Titel:
Fiktive Abrechnung der Reparaturkosten nach einem Verkehrsunfall (keine Erstattungsfähigkeit von "Entsorgungskosten", keine Verweisung auf günstigeren "Service-Partner" des Fahrzeugherstellers bei scheckheftgepflegtem Fahrzeug)
Normenketten:
StVG § 17 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3
BGB § 249 Abs. 2
StVO § 1 Abs. 2, § 2 Abs. 2
Leitsätze:
1. Im Rahmen der fiktiven (Schadens-) Abrechnung von Reparaturkosten sind Entsorgungskosten (hier: 7 EUR) nicht ersatzfähig, da sie bei einer fiktiven Reparatur von vornherein nicht anfallen. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Eigentümer eines scheckheftgepflegten, bei einem Verkehrsunfall beschädigten Fahrzeugs muss sich iRd fiktiven Abrechnung der Reparaturkosten nicht auf einen günstigeren bloßen "Service-Partner" des Fahrzeugherstellers, der neben Fahrzeugen dieses Herstellers (hier: VW) auch andere Fahrzeuge desselben Konzerns (hier: Audi und Skoda) repariert, verweisen lassen. Er kann die Kosten einer markengebunden Fachwerkstatt ersetzt verlangen. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verkehrsunfall, fiktiv, Schadensabrechnung, Entsorgungskosten, Verweisung, scheckheftgepflegt, Service-Partner, unabwendbares Ereignis, Idealfahrer, Haftungsquote
Fundstelle:
BeckRS 2021, 31685
Tenor
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger € 9.379,98 nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz aus einem Betrag von € 7.766,26 seit 01.12.2020, aus einem Betrag von weiteren € 1.579,20 seit 02.04.2021 und aus einem weiteren Betrag in Höhe von € 34,51 seit 26.05.2021 zu zahlen.
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger vorgerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von € 612,80 nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 05.02.2021 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits tragen die Beklagten gesamtschuldnerisch 80% und der Kläger 20%.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 10% des jeweilszu vollstreckenden Betrags.
Der Streitwert wird auf 9.719,83 € bis 30.03.2021, auf € 11.693,83 bis 16.05.2021 und auf 11.736,97 € seit 17.05.2021 festgesetzt.
Tatbestand
1
Die Parteien streiten über Schadenersatzansprüche im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall, welcher sich am 09.11.2020 an der Kreuzung W. Straße und J. straße in N. ereignete.
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Beim Klägerfahrzeug handelt es sich um ein Taxi VW Typ Caddy (amtl. Kennz.: …). Fahrer am Unfalltag war der Zeuge .... Das Beklagtenfahrzeug ist ein Müllfahrzeug (amt. Kennz.: …), welches am Unfalltag vom Beklagten zu 1) gelenkt wurde.
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Am Unfalltag gegen 09:00 Uhr befuhr der Zeuge X mit dem klägerischen Taxi die W. Straße in Nürnberg in östlicher Richtung und beabsichtigte, nach rechts in die J. straße einzufahren. Zu diesem Zeitpunkt bog der Beklagte zu 1) mit dem genannten Müllfahrzeug von der J. straße her kommend (aus seiner Sicht) links in die W. Straße ein. Hierbei kam es zu einer Kollision der beiden Fahrzeuge, deren Ursache im Einzelnen streitig ist (siehe hierzu sogleich).
4
Der Kläger ließ den Schaden an seinem Taxi bei der Fa. D. A. GmbH begutachten. Diese erstattete unter dem 15.11.2020 ein schriftliches Gutachten, in welchem die Reparaturkosten mit 8.429,14 € netto und die merkantile Wertminderung mit € 600,00 beziffert wurden. Wegen Einzelheiten wird auf die Anlage K1 umfassend Bezug genommen. Der Kalkulation liegen Verrechnungssätze in Höhe von 195,00 € pro Stunde netto zugrunde. Es handelt sich hierbei um die Verrechnungssätze einer sog. markengebundenen Fachwerkstatt in der Region. Für die Erstattung des Gutachtens wurden dem Kläger von der Fa. DEKRA ein Betrag in Höhe von 660,69 € netto in Rechnung gestellt (Anlage K2).
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Mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten vom 20.11.2020 forderte der Kläger die Beklagte zu 2) auf, die Gutachterkosten, die Reparaturkosten, die Wertminderung sowie eine Kostenpauschale bis 30.11.2020 zu bezahlen. Außergerichtlich erfolgten jedoch keine Zahlungen.
6
Der Kläger behauptet, dass der Beklagte zu 1) den Unfall allein verschuldet habe. Offensichtlich aus Unachtsamkeit sei der Beklagte zu 1) am hinteren linken Eck des zu diesem Zeitpunkt bereits stehenden Taxis hängen geblieben, als er an diesem vorbeigefahren ist. Der Kläger begehrt neben der Erstattung der fiktiven Reparaturkosten, der Wertminderung, des Sachverständigenhonorars und einer Kostenpauschale in Höhe von 30,00 € ferner die Kosten eines Miettaxis in Höhe von 1.974,00 netto, welche ihm von der Fa. XYZ GmbH in Rechnung gestellt wurden. Zuletzt genannten Betrag machte der Kläger klageerweiternd mit Schriftsatz vom 31.03.2021 geltend. Ferner begehrt er die Erstattung der Kosten der Nachbesichtigung des klägerischen Pkws durch die Fa. DEKRA, welche mit Rechnung vom 04.05.2021 (Anlage K 11) in Rechnung gestellt wurden. Diese Kosten wurden klageerweiternd mit Schriftsatz vom 17.05.2021 geltend gemacht.
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Der Kläger beantragte daher zuletzt:
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger € 11.736,97 nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über den jeweiligen Basiszinssatz seit 01.12.2020 zu zahlen.
2. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger weitere vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von € 805,20 nebst Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen, hilfsweise den Kläger von diesen Kosten frei zu stellen.
8
Die Beklagten beantragen,
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Die Beklagten behaupten im Wesentlichen, dass das beklagte Müllfahrzeug bereits vor dem Unfall zum Stehen gebracht worden sei. Verursacht sei der Unfall daher durch den Zeugen X, der mit dem von ihm geführten Taxi wohl aufgrund einer zu früh eingeleiteten Kurvenfahrt nach rechts in die J. straße mit seinem Heck gegen das Heck des stehenden Müllfahrzeugs gestoßen habe. Die Beklagten meinen ferner, den Kläger auf die Referenzwerkstatt K. A. GmbH verweisen zu können, wo Mechanik-, Elektrik- und Karosseriearbeiten zu einem Stundensatz von nur 149,00 € und Lackarbeiten inklusive Lackmaterial zum Stundensatz von 217,00 € durchgeführt würden. Der Kläger habe keinen Anspruch, seinen Pkw bei einer klassischen Werksvertretung reparieren zu lassen.
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Wegen des weiteren Parteivortrags wird auf die gewechselten Schriftsätze samt Anlagen Bezug genommen.
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Der Beklagte zu 1) wurde im Termin am 01.07.2021 informatorisch angehört. Ferner wurde im Termin der Zeuge X uneidlich vernommen. Im Anschluss hieran erstattete der gerichtlich bestellte Sachverständige Dipl.-Ing. (FH) Z ein mündliches unfallanalytisches Sachverständigengutachten. Wegen der Einzelheiten wird auf das Terminsprotokoll mit Anlagen umfassend Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist weitgehend begründet.
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Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass das klägerische Taxi zum Unfallzeitpunkt bereits stand, sodass der Unfall durch das sich noch in Fahrt befindliche Müllfahrzeug verursacht wurde. Aufgrund der ungünstigen Anhalteposition des Taxis war eine (verminderte) Betriebsgefahr von 20% in Ansatz zu bringen. Auch die Kostensätze eines Servicepartners von VW hat sich der Kläger jedoch nicht verweisen zu lassen.
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1. Aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme stellt sich das Unfallgeschehen wie folgt dar: Der Zeuge ... beabsichtigte am Unfalltag von der W. Straße kommend rechts in die J. straße abzubiegen. Als er bemerkte, dass das Müllfahrzeug aus der J. straße kommend links in die W. Straße abbog, hielt er sein Taxi zum Stillstand an. Das Fahrzeug befand sich allerdings in der Anhalteposition relativ mittig in der Straße und hätte vom Zeugen ... ohne weiteres näher zum rechten Fahrbahnrand gelenkt werden können. Die Platzverhältnisse waren daher für den Beklagten zu 1) sehr beengt. Beim Versuch, langsam am klägerischen Pkw vorbeizufahren, kam es zu einer Kollision der jeweils linken hinteren Fahrzeugseiten. Am Klägerfahrzeug entstand hierdurch ein Reparaturschaden in Höhe von 8.422,41 €. Es erlitt ferner eine Wertminderung von 600,00 €.
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2. Das Gericht stützt seine Überzeugung im Wesentlichen auf die Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. (FH) Z, der dem Gericht seit Jahren als kompetenter und zuverlässiger Experte im Bereich der Unfallrekonstruktion bekannt ist.
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Dieser gab an, dass kein Zweifel daran bestehe, dass sich das Müllfahrzeug zum Unfallzeitpunkt in Vorwärtsfahrt befunden habe. Er begründete dies einerseits mit von ihm festgestellten typischen Radandrehspuren über die Stoßfängerabdeckung des VW Caddy hinweg. Er konnte aber auch Spuren einer momentanen Verhakung zwischen den Fahrzeugen feststellen, die in ihrer Überdeckung nur durch ein entsprechendes Vorwärtsfahren des Müllfahrzeugs erklärlich sind. Der Sachverständige bestätigte damit die Version des Zeugen ... umfassend.
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Der Sachverständige stellte aber auch dar, dass der Unfall für beide Seiten technisch abwendbar gewesen sei. Der Beklagte zu 1) als Fahrer des Müllfahrzeugs hätte durch einen besseren Fahrkurs, also durch ein besseres Ausholen und dann Weglenken den Unfall vermeiden können. Aber auch der Zeuge ... hätte das Taxi vor dem Unfall frühzeitiger nach rechts lenken können, um dann an einer besseren, sprich an einer weiter rechts befindlichen, Stelle in den späteren Unfallbereich einzusteuern.
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Gegenüber dem von der DEKRA angesetzten Reparaturbetrag seien € 7,00 in Abzug zu bringen, da Entsorgungskosten bei einer fiktiven Abrechnung nicht anfallen würden.
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Diesen für das Gericht nachvollziehbaren und widerspruchsfreien Angaben folgt das Gericht.
20
Im Hinblick auf die beklagtenseits angegebene Referenzwerkstatt gab der Sachverständige an, dass es sich hierbei nicht um eine Werksvertretung im formellen Sinne handele. Die Firma Kaiser firmiere als sog. Servicepartner auch für andere Marken der VW-Gruppe.
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3. Da der Schaden vorliegend durch mehrere Kraftfahrzeuge verursacht wurde (§ 17 Abs. 1, 2 StVG), hängt im Verhältnis der Fahrzeugführer zueinander die Verpflichtung zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die Abwägung im Rahmen des § 17 Abs. 1 StVG ist aufgrund aller festgestellten Umstände des Einzelfalles vorzunehmen, wenn sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben. In erster Linie ist hierbei nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (BGH r+s 2017, 153; BGH r+s 2017, 93; BGH r+s 2016, 147; BGH r+s 2014, 364; BGH r+s 2012, 195; BGH VersR 2010, 642; BGH VersR 2007, 557). Dabei dürfen nur feststehende Umstände berücksichtigt werden, die sich erwiesenermaßen auf den Unfall ausgewirkt haben (BGH r+s 2017, 93; BGH VersR 1995, 357 m.w.N.).
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Zunächst ist festzustellen, dass der Unfall für keinen der beiden Fahrer unabwendbar im Sinne des § 17 Abs. 3 Satz 1 StVG war. Wie der Sachverständige ausführte, hätte der Beklagte zu 1) den Unfall durch einen besseren Fahrkurs abwenden können. Allerdings hätte ein Idealfahrer auf Seiten des Klägerfahrzeugs den Unfall ebenfalls durch ein besseres Fahrverhalten vor der Kollision vermeiden können. Das Taxi stand nämlich relativ mittig in der Straße. Dies führte dazu, dass die Platzverhältnisse für den Beklagten zu 1) sehr beengt waren. Ein Idealfahrer hätte sein Fahrzeug weiter rechts zum Stehen gebracht.
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Der Beklagte zu 1) verstieß daher gegen die allgemeine Sorgfaltspflicht im Straßenverkehr von § 1 Abs. 2 StVG. Es ist ebenfalls ein Verstoß gegen das Rechtsfahrverbot des § 2 Abs. 2 StVG anzunehmen. Allerdings waren die Straßenverhältnisse für den Beklagten zu 1) beengt. Der Unfall ist letztlich aufgrund einer Unachtsamkeit des Beklagten zu 1) entstanden. Der verkehrsrechtliche Verstoß ist daher nicht als so gravierend anzunehmen, dass dahinter die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs vollständig zurücktritt, zumal der Zeuge ... sein Fahrzeug ungünstig in der W. Straße im Kreuzungsbereich angehalten hatte. Daher ist eine Mithaftung des Klägers von 20% in Ansatz zu bringen.
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4. Vor Quote kann der Kläger daher Schadenersatz in Höhe von 11.724,97 € geltend machen. Unter Zugrundelegung einer Mithaftung von 20% waren dem Kläger daher € 9.379,98 zuzusprechen.
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Der Kläger muss sich dabei nicht auf die Referenzwerkstatt verweisen lassen. Bei der Firma K. GmbH handelt es sich lediglich um einen Servicepartner der VW-Gruppe. Diese repariert also nicht lediglich Fahrzeuge der Marke VW, sondern auch anderer Marken der Gruppe wie etwa Audi oder Skoda. Anerkannt von der Rechtsprechung ist jedoch, dass der Geschädigte eines Scheckheftgepflegten Fahrzeugs die Kosten einer markengebundenen Fachwerkstatt ersetzt verlangen kann (BGH, Urteil vom 25.09.2018, Az. VI ZR 65/18).
26
Von den in Ansatz gebrachten Reparaturkosten waren € 7,00 abzuziehen, da diese auf Entsorgungskosten entfielen, die bei einer fiktiven Reparatur von vorneherein nicht anfallen. Nach der ständigen Rechtsprechung der Kammer kann eine Unfallkostenpauschale lediglich in Höhe von € 25,00 geltend gemacht werden.
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Damit kann der Kläger folgende Schadenersatzbeträge geltend machen:
1
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Reparaturkosten (lt. SV Z)
|
8.422,14 €
|
2
|
Wertminderung
|
600,00 €
|
3
|
SV-Honorar
|
660,69 €
|
4
|
Unfallkostenpauschale
|
25,00 €
|
5
|
Kosten eines Miettaxis
|
1.974,00 €
|
6
|
Kosten der Nachbesichtigung
|
43,14 €
|
5
|
Summe vor Quote
|
11.724,97 €
|
6
|
davon 80%
|
9.379,98 €
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28
Verzugszinsen ergeben sich - wie tenoriert - aus §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286, 288 BGB.
29
Ferner kann der Kläger die Erstattung außergerichtlicher Rechtsanwaltsgebühren aus einem Gegenstandswert in Höhe von € 7.766,26 geltend machen, da die Kosten des Miettaxis sowie der Nachbesichtigung nicht außergerichtlich geltend gemacht wurden.
30
Im Übrigen war die Klage abzuweisen.
31
5. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 92 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus § 709 Satz 1 und Satz 2 ZPO.