen ein vermeintlich besseres Leben zu ermöglichen oder die Familien finanziell zu unterstützen (BFA, Länderinformation, S. 90.; AA, Lagebericht, S. 14). Die Klägerin ist zwar nicht minderjährig, dennoch ist sie als alleinstehende junge Frau, die bei einer Rückkehr nunmehr ohne ihre Schwestern und Mutter alleine in einem Lager leben müsste, besonderes schutzbedürftig.
30
Im Hinblick darauf, dass das Gericht in Asylverfahren in Bezug auf die entscheidungserheblichen Vorfälle im Herkunftsland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen darf, sondern sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen muss, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (BVerwG, U.v. 16.4.1985 - 9 C 109.84 - juris = BVerwGE 71, 180), ist das Gericht zur Überzeugung gelangt, dass die Klägerin über keinen hinreichenden männlichen Familienanschluss im Irak mehr verfügt. Mithin drohen der Klägerin bei einer Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen, da sie im gesamten irakischen Staatsgebiet als alleinstehende Frau ohne schutzbereite männliche Familienangehörige einer geschlechterspezifischen Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt wäre.
31
Der dieser Entscheidung entgegenstehende Bescheid vom war somit aufzuheben. Da die Klägerin bereits im Hauptantrag Erfolg haben, waren die Ziffern 1 bis 3 des Bescheids aufzuheben. Die Abschiebungsandrohung ist ebenfalls rechtswidrig, weil mit der Flüchtlingsanerkennung die Voraussetzung des § 34 Abs. 1 Nr. 2 AsylG entfallen ist. Die Befristungsentscheidung war damit ebenfalls aufzuheben (vgl. § 11 AufenthG). Über die hilfsweise gestellten Verpflichtungsanträge musste angesichts des Erfolgs des Hauptantrags nicht mehr entschieden werden.
32
2. Die Kostenentscheidung des nach § 83 b AsylG kostenfreien Verfahrens folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.