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AG Aschaffenburg, Endurteil v. 18.01.2021 – 126 C 1267/20
Titel:

Keine Stornogebühren bei Rücktritt von Pauschalreise wegen COVID-19

Normenkette:
BGB § 651h
Leitsätze:
1. Zwar steht dem Reiseveranstalter im Fall des Rücktritts vor Reisebeginn eine angemessene Entschädigung zu, mit der ergegenüber dem Anspruch des Reisenden auf Rückzahlung aufrechnen kann. Dieser Entschädigungsanspruch entfällt jedoch, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtigen. Epidemien und Pandemien - wie auch die Covid-19-Pandemie - sind im Ausgangspunkt unvermeidbare außergewöhnliche Umstände. (Rn. 5) (redaktioneller Leitsatz)
2. In Bezug auf die Covid-19-Pandemie kommt es für die Beurteilung, ob ein außergewöhnliches Ereignis vorlag, darauf an, ob die Gegebenheiten zum Rücktrittszeitpunkt bereits als außergewöhnliche Umstände zu qualifizieren sind, die es erwarten lassen, dass die Beeinträchtigungen auch im Zeitpunkt der Reise bestehen. Es verbietet sich jede schematische Betrachtung, maßgeblich sind vielmehr die Umstände des konkreten Einzelfalls. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Pauschalreise, Rücktritt, COVID-19, außergewöhnliches Ereignis
Fundstelle:
BeckRS 2021, 3262

Tenor

1. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 326,40 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 31.03.2020 zu zahlen.
2. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger vorgerichtliche Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 81,43 € nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem Basiszinssatz der EZB seit 17.09.2020 zu zahlen.
3. Es wird festgestellt, dass ein Entschädigungsanspruch der Beklagten dem Kläger gegenüber auch in Höhe von weiteren 162,60 € nicht besteht.
4. Die Beklagte hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
5. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 326,40 €, ab dem 29.09.2020 auf 489,00 € festgesetzt.

Entscheidungsgründe

1
I. Gemäß § 495 a ZPO bestimmt das Gericht das Verfahren nach billigem Ermessen. Innerhalb dieses Entscheidungsrahmens berücksichtigt das Gericht grundsätzlich den gesamten Akteninhalt.
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II. Die Parteien streiten um Rückerstattung der durch den Kläger auf den Reisepreis geleisteten Anzahlung bzw. Feststellung, dass der Beklagten keine weitere Stornokosten aufgrund des Rücktritts des Klägers vor Reisebeginn zustehen. Der 83-jährige Kläger, der im Bereich der Lunge sowie der Bronchien vorbelastet ist, buchte am 08.10.2019, mithin außerhalb der Corona-Pandemie in Europa, eine Reise in das Gr. Z. Beach Hotel, A., Türkei für den Zeitraum 27.04.2020 bis 13.05.2020. Am 16.03.2020 stornierter der Kläger die Reise.
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III. Dem Kläger steht ein Anspruch auf Rückzahlung der geleisteten Anzahlung von 326,40 € zu.
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1. Gemäß § 651 h Abs. 1 BGB kann der Reisende vor Beginn der Reise - auch grundlos - jederzeit vom Vertrag zurücktreten. Dem Reisenden steht denn steht in diesem Fall die Rückzahlung des Reisepreises innerhalb von 14 Tagen zu, 651 h Abs. 5 BGB. Der Kläger hat am 16.03.2020 die Reise storniert.
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2. Der Anspruch des Klägers auf Rückzahlung ist nicht durch Aufrechnung der Beklagten erloschen. Zwar steht der Beklagten als Reiseveranstalterin im Fall des Rücktritts vor Reisebeginn eine angemessene Entschädigung zu, mit der sie gegenüber dem Anspruch des Reisenden auf Rückzahlung aufrechnen kann, § 651 h Abs. 1 Satz 3 BGB. Dieser Entschädigungsanspruch entfällt jedoch, wenn am Bestimmungsort oder in dessen unmittelbarer Nähe unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände auftreten, die die Durchführung der Pauschalreise erheblich beeinträchtige, § 651 h Abs. 4 BGB. Epidemien und Pandemien - wie auch die Covid19-Pandemie - sind im Ausgangspunkt unvermeidbare außergewöhnliche Umstände (Löw, NJW 2020, 1252, 1253).
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a. Da der Wortlaut auf die Zeit vor dem Reisebeginn abstellt, muss bei der Kündigungserklärung des Reisenden (BGHZ 109, 226) eine Prognoseentscheidung getroffen werden. Diese Prognoseentscheidung kann aus Sicht des Gerichts im Rahmen einer Pandemie-Entwicklung nur zeitnah zur Reise getroffenen werden, da nur dann überhaupt eine Prognose über Beeinträchtigungen/Ansteckungen im Reiseland im Zeitpunkt der Reise anhand objektiver Kriterien möglich sind. Dem Reisenden ist es auch zumutbar, vorerst die weitere Entwicklung abzuwarten, bevor er seinen Rücktritt ausübt, sofern die Reise nicht unmittelbar bevorsteht (vgl. Führich, NJW 2020, 2137, 2139). In der Literatur wird insoweit für eine sichere Prognose einer Eintrittswahrscheinlichkeit von Corona-bedingten erheblichen Beeinträchtigungen eine Frist von vier Wochen vor Reisebeginn befürwortet (vgl. Führich, NJW 2020, 2137, 2139). Vorliegend hat der Kläger die Reise am 16.03.2020 und damit 6 Wochen vor Reisebeginn storniert. Aus Sicht des Gerichts liegt ist eine Stornierung von 6 Wochen vor Reiseantritt zwar am äußeren Rahmen, ist jedoch noch als zeitnah vor der Reise zu bewerten.
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b. In Bezug auf die Covid19-Pandemie kommt es für die Beurteilung, ob ein außergewöhnliches Ereignis vorlag drauf an, dass ob die Gegebenheiten zum Rücktrittszeitpunkt bereits als außergewöhnliche Umstände zu qualifizieren sind, die es erwarten lassen, dass die Beeinträchtigungen auch im Zeitpunkt der Reise bestehen. Es verbietet sich jede schematische Betrachtung, maßgeblich sind vielmehr die Umstände des konkreten Einzelfalls. Der Kläger hat substantiiert dargetan, dass er die Stornierung aufgrund Rücksprache mit dem auswärtigen Amt, das pandemiebedingt von sämtlichen Auslandsreisen abriet und der Reisewamung der Bundesregierung bezüglich sämtlicher Auslandsreisen am 16.03.2020 sowie seiner gesundheitlichen Situation und Vorbelastungen vorgenommen hat. Auch seien ab dem 15.03.2020 bereits Rückholaktionen deutscher Urlauber erfolgt. Am 11.03.2020 habe es zudem den ersten Todesfall in der Türkei gegeben. Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte geht das Gericht bei der ex ante Betrachtung des Klägers, insbesondere aufgrund seines Alters und seiner Vorerkrankungen, die für den Kläger ein erhöhtes Risiko im Fall der Ansteckung und Erkrankung bedeuten, davon aus, dass der Kläger im Rücktrittszeitpunkt zutreffend davon ausging, dass im Reisezeitraum Umstände vorliegen werden, die seine Reise erheblich beeinträchtigen werden.
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c. Entgegen der Auffassung der Beklagtenseite wäre eine nachträgliche Rechtfertigung des „verführten“ Rücktritts möglich. Denn es würde dem Grundgedanken des § 326 Abs. 1 BGB widersprechen, sofern der Reiseveranstalter eine Entschädigung für solche Reisen verlangen kann, die überhaupt nicht stattfanden (vgl. Harke, beck-online.Großkommentar § 651 h Rn. 4 Stand 1.11.2020; AG Hannover, Urteil vom 29.10.2020, BeckRS 2020, 30571; a.A. Staudinger/Ruks, DAR 2020, 314). Zudem schließen die nachträgliche Rechtfertigung eines zunächst grundlos erklärten Rücktritts weder der Wortlaut von § 651 h BGB noch die Formulierung von Art. 12 Pauschalreise-RL aus (vgl. Harke, beck-online.Großkommentar § 651 h Rn. 4 Stand 1.11.2020). Art. 12 der Pauschalreise-RL führt aus, dass der Reiseveranstalter die Zahlung einer angemessenen und vertretbaren Rücktrittsgebühr verlangen kann. Die Erhebung von Stornokosten, obwohl der Reiseveranstalter sich sämtliche Aufwendungen und geschuldeten Reiseleistungen erspart, ist nicht vertretbar. Hierfür spricht auch, dass der Reiseveranstalter verpflichtet, dem Reisenden die Höhe der Entschädigung auf Verlagen zu begründet; eine Ausschlussfrist für diese Begründung sieht das Gesetz nicht vor. Diese Begründungspflicht soll gerade gewährleisten, dass der Reisende die Stomokosten prüfen kann. Im Ergebnis würde es auch Treu und Glauben widersprechen, könnte der Reiseveranstalter Kosten für eine Reise erheben, für welche er keine Aufwendungen hatte (vgl. zu Treu- und Glauben bei böswilligem Unterlassens der Weiterverwendung von Reiseleistungen im Falle der Stornierung, BT-Drs. 18/10822, S. 76). Die Reisewarnung für die Türkei galt gerichtsbekannt im Reisezeitpunkt für die gesamte Türkei. Dass diese Reise trotz der geltenden Reisewarnung des auswärtigen Amtes so durchgeführt werden konnte, hat die Beklagte nicht dargetan.
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III. Aus den gleichen Gründen ist der Feststellungsanspruch begründet. Die Beklagte machte mit Stronorechnung vom 17.03.2020 einen Anspruch auf Erstattung der Stronokosten in Höhe von 489,00 € gegen den Kläger geltend. Der Kläger hat demnach ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass die Beklagte diese Kosten nicht weiter fordern kann.
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IV. Der Anspruch auf vorgerichtliche Anwaltskosten ergibt sich aus Verzug, §§ 286 Abs. 2 Nr. 2, 280 Abs. 2 BGB zu. Der Reisepreis, auch entsprechende Anzahlungen, sind binnen einer Frist von 14 Tagen zurückzuzahlen. Der Anspruch auf Zinsen ergibt sich ebenfalls aus Verzug gemäß §§ 286 Abs. 2 Nr. 2, 280, 288 BGB bzw. § 291 ZPO.
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V. Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 ZPO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit hat ihre Rechtsgrundlage in den §§ 708 Nr. 11, 713 ZPO.