Inhalt

AG München, Beschluss v. 12.08.2021 – 514 F 6377/21
Titel:

Einzelentscheidungsbefugnis zur Impfung eines Kindes (Corona)

Normenkette:
BGB § 1628 S. 1
Leitsatz:
Es kann davon ausgegangen werden, dass eine an der Empfehlung der STIKO orientierte Entscheidung über die Impfung eines Kindes das für das Kindeswohl bessere Konzept darstellt. Eines Sachverständigengutachtens bedarf es dazu nicht. (Rn. 14) (red. LS Axel Burghart)
Schlagworte:
COVID-19, Impfung, Corona, Kindeswohl, STIKO
Rechtsmittelinstanzen:
OLG München, Beschluss vom 08.09.2021 – 26 UF 928/21
OLG München, Beschluss vom 18.10.2021 – 26 UF 928/21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 33307

Tenor

1. Die Entscheidung darüber, das gemeinsame Kind L1. L2., geboren am ... 2008, U., wegen Covid-19 von einem von der STIKO empfohlenen Impfstoff für Jugendliche von 12-15 Jahren impfen zu lassen, wird auf die Antragstellerin übertragen.
2. Die Gerichtskosten werden hälftig geteilt. Die außergerichtlichen Kosten werden nicht erstattet.
3. Der Verfahrenswert wird festgesetzt auf 4000.- Euro.

Gründe

1
Die Antragstellerin und der Antragsgegner sind die Eltern des am ... 2008 geborenen L.. Die Eltern leben nicht nur vorübergehend getrennt. Das Kind lebt bei der Antragstellerin und wird von dieser betreut.
2
L. hat eine schwere geistige Behinderung, eine globale Entwicklungsstörung, eine ausgeprägte Sprachentwicklungsstörung, eine Störung der motorischen Funktionen, sowie Neurodermitis. Es liegt eine 100% ige Schwerbehinderung vor.
3
Er ist nicht in der Lage dauerhaft eine Maske zu tragen, da er sie regelmäßig abnimmt, weil er deren Sinn nicht versteht. Er hat daher eine ärztliche Bescheinigung keine Maske tragen zu müssen. Selbsttests werden von ihm nicht toleriert. Auch von diesen ist er durch ärztliches Attest befreit. Desweiteren nimmt er alles in den Mund, insbesondere Handläufe von Treppen und auch vieles andere, was in seiner Kopfhöhe oder tiefer ist.
4
Aufgrund des medizinischen Befundes empfiehlt L.s Kinderarzt eine Impfung gegen Covid- 19 und erklärt, dass L. der Patientengruppe „Syndromale Erkrankung mit schwerer Beeinträchtigung“ zugehörig ist. Für diese Patientengruppe empfiehlt die STIKO seit Juni 21 eine Impfung gegen Covid -19 für 12-17 jährige Jugendliche mit dem mRNA Impfstoff Comirnaty der Firma BioNTECH/Pfizer, der von der EMA auch für Kinder und Jugendliche ab 12 Jahren zugelassen ist.
5
Die Mutter befürwortet die Impfung und hat den Antragsgegner mehrfach aufgefordert dieser zuzustimmen. Dies hat der Antragsgegner abgelehnt.
6
Sie befürchtet, eine Covid Infektion wäre für L. lebensbedrohlich. Die besondere Gefahr für L. sieht sie unter anderem darin, dass L. bei einem schweren Verlauf mit erforderlichem Krankenhausaufenthalt Behandlungsmaßnahmen nicht tolerieren würde. So sei es bei einer Behandlung L.s aufgrund eines Allergieschocks gewesen. Hier seien bestimmte Untersuchungen nicht durchführbar gewesen. Daher versucht sie L. mit Ausnahme des Schulbesuchs weitgehend zu isolieren.
7
Die Antragstellerin beantragt,
die Entscheidung darüber, das gemeinsame Kind L1. L2., geboren am ... 2008, U., wegen Covid-19 von einem von der STIKO empfohlenen Impfstoff für Jugendliche von 12-15 Jahren impfen zu lassen, wird auf die Antragstellerin übertragen.
8
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag zurückzuweisen
9
Er sei nicht überzeugt, dass der Nutzen einer Impfung deren Risiko überwiegt. Vielmehr beantragt er, hierüber ein Sachverständigengutachten einholen. Die Erkrankung seines Sohnes sei kaum erforscht. Die STIKO Empfehlung sei nicht auf die Situation seines Sohnes zugeschnitten. Die Datenmenge im Hinblick auf die Empfehlung der Impfung von Kindern mit Vorerkrankungen sei zu gering. Der Kinderarzt sei für die Entscheidung nicht ausreichend kompetent. Der von BioNTECH eingesetzte Impfstoff sei nicht ausreichend erforscht und verfüge nur über eine Sonderzulassung. Es gebe vermehrt Berichte über Herzmuskelentzündungen bei Jugendlichen nach der Impfung und auch eine hohe Anzahl von weiteren Nebenwirkungen. Nachdem L. bereits einmal einen Allergieschock erlitten habe und auch dies eine mögliche Nebenwirkung wäre, wäre die Impfung bei L. noch kritischer zu sehen. Es bestehe sogar die Gefahr, dass sich das Risiko schwerer Erkrankungen durch die Impfung sogar erhöht. Schließlich biete eine Impfung keinen vollständigen Schutz vor einer Infektion. Im übrigen habe L. ohnehin sehr wenige Kontakte, so dass das Risiko einer Erkrankung daher gering sei. Schließlich habe es gerade in L.s Altersgruppe sehr wenig schwere Verläufe gegeben und lediglich 4 Todesfälle. 514 F 6377/21 - Seite 4 - Das Gericht hat einen Verfahrensbeistand für das Kind bestellt und die Eltern persönlich angehört. Das Gericht hat außerdem das Jugendamt angehört. Beide haben sich dafür ausgesprochen der Mutter die Entscheidungsbefugnis für die Impfung zu übertragen. L. wurde nicht angehört, da sämtliche Verfahrensbeteiligte mitgeteilt haben, dass L. sich nicht äußern kann und die zu entscheidende Frage nicht versteht. Alle Beteiligten sprachen sich dafür aus, L. die Belastung einer gerichtlichen Anhörung zu ersparen. Nachdem von einer entsprechenden Anhörung kein Erkenntnisgewinn zu erwarten ist, wurde somit davon Abstand genommen.
10
Der Mutter war die Entscheidungsbefugnis über die Durchführung der durch die STIKO empfohlenen Impfung gegen Covid-19 nach § 1628 S. 1 BGB allein zu übertragen.
11
Nach § 1628 S.1 BGB kann das Familiengericht, wenn sich die Eltern bei gemeinsamer elterlicher Sorge in einer einzelnen Angelegenheit oder in einer bestimmten Art von Angelegenheiten, deren Regelung für das Kind von erheblicher Bedeutung ist, nicht einigen können, auf Antrag eines Elternteils die Entscheidung einem Elternteil übertragen. Die Entscheidung über die Durchführung von Schutzimpfungen ist eine Angelegenheit von erheblicher Bedeutung in Sinn von § 1628 S.1 BGB. (vgl BGH NJW 2017, 2826)
12
Die Entscheidungskompetenz ist dem Elternteil zu übertragen, dessen Lösungsvorschlag dem Wohl des Kindes besser gerecht wird. Handelt es sich um eine Angelegenheit der Gesundheitsfürsorge, so ist die Entscheidung zugunsten des Elternteils zu treffen, der im Hinblick auf die jeweilige Angelegenheit das für das Kindeswohl bessere Konzept verfolgt.
13
Vorliegend war die Entscheidungskompetenz auf die Kindsmutter zu übertragen, da diese das für das Kindeswohl bessere Konzept verfolgt. Würde der Antrag der Mutter zurückgewiesen, würde der Vater die Zustimmung zur Impfung weiter verweigern und L. könnte nicht geimpft werden. Die Mutter möchte die von der STIKO empfohlene Impfung durchführen lassen.
14
Der Nutzen der streitgegenständlichen Impfung überwiegt das Impfrisiko. Die Impfempfehlungen der STIKO sind vom BGH als medizinischer Standart anerkannt (vgl. BGH Urteil vom 15.02.2000 VI ZR 48/99), so dass auch kein Sachverständigengutachten einzuholen ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass eine an der Empfehlung der STIKO orientierte Entscheidung der Antragstellerin über die Impfung des Kindes das für das Kindeswohl bessere Konzept darstellt. Hierbei wurde insbesondere berücksichtigt, dass L. ein besonders hohes Ansteckungsrisiko hat, da er keine Maske trägt und ständig Sachen in den Mund nimmt. Ferner, dass auch eine Behandlung bei erfolgter Infektion schwierig wäre, da er diese wahrscheinlich nicht tolerieren wird, Auch ist eine weitere Isolation L.s nicht dem Kindeswohl dienlich, wie das Jugendamt richtig ausgeführt hat.
15
Die Argumentation des Kindsvaters die gesundheitliche Situation seines Sohnes sei für die Impfentscheidung problematisch, ist nicht stichhaltig, weil selbstverständlich die Impffähigkeit von dem impfenden Arzt zu überprüfen ist. Im übrigen hat sich L.s Kinderarzt, der ihn schon viele Jahre behandelt für die Impfung ausgesprochen und hierbei auch die Argumente des Vaters berücksichtigt. Dass er hierzu noch eine weitere ärztliche Meinung eingeholt hat, spricht nicht gegen seine Kompetenz, sondern vielmehr dafür, dass er seine Entscheidung sorgfältig geprüft hat. Dass die Krankheit L.s kaum erforscht ist, mag zutreffen. Jedenfalls ergeben sich nach Einschätzung des Kinderarztes aufgrund der Erkrankung keine Anhaltspunkte, die Impfung nicht durchzuführen. Das Risiko einer allergischen Reaktion kann zwar nicht ausgeschlossen werden, ist jedoch - wenn die Impfung wie vom Kinderarzt empfohlen im Impfzentrum durchgeführt wird - kontrollierbar. Im übrigen kommen ernsthafte Nebenwirkungen gerade bei jungen Menschen extrem selten vor. Dies gilt auch für die vom Antragsgegner angesprochene Herzmuskelentzündungen. Letztere verlaufen im übrigen nach den bisherigen Erfahrungen milde. Hinzu kommt, dass nach derzeitigem Erkenntnisstand bei männlichen Jugendlichen das Risiko einer Herzmuskelentzündung nach einer Coronainfektion sechsmal höher als nach einer Impfung ist. Dass es Impfdurchbrüche gibt, ist unbestritten. Diese sind jedoch selten und führen auch in den gefährdeten Altersgruppen zu milden Verläufen. Falsch ist die Argumentation des Antragsgegners der Impfstoff von Biontech/Pfizer habe lediglich eine Notzulassung. Vielmehr wurde in Europa ein beschleunigtes Zulassungsverfahren durchgeführt. Die Zulassung wurde dadurch beschleunigt, dass die Daten direkt vom Impfhersteller zur Verfügung gestellt werden und somit schon vor dem Antrag auf Zulassung geprüft werden konnten.
16
Da somit nach derzeitigem Wissensstand die Wirksamkeit der Impfung sehr hoch ist, schwere Nebenwirkungen sehr selten auftreten und andererseits die Gefahr, dass sich L. ohne Impfung infiziert groß ist und bei Infizierung Probleme bei der Behandlung zu erwarten sind, kommt das Gericht zu dem Schluss, dass der Mutter die Entscheidung zu übertragen ist. Ihr Entschuss deckt sich mit der Empfehlung des Kinderarztes und der Stiko. Jugenamt und 514 F 6377/21 - Seite 6 - Verfahrensbeistand haben sich auch dafür ausgesprochen der Mutter die Entscheidung zu übertragen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 81 Abs. 1 Satz 1 FamFG.