Titel:
Widerruf der Reisegewerbekarte und erweiterte Gewerbeuntersagung
Normenketten:
GewO § 35 Abs. 8 S. 1, § 57 Abs. 1, § 60d
BayVwVfG Art. 49 Abs. 2 S. 1 Nr. 3
Leitsätze:
1. Der Begriff der Unzuverlässigkeit in § 57 Abs. 1 GewO deckt sich mit demjenigen in § 35 GewO, sodass insoweit als unzuverlässig gilt, wer keine Gewähr dafür bietet, dass er sein Gewerbe in Zukunft ordnungsgemäß ausüben wird, wobei sich die Unzuverlässigkeit insbesondere aus der mangelnden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, dem Vorliegen von Steuerschulden, der Verletzung von steuerlichen Erklärungspflichten, dem Vorhandensein von Beitragsrückständen bei Sozialversicherungsträgern oder aus Straftaten und Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit der gewerblichen Betätigung ergeben kann. (Rn. 45) (redaktioneller Leitsatz)
2. Steuerverbindlichkeiten sind nur dann geeignet, einen Gewebetreibenden als unzuverlässig zu erweisen, wenn sie sowohl nach absoluter Höhe als auch im Verhältnis zur Gesamtbelastung des Gewerbetreibenden von einigem Gewicht sind, und auch die Zeitdauer, während derer der Gewerbetreibende seinen steuerlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist, ist von Bedeutung, wobei nicht nur Steuerrückstände, sondern auch sonstige steuerrechtliche Pflichtverstöße zur Annahme der Unzuverlässigkeit führen können, was auch etwa für die beharrliche Missachtung steuerrechtlicher Erklärungspflichten gilt. (Rn. 46) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Verschulden im Sinne eines moralischen oder ethischen Vorwurfs oder ein Charaktermangel auf Seiten des Gewerbetreibenden sind nicht Voraussetzung einer Gewerbeuntersagung wegen Unzuverlässigkeit. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)
4. Im Interesse eines ordnungsgemäßen und redlichen Wirtschaftsverkehrs muss von einem Gewerbetreibenden erwartet werden, dass er bei anhaltender wirtschaftlicher Leistungsunfähigkeit ohne Rücksicht auf die Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten seinen Gewerbebetrieb aufgibt. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)
5. Ist ein Gewerbe wirksam untersagt worden, hat die Behörde nicht mehr zu prüfen, ob die Untersagungsgründe die ergangene Gewerbeuntersagung weiterhin tragen; haben sich die tatsächlichen Umstände geändert, muss die Initiative vom Gewerbetreibenden ausgehen. (Rn. 49) (redaktioneller Leitsatz)
6. Eine erweiterte Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 S. 2 GewO kommt in den Fällen nicht in Betracht, in denen ein erlaubnispflichtiges Gewerbe betrieben und anstelle einer nicht möglichen Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 S. 1 GewO die erforderliche Erlaubnis wegen Unzuverlässigkeit widerrufen wurde. (Rn. 60) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Widerruf der Reisegewerbekarte, erweiterte Gewerbeuntersagung, gewerberechtliche Unzuverlässigkeit, Steuerschulden, keine Kombination aus Widerruf einer Reisegewerbekarte und einer erweiterten Gewerbeuntersagung, Reisegewerbekarte, Widerruf, Gewerbeuntersagung, Unzuverlässigkeit, Prognose, Verschulden, Betriebsaufgabe, öffentliches Interesse, Ermessen
Rechtsmittelinstanz:
VGH München, Beschluss vom 28.09.2021 – 22 ZB 21.2109
Fundstelle:
BeckRS 2021, 30926
Tenor
1. Ziffern 4, 5, 6 und 9 des Bescheids des Beklagten vom 7.7.2020 werden aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger zu 7/10 und der Beklagte zu 3/10.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen den Widerruf seiner Reisegewerbekarte und gegen eine erweiterte Gewerbeuntersagung.
2
Dem Kläger ist am 12.9.2006 durch den Beklagten eine unbefristete Reisegewerbekarte erteilt worden, die ihn dazu berechtigt, folgende Tätigkeiten im Reisegewerbe auszuüben: „Feilbieten von - Ankauf von: Kurzwaren, Werkzeugen, Haushaltswaren, Schrott und Buntmetall; Anbieten von - Aufsuchen von Bestellungen auf - Leistungen: Dachfassaden- und Hofreinigung, Dachbeschichtung, Recycling von Schrott und Buntmetall; Ausübung unterhaltender Tätigkeiten als Schausteller oder nach Schaustellerart: Schausteller mit Fahrgeschäften“.
3
Darüber hinaus hat der Kläger am 15.4.2015 als Betriebsinhaber der … (haftungsbeschränkt) bei dem Beklagten angezeigt, dass die genannte Firma in … ein Gewerbe mit dem Schwerpunkt „Vermittlung und Verkauf von Spezialfahrzeugen weltweit“ ausübe. Die Gesellschaft ist seit dem 3.12.2014 im Handelsregister eingetragen.
4
Mit Schreiben vom 27.5.2019 regte das Finanzamt … (im Folgenden: Finanzamt) bei dem Beklagten an, ein Gewerbeuntersagungsverfahren hinsichtlich des Klägers einzuleiten. Er habe Betriebssteuerrückstände bzw. Personensteuern, die aus dem Betrieb resultieren, in Höhe von 14.463,67 EUR. Die Vollstreckung sei im Wesentlichen erfolglos verlaufen. Forderungspfändungen hätten nicht zum Erfolg geführt und es sei bisher keine freiwillige Zahlung erfolgt. Der Kläger sei auch seinen sonstigen Verpflichtungen nicht ordnungsgemäß nachgekommen. Umsatzsteuer-Voranmeldungen seien seit September 2018 nicht eingereicht worden und die Steuererklärung 2017 sei noch nicht abgegeben worden.
5
Das hieraufhin von dem Beklagten eingeleitete Verfahren brachte folgende weitere Erkenntnisse über den Kläger:
6
Am 3.6.2019 lag keine Eintragung des Klägers im Gewerbezentralregister vor und auch sein Führungszeugnis enthielt keine Eintragung. Der Markt … teilte mit Schreiben vom 12.6.2019 im Wesentlichen mit, es seien keine Tatsachen bekannt, die die Unzuverlässigkeit des Klägers in Bezug auf das ausgeübte Reisegewerbe dartun würden. Das Amtsgericht … teilte mit Schreiben vom 25.6.2019 mit, es liege weder ein eröffnetes Insolvenzverfahren noch eine Abweisung eines solchen mangels Masse vor.
7
Laut Auskunft der Kriminalpolizei … vom 5.6.2019 war zu diesem Zeitpunkt im Bereich … kein Strafverfahren gegen den Kläger anhängig. Es habe früher Verfahren gegeben, zuletzt wegen Verstoßes gegen die Insolvenzordnung im Jahr 2018. Die weiteren, aus den Jahren 2013 und früher datierenden Verfahren wurden aufgelistet. Die Staatsanwaltschaft … teilte mit Schreiben vom 21.6.2019 mit, zum Kläger existiere dort aktuell ein Verfahren. Es sei wegen Insolvenzverschleppung gegen ihn ermittelt worden; das Verfahren sei am 30.1.2019 nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt worden.
8
Die Industrie- und Handelskammer für Oberfranken … (im Folgenden: IHK) teilte mit Schreiben vom 12.6.2019 mit, der Kläger sei Geschäftsführer der … (haftungsbeschränkt), die seit dem 3.12.2014 Mitglied der Kammer sei. Mit Bescheid vom 3.5.2019 seien Beiträge in Höhe von 162,16 EUR mit einem Zahlungsziel von einem Monat angefordert worden. Eine Zahlung sei bis dato nicht verbucht worden.
9
Laut telefonischer Auskunft des Finanzamtes vom 9.7.2019 kam der Kläger als Geschäftsführer der … (haftungsbeschränkt) seinen Verpflichtungen nur sehr unzuverlässig nach. Die Steuern für das Kalenderjahr 2017 hätten geschätzt werden müssen. Aufgrund der Schätzung würden die Steuerrückstände im August auf 3.500 EUR ansteigen. Freiwillige Zahlungen würden nicht geleistet. In einem weiteren Telefonat am 2.9.2019 wurde die Beklagte darüber informiert, dass die Betriebssteuerrückstände des Klägers auf 16.183,91 EUR angestiegen seien.
10
Eine Suchanfrage im Schuldnerverzeichnis vom 2.9.2019 brachte folgende Eintragungen des Klägers zutage:
- 18.11.2016: Nichtabgabe der Vermögensauskunft
- 16.3.2017: Nichtabgabe der Vermögensauskunft
- 16.8.2017: Gläubigerbefriedigung ausgeschlossen
- 12.10.2017: Gläubigerbefriedigung ausgeschlossen
- 8.12.2018: Gläubigerbefriedigung ausgeschlossen
- 4.1.2018: Gläubigerbefriedigung ausgeschlossen
- 23.11.2018: Nichtabgabe der Vermögensauskunft
- 30.1.2019: Gläubigerbefriedigung ausgeschlossen
- 3.4.2019: Gläubigerbefriedigung ausgeschlossen
11
Mit Schreiben vom 4.9.2019 hörte der Beklagte den Kläger zum Widerruf seiner Reisegewerbekarte und zur Untersagung seines Gewerbes an: Das Finanzamt habe mit Schreiben vom 27.5.2019 mitgeteilt, dass die Steuerrückstände aus der gewerblichen Tätigkeit des Klägers einschließlich Nebenkosten 14.463,67 EUR betrügen. Die Vollstreckung sei im Ergebnis erfolglos verlaufen. Auf weitere Nachfrage habe das Finanzamt am 2.9.2019 mitgeteilt, die Steuerrückstände würden mittlerweile 16.183,91 EUR betragen. Auch komme der Kläger seinen steuerlichen Erklärungspflichten nicht nach; die Umsatzsteuer-Voranmeldungen seit dem 1. Quartal 2016 würden fehlen. Der Kläger sei zudem sechs Mal im Vollstreckungsportal mit „Gläubigerbefriedigung ausgeschlossen“ eingetragen und drei weitere Eintragungen würden aus der „Nichtabgabe der Vermögensauskunft“ resultieren. Bei keiner der genannten Stellen habe der Kläger Schritte zur Eindämmung seiner Rückstände unternommen oder Vereinbarungen zur Rückzahlung seiner Rückstände vereinbart. Da sein Verhalten auch in Zukunft keine Besserung erwarten lasse, sei beabsichtigt, ihm die Reisegewerbekarte zu widerrufen und ihm die selbständige Gewerbeausübung zu untersagen. Der Kläger könne sich bis zum 18.9.2019 zu dem geplanten Widerruf der Reisegewerbekarte und der Gewerbeuntersagung äußern und gegebenenfalls Entlastungstatbestände vorbringen. Sofern er die erhobenen Vorwürfe nicht entkräften könne, müsse er aufgrund der festgestellten Tatsachen mit dem kostenpflichtigen Widerruf der Reisegewerbekarte und der kostenpflichtigen Untersagung seines Gewerbes rechnen.
12
Bei einer erneuten Suchanfrage im Schuldnerverzeichnis am 14.11.2019 wurden die bereits bekannten Eintragungen angezeigt; weitere waren nicht hinzugekommen.
13
Laut telefonischer Auskunft des Finanzamtes vom selben Tag betrugen die Steuerrückstände des Klägers zu diesem Zeitpunkt 18.401,68 EUR. Zahlungen würden nicht geleistet.
14
Auf der Grundlage seiner Erkenntnisse hörte der Beklagte die IHK mit Schreiben vom 14.11.2019 zum beabsichtigten Widerruf der Reisegewerbekarte und einer erweiterten Gewerbeuntersagung des Klägers an.
15
Die IHK teilte mit Schreiben vom 29.11.2019 mit, die dortigen Beitragsrückstände in Höhe von 162,16 EUR seien ebenfalls noch nicht beglichen worden. Da den vorgelegten Akten keine Reaktion des Klägers auf das Anhörungsschreiben vom 4.9.2019 zu entnehmen sei, sei vorliegend nicht mit einem zeitnahen und nachhaltigen Abbau der Schulden des Klägers zu rechnen, sondern vielmehr mit einem weiteren Anwachsen der Rückstände. Nach einer Gesamtbetrachtung sei daher davon auszugehen, dass der Kläger nicht die erforderliche gewerberechtliche Zuverlässigkeit besitze. Es würden daher keine Einwendungen gegen den Widerruf der Reisegewerbekarte und die geplante Gewerbeuntersagung erhoben.
16
Eine erneute Suchanfrage im Schuldnerverzeichnis am 1.7.2020 ergab im Wesentlichen die bereits bekannten Eintragungen des Klägers. Die Eintragungen wegen Nichtabgabe der Vermögensauskunft vom 18.11.2016 und 16.03.2017 waren nunmehr jedoch nicht mehr darin enthalten. Neue Eintragungen waren nicht hinzugekommen.
17
Laut telefonischer Mitteilung des Finanzamtes vom 1.7.2020 betrugen die Steuerrückstände des Klägers zu diesem Zeitpunkt 22.453,68 EUR. Umsatzsteuer-Voranmeldungen und Umsatzsteuererklärungen würden nicht abgegeben.
18
Mit Bescheid vom 7.7.2020, zugestellt am 9.7.2020, widerrief die Beklagte die dem Kläger am 12.9.2006 erteilte Reisegewerbekarte zum „Feilbieten - Ankauf von: Kurzwaren, Werkzeugen, Haushaltswaren, Schrott und Buntmetall; Anbieten - Aufsuchen von Bestellungen auf - Leistungen: Dachfassaden und Hofreinigung, Dachbeschichtungen, Recycling von Schrott und Buntmetall“ (Ziffer 1). Die selbständige Ausübung des Reisegewerbes „Feilbieten - Ankauf von: Kurzwaren, Werkzeugen, Haushaltswaren, Schrott und Buntmetall; Anbieten - Aufsuchen von Bestellungen auf - Leistungen: Dachfassaden und Hofreinigung, Dachbeschichtungen, Recycling von Schrott und Buntmetall“ sei binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Bescheids einzustellen (Ziffer 2) und die Reisegewerbekarte sei dem Landratsamt … binnen zwei Wochen nach Zustellung dieses Bescheids zurückzugeben (Ziffer 3). Dem Kläger wurde jegliche weitere selbständige Erwerbstätigkeit im Bereich des stehenden Gewerbes untersagt, ebenso die Tätigkeit als Vertretungsberechtigter eines Gewerbetreibenden oder einer mit der Leitung eines Gewerbebetriebs beauftragten Person (Ziffer 4). Im Falle der nicht fristgerechten Rückgabe der Reisegewerbekarte gemäß Ziffer 3 werde ein Zwangsgeld in Höhe von 500,00 EUR fällig (Ziffer 5). Falls nach Ablauf von zwei Wochen ab Zustellung der Untersagungsverfügung das gemäß Ziffern 2 und 4 einzustellende Reisegewerbe oder eine andere gewerbliche Tätigkeit selbstständig ausgeübt werde, werde ein Zwangsgeld in Höhe von 1.500,00 EUR zur Zahlung fällig (Ziffer 6). Die sofortige Vollziehung der Ziffern 1, 2, 3 und 4 wurde angeordnet; Ziffer 5 und 6 seien kraft Gesetzes sofort vollziehbar (Ziffer 7). Dem Kläger wurde die Zahlung einer Gebühr in Höhe von 500,00 EUR und Auslagen in Höhe von 4,10 EUR auferlegt (Ziffern 8 und 9). Zur Begründung wurde ausgeführt, der Widerruf der erteilten Reisegewerbekarte gemäß Ziffer 1 des Bescheids beruhe auf Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, 5 BayVwVfG. Die Behörde wäre nach dem heutigen Kenntnisstand berechtigt gewesen, die Reisegewerbekarte nicht zu erteilen. Die Ausstellung der Reisegewerbekarte sei zu versagen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Antragsteller die für die beabsichtigte Tätigkeit erforderliche Zuverlässigkeit nicht besitze. Unzuverlässig sei, wer nach dem Gesamteindruck seines Verhaltens nicht die Gewähr dafür biete, dass er sein Gewerbe zukünftig ordnungsgemäß führen werde, das heißt nicht willens oder in der Lage sein werde, die im öffentlichen Interesse zu fordernde einwandfreie Führung des Gewerbes zu gewährleisten. Die Feststellung der Unzuverlässigkeit setze kein Verschulden des Gewerbetreibenden voraus. Der Vorwurf der Unzuverlässigkeit für das ausgeübte Gewerbe ergebe sich hier aus der nachhaltigen Verletzung steuerrechtlicher Pflichten, aus der Fortsetzung der gewerblichen Tätigkeit trotz mangelnder wirtschaftlicher Leistungskraft sowie aus dem strafrechtlich relevanten Verhalten des Gewerbetreibenden in der Vergangenheit. Der Kläger habe in erheblicher Weise gegen steuerliche Zahlungs- und Erklärungspflichten verstoßen. Er habe seit Jahren beim Finanzamt erhebliche Steuerschulden, diese würden sich zwischenzeitlich auf 22.435,68 EUR belaufen. Vollstreckungen durch das Finanzamt seien weitgehend erfolglos geblieben. Gelegenheiten, die Steuerrückstände mit dem Finanzamt einvernehmlich zu regeln, habe der Kläger nicht wahrgenommen. Auch das Fehlen von Steuererklärungen sei ein Indiz für die Unzuverlässigkeit eines Gewerbetreibenden, da die ordnungsgemäße Abgabe von Steuererklärungen zu den Grundpflichten eines jeden Gewerbetreibenden zähle. Ebenso würden die sieben Eintragungen im zentralen Vollstreckungsportal zeigen, dass der Kläger auch in Zukunft keine Gewähr für eine zuverlässige Ausübung eines Gewerbes biete. Zuletzt würden auch die strafrechtlich relevanten Verhaltensweisen des Klägers gegen eine zukünftige zuverlässige Ausübung des Gewerbes sprechen. Das bisherige Verhalten gegenüber der Steuerverwaltung lasse die berechtigte Annahme zu, dass die im erheblichem Umfang vorhandenen Steuerrückstände weiter anwachsen und uneinbringlich bleiben würden. In absehbarer Zeit sei auch nicht mit einer spürbaren wirtschaftlichen Erholung des Klägers zu rechnen. Ohne den Widerruf der Reisegewerbekarte wäre das öffentliche Interesse gefährdet. Bei einer weiteren Tätigkeit des Klägers im Reisegewerbe sei mit einem weiteren Anstieg der Schulden bei der Finanzverwaltung zu rechnen. Der Widerruf erfolge im pflichtgemäßen Ermessen und sei insbesondere verhältnismäßig. Durch die Art und Weise, in der das Gewerbe ausgenutzt werde, sei das Vermögen der Allgemeinheit gefährdet, denn zum einen seien Staat, Gemeinden und Sozialversicherungen auf den pünktlichen Eingang der erhobenen Steuern und Abgaben angewiesen, um den Verpflichtungen und Aufgaben gegenüber der Allgemeinheit bzw. den Versicherten nachkommen zu können. Zum anderen bestehe die Gefahr von Vermögenseinbußen der Kunden und Geschäftspartner, da es aufgrund der wirtschaftlichen Leistungsunfähigkeit nicht mehr möglich sein werde, dass der Kläger seinen Verpflichtungen nachkommen werde. Zudem verschaffe er sich durch die Nichtbezahlung seiner Steuerverbindlichkeiten einen unrechtmäßig zu Stande gekommenen Wettbewerbsvorteil gegenüber seinen Konkurrenten. Der Widerruf sei dazu geeignet, die Allgemeinheit vor weiteren Vermögensschädigungen zu schützen, denn mit Einstellung der Gewerbetätigkeit würden zukünftig keine Vermögensvorteile für den Kläger mehr anfallen. Ferne werde auch die Gefahr von Vermögenseinbußen seitens Kunden und Geschäftspartnern des Gewerbetreibenden abgewendet. Der Widerruf sei zum Schutze der Allgemeinheit auch erforderlich. Weniger belastende Maßnahmen, die gleich geeignet wären, den vorgenannten Zweck zu erfüllen, seien nicht ersichtlich. Weder sei es mit den (Zwangs-) Mitteln des Steuer- und Abgabenrechts gelungen, die verursachten Einnahmeausfälle zu verhindern oder zurückzuführen, noch habe der Kläger im Rahmen des Verwaltungsverfahrens dazu gebracht werden können, seine steuerlichen und sonstigen öffentlichen Berufspflichten einwandfrei zu erfüllen. Der Widerruf sei auch angemessen. Angesichts der drohenden Gefährdung der Allgemeinheit durch wachsende Steuerschulden des Klägers sowie der Gefährdung von Geschäftspartnern müsse vorliegend das Interesse des Klägers an der Fortsetzung seiner gewerblichen Tätigkeit gemäß § 55 GewO gegenüber dem Interesse der Allgemeinheit an einer Verhinderung fortgesetzter Vermögenseinbußen bei öffentlichen und privaten Gläubigern zurücktreten. Die Einschränkung der Berufs- und Gewerbefreiheit finde ihre Rechtfertigung in der Tatsache, dass der Kläger beharrlich und ohne jedes Bemühen um Wiedergutmachung gegen öffentliche Berufspflichten verstoße und dadurch erheblichen, insbesondere vermögensbezogenen Schaden verursacht habe. Der Widerruf stelle ferner auch keine unzumutbare Einschränkung dar, da es der Kläger in der Hand habe, ihm durch angemessenes Verhalten die Grundlage zu entziehen. Für den Fall, dass er seine wirtschaftlichen Verhältnisse in Zusammenarbeit mit den Gläubigern in Ordnung bringe, könne er die Wiedererteilung der Reisegewerbekarte erlangen, sodass mit dem Widerruf der selbigen jedenfalls keine abschließende, unumstößliche Regelung getroffen worden sei. Ferner stehe es dem Kläger frei, eine Tätigkeit als abhängig Beschäftigter einzugehen. Auch die Voraussetzungen des Art. 49 Abs. 2 Nr. 5 BayVwVfG würden vorliegen. Die obigen Ausführungen würden insofern entsprechend gelten.
19
Die Reisegewerbekarte sei gemäß Art. 52 Satz 1 BayVwVfG zurückzugeben.
20
Die Voraussetzungen für eine erweiterte Gewerbeuntersagung gemäß § 35 Abs. 1 Satz 2 GewO würden vorliegen. Voraussetzung für die Ausdehnung der Untersagung auf alle stehenden Gewerbe sowie jegliche Tätigkeit als Vertretungsberechtigter eines Gewerbetreibenden oder mit der Leitung eines Gewerbebetriebs beauftragten Person sei zum einen, dass eine Unzuverlässigkeit i.S.d. § 35 Abs. 1 GewO auch hier erwartet werden könne und zum anderen, dass ein Ausweichen in eine andere gewerbliche Tätigkeit prognostiziert werden könne. Zum einen sei eine Unzuverlässigkeit des Klägers auch bei Ausübung eines anderen Gewerbes zu erwarten. Der Kläger sei wie dargelegt unzuverlässig in Bezug auf das von ihm ausgeübte Reisegewerbe. Die Unzuverlässigkeit sei gewerbeübergreifender Natur, denn der Kläger habe Verpflichtungen verletzt, die für jeden Gewerbebetreibenden gelten würden und nicht nur einen Bezug zu einer bestimmten gewerblichen Tätigkeit hätten. Die Erfüllung von Steuerverpflichtungen sei allen Gewerbearten gemein. Die vom Kläger begangenen Pflichtverletzungen ließen deshalb auch in Bezug auf andere, noch nicht ausgeübte, Gewerbe bzw. Tätigkeiten keine für ihn günstige Zukunftsprognose zu. Auch sei ein Ausweichen in eine andere gewerbliche Tätigkeit zu erwarten. Hierbei sei nicht auf Anhaltspunkte für künftige Betätigungsabsichten abzustellen, sondern auf die Kenntnis von Umständen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit darauf schließen lassen, dass sich der Gewerbetreibende nicht mehr gewerblich betätigen wird. Dies sei jedoch nur dann der Fall, wenn die von der Untersagung betroffene Person z.B. gänzlich aus dem Berufsleben ausscheide. Ein derartiger Ausschlusstatbestand könne hier nicht gesehen werden. Es sei nicht auszuschließen, dass der Kläger wieder ein Gewerbe oder eine leitende Tätigkeit ausüben wolle. Die erweiterte Gewerbeuntersagung entspreche auch dem Grundsatz der pflichtgemäßen Ermessensausübung und sei verhältnismäßig, insbesondere geeignet und erforderlich. Weniger belastende Maßnahmen, die die vom Kläger ausgehende Gefährdung für die Allgemeinheit genauso wirksam ausschließen könnten, seien nicht ersichtlich. Auch die Untersagung der Tätigkeit als Vertretungsberechtigter eines Gewerbetreibenden oder als mit der Leitung eines Gewerbebetriebes beauftragten Person nach § 35 Abs. 1 Satz 2 GewO sei gerechtfertigt, um zu verhindern, dass der Kläger zum Schaden der Allgemeinheit und der im Betrieb Beschäftigten unter dem Deckmantel einer leitenden Tätigkeit weiter ein Gewerbe ausübe. Die erweiterte Gewerbeuntersagung sei auch angemessen, denn aus den vorstehenden Gründen müsse das Interesse des Klägers an der Ausübung eines von der Gewerbeuntersagung erfassten Gewerbes hinter dem Schutzinteresse der Allgemeinheit zurückstehen.
21
Die Androhung des Zwangsgeldes nach Ziffern 5 und 6 des Bescheides erfolge gemäß Art. 29, 30, 31 und 36 VwZVG. Es sei das Regelzwangsmittel. Nach Abwägung aller Möglichkeiten und Umstände erscheine die Androhung von Zwangsgeld als geeignetes und erforderliches Mittel, um dem Gewerbetreibenden zur Erfüllung seiner Verpflichtung zur Rückgabe der Reisegewerbekarte sowie zur Unterlassung der Ausübung eines Gewerbes anzuhalten. Die Einstellungsanordnung würde ohne Zwangsgeldandrohung keine abschreckende Wirkung entfalten. Die Fristen zur Erfüllung der Verpflichtungen seien den Umständen des Einzelfalles nach angemessen. Es sei dem Kläger auch möglich, innerhalb der gesetzten Fristen seinen Verpflichtungen nachzukommen. Da er an der Fortsetzung des Betriebes ein erhebliches wirtschaftliches Interesse habe, erscheine die Höhe der Zwangsgelder nötig, um eine Beachtung der Verfügungen zu erreichen.
22
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ziffern 1, 2, 3 und 4 des Bescheids sei im besonderen öffentlichen Interesse erforderlich. Es könne nicht verantwortet werden, mit der Vollziehung des Bescheids bis zu seiner Unanfechtbarkeit zu warten, da aufgrund des bisherigen Verhaltens des Klägers damit zu rechnen sei, dass er in Zukunft sein Gewerbe nicht ordnungsgemäß ausüben werde. Das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Bescheids überwiege das Rechtsschutzinteresse des Klägers.
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Die Kostenfestsetzung beruhe auf Art. 1 Abs. 1, Art. 2 und Art. 6 Kostengesetz - KG - i.V.m. § 1 lfd. Nr. 5 III.5 / Tarifstellen 15, 30 des Kostenverzeichnisses - KVz. Dieses sehe einen Gebührenrahmen von 50 bis 2.000 EUR vor. Im Hinblick auf den Verwaltungsaufwand erscheine eine Gebühr von 450,00 EUR gerechtfertigt und angemessen. Die Auslagen würden auf Art. 10 Abs. 1 KG beruhen.
24
Mit E-Mail vom 27.7.2020 wandte sich der Kläger daraufhin an den Beklagten mit dem Begehren, Einspruch gegen den Bescheid einlegen zu wollen. Er habe Depressionen, da zwei Familienmitglieder verstorben seien. Dadurch sei es ihm nicht möglich gewesen, sich um seine Angelegenheiten zu kümmern. Diese Phase habe er überwunden, und er sei dabei, seine Schulden zu tilgen. Er habe sich auch professionelle Hilfe geholt, die Steuererklärung für 2017 abgegeben und warte auf die Berichtigung für das Jahr 2018. Diese sei bei seiner Steuerberaterin in Bearbeitung. Die Steuerschulden werde er sofort bezahlen, sobald die Summe berichtigt sei, da der bisherige Betrag eine Schätzung sei. Er bitte um Verständnis; er habe noch nie finanzielle Hilfe beziehen müssen und wolle seine Selbständigkeit weiterführen. Er sei auf dem besten Weg, alles wieder zeitgerecht zu erledigen. In der folgenden Woche habe er einen Termin bei seiner Steuerkanzlei, dann werde er das Finanzamt informieren.
25
Der Beklagte wies den Kläger am 28.7.2020 telefonisch darauf hin, dass die Einlegung eines Einspruchs nicht möglich sei, er jedoch Klage beim Verwaltungsgericht erheben könne.
26
Mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom Montag, den 10.8.2020, eingegangen bei Gericht am selben Tag, erhob der Kläger Klage. Er beantragt,
den Widerrufsbescheid des Beklagten vom 7.7.2020, zugestellt am 9.7.2020, aufzuheben.
27
Zur Begründung wurde zunächst im Wesentlichen auf die Antragsschrift im gleichzeitig erhobenen Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (* …*) verwiesen. Hierin hatte der Kläger insbesondere vortragen lassen, er habe an erheblichen Depressionen gelitten, da sein Bruder unerwartet verstorben sei. Kurz vor der Corona-Krise habe er seine Tätigkeiten wieder fortführen und damit auch seine entsprechenden Steuerschulden begleichen wollen, habe aber während der Corona-Krise praktisch keine Aufträge generieren und annehmen können. Es habe sich um eine weltweite Pandemie und eine besondere Ausnahmesituation gehandelt. Sein Hauptgeschäft bestehe in der Reinigung und Beschichtung von Dächern, dies habe er alles coronabedingt nicht ausführen können. Er habe sich nunmehr zu seinem Steuerberater in … begeben, um die Steuerschulden abzutragen und mit den Finanzbehörden zu verhandeln. Ebenso sei er betreffend der eingetragenen sonstigen Schuldverpflichtungen im Vollstreckungsportal … vorstellig geworden bei Frau Rechtsanwältin … in …, die beauftragt sei, diese Dinge zu bereinigen. Auch entsprechende Veränderungen und Bemühungen des Klägers seien durch das Verwaltungsgericht zu berücksichtigen. Die Gründe für die entstandenen Steuerschulden lägen im Wesentlichen im Tod seines Bruders und den daraus resultierenden Depressionen; hieraus könne nicht auf Dauer auf seine Unzuverlässigkeit geschlossen werden. Er werde sich künftig in jeder Hinsicht gesetzesmäßig verhalten und seinen Verpflichtungen nachkommen.
28
Der Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 5.3.2021,
29
Zur Begründung wurde auf die Ausführungen im Bescheid vom 7.7.2020 sowie auf die Antragserwiderung im Verfahren … verwiesen.
30
Auf telefonischen Hinweis des Gerichts hin erließ der Beklagte angesichts der sehr knappen Begründung der Entscheidung über den Sofortvollzug (Ziffer 7 des Bescheids vom 7.7.2019) am 19.8.2020 einen Bescheid folgenden Inhalts: „Die Ziffer 7 des streitgegenständlichen Bescheids vom 7.7.2019 und damit der Sofortvollzug wird aufgehoben“. Die Beteiligten erklärten daraufhin den Rechtsstreit im Hinblick auf das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes für erledigt. Das Verfahren … wurde mit Beschluss vom 24.8.2020 eingestellt.
31
Mit Schriftsatz vom 18.2.2021 teilte der Prozessbevollmächtige des Klägers auf Nachfrage des Gerichts mit, er habe bisher noch keinen Kontakt zum Kläger aufnehmen können, um die Klage weiter zu begründen. Dieser reagiere weder auf Anrufe noch auf E-Mails.
32
Mit Schriftsatz vom 24.2.2021 erklärte der Beklagte seine Zustimmung zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung.
33
Mit Schriftsatz vom 2.3.2021 teilte der Klägerbevollmächtigte mit, der Kläger habe sich zwischenzeitlich bei ihm gemeldet, weiterer Sachvortrag könne jedoch nicht geleistet werden. Auf eine mündliche Verhandlung werde verzichtet; es bestehe Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren.
34
Mit weiterem Schriftsatz vom 9.3.2021 übersandte der Klägerbevollmächtigte eine Gläubigerliste des Klägers für einen außergerichtlichen Schuldenbereinigungsplan. Hieraus sei ersichtlich, dass ein Großteil der Schulden bereits abgearbeitet worden sei und nur noch bei der Krankenkasse eine höhere Zahlungsverpflichtung vorhanden sei; bei den sonstigen Zahlungsverpflichtungen handele es sich um „Kleinigkeiten“. Weiter zeige ein aktueller Kontoauszug, dass sich das Konto des Klägers ausreichend im Plus befinde. Es sei daher auf absehbare Zeit zu erwarten, dass kurzfristig sämtliche Schulden bereinigt seien und keine Gründe mehr gegen die Zuverlässigkeit des Klägers sprechen würden.
Entscheidungsgründe
35
Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden werden, weil die Beteiligten auf die Durchführung derselben verzichtet haben (§ 101 Abs. 2 VwGO).
36
Das Klagebegehren ist dahingehend auszulegen, dass der Kläger die Aufhebung (nur) der Ziffern 1 bis 6 sowie 8 und 9 des Bescheids vom 7.7.2020, nicht jedoch auch der Ziffer 7 erreichen möchte. Zwar beantragte der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, in seiner Klageschrift ausdrücklich, den Widerrufsbescheid vom 7.7.2020 aufzuheben, ohne eine Einschränkung im Hinblick auf einzelne Teile dieses Bescheids vorzunehmen. Allerdings hieß es an anderer Stelle der Klageschrift auch, im Hinblick auf die Anordnung der sofortigen Vollziehung erfolge ein gesonderter Antrag - gemeint war offensichtlich der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO. Schon dies zeigt, dass dem Klägerbevollmächtigten bewusst war, dass er die Anordnung des Sofortvollzugs nicht in zulässiger Weise im Wege der Anfechtungsklage angreifen kann, sondern hierfür ein gesonderter Antrag statthaft ist, den er auch stellte. Zudem hob der Beklagte die Ziffer 7 des Bescheids vom 7.7.2020 mit Bescheid vom 19.8.2020 auf, ohne dass der Klägerbevollmächtigte eine Veranlassung gesehen hätte, insoweit eine Erledigungserklärung abzugeben, was wiederum zeigt, dass eine Anfechtung auch der Ziffer 7 seinerseits mit der Klage nie bezweckt war. Aus diesem Grund fasst das Gericht die Klage so auf, dass die Ziffer 7 des angefochtenen Bescheids von der Anfechtungsklage nicht umfasst sein soll (vgl. § 88 VwGO).
37
Die so verstandene Klage ist zulässig, hat jedoch nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist die Klage unbegründet.
38
Die Klage ist zulässig.
39
Insbesondere wurde die einmonatige Klagefrist gemäß § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO eingehalten. Der streitgegenständliche Bescheid wurde dem Kläger ausweislich der Postzustellungsurkunde am 9.7.2020 zugestellt, sodass die Frist am 10.7.2020 zu laufen begann (§ 57 Abs. 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 ZPO i.V.m. § 187 Abs. 1 BGB) und gemäß § 188 Abs. 2 BGB eigentlich mit Ablauf des 9.8.2020 geendet hätte. Da dieser Tag jedoch ein Sonntag war, endete die Klagefrist erst mit Ablauf des darauffolgenden Werktages (§ 222 Abs. 2 ZPO), dem 10.8.2020. Die Klageerhebung am 10.8.2020 erfolgte daher noch fristgerecht.
40
Ziffern 1, 2 und 3 des Bescheids des Beklagten vom 7.7.2020 sind rechtmäßig, weshalb die Klage insoweit abzuweisen war. Die Ziffern 4, 5, 6 und 9 sind jedoch rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, weshalb der Bescheid vom 7.7.2020 insoweit aufzuheben war (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
41
1. Der Widerruf der dem Kläger am 12.9.2006 erteilten Reisegewerbekarte in Ziffer 1 des Bescheids vom 7.7.2020 ist rechtmäßig. Der Beklagte stützt den Widerruf der Reisegewerbekarte zu Recht (primär) auf Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BayVwVfG i.V.m. § 57 Abs. 1 GewO.
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1.1 Das Landratsamt … war für den Widerruf der Reisegewerbekarte des Klägers gemäß § 155 Abs. 2 GewO, § 37 Abs. 1 Nr. 1 Zuständigkeitsverordnung - ZustV sachlich, und gemäß § 61 Satz 1 GewO örtlich zuständig, da der Kläger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in …, im Landkreis …, hat.
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Die nach Art. 28 Abs. 1 BayVwVfG erforderliche Anhörung des Klägers erfolgte mit Schreiben des Beklagten vom 4.9.2019. Zwar vergingen anschließend bis zum Erlass des Widerrufsbescheids am 7.7.2020 zehn Monate, in denen der Beklagte zunächst nicht tätig wurde. Nachdem sich die für den Widerruf der Reisegewerbekarte maßgeblichen Tatsachen in diesem Zeitraum jedoch nicht wesentlich veränderten, bestand keine Veranlassung für den Beklagten, den Kläger erneut anzuhören.
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1.2 Nach § 57 Abs. 1 GewO ist die Reisegewerbekarte zu versagen, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Antragsteller die für die beabsichtigte Tätigkeit erforderliche Zuverlässigkeit nicht besitzt. Im Falle des nachträglichen Eintretens von Tatsachen, die auf Unzuverlässigkeit schließen lassen, kann der Beklagte die Reisegewerbeerlaubnis widerrufen, wenn ohne diesen Widerruf das öffentliche Interesse gefährdet würde (Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BayVwVfG).
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Der Begriff der Unzuverlässigkeit in § 57 Abs. 1 GewO deckt sich mit demjenigen in § 35 GewO (vgl. BVerfG, B.v. 27.11.1992 - 1 B 204 - juris Rn. 3). Demnach gilt auch insoweit als unzuverlässig, wer keine Gewähr dafür bietet, dass er sein Gewerbe in Zukunft ordnungsgemäß ausüben wird. Die Unzuverlässigkeit kann sich insbesondere aus der mangelnden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, dem Vorliegen von Steuerschulden, der Verletzung von steuerlichen Erklärungspflichten, dem Vorhandensein von Beitragsrückständen bei Sozialversicherungsträgern oder aus Straftaten und Ordnungswidrigkeiten im Zusammenhang mit der gewerblichen Betätigung ergeben (BVerwG, U.v. 15.4.2015 - 8 C 6/14 - juris Rn. 14; BVerwG, U.v. 2.2.1982 - 1 C 17/79 - juris). Für die erforderliche Prognose zur Feststellung der Unzuverlässigkeit ist aus den bereits vorhandenen tatsächlichen Umständen auf ein wahrscheinliches zukünftiges Verhalten des Gewerbetreibenden zu schließen.
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Steuerverbindlichkeiten sind nur dann geeignet, einen Gewebetreibenden als unzuverlässig zu erweisen, wenn sie sowohl nach absoluter Höhe als auch im Verhältnis zur Gesamtbelastung des Gewerbetreibenden von einigem Gewicht sind, und auch die Zeitdauer, während derer der Gewerbetreibende seinen steuerlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist, ist von Bedeutung (BVerwG, U.v. 29.11.1988 - 1 B 164/87; BVerwG, U.v. 19.1.1994 - 1 ZB 5/94 - jeweils juris). Nicht nur Steuerrückstände, auch sonstige steuerrechtliche Pflichtverstöße können zur Annahme der Unzuverlässigkeit führen. Dies gilt etwa für die beharrliche Missachtung steuerrechtlicher Erklärungspflichten. Dem steht auch nicht die Möglichkeit der Finanzbehörden entgegen, fehlende Erklärungen durch Schätzungen zu ersetzen (Ennuschat in Ennuschat/Wank/Winkler, Gewerbeordnung, 9. Aufl. 2020, § 35 GewO Rn. 56 m.w.N.).
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Auf die Ursachen für entstandene Zahlungsrückstände und die Nichterfüllung von Erklärungspflichten kommt es nicht an, da sich die gewerberechtliche Unzuverlässigkeit nach objektiven Kriterien bestimmt. Ein Verschulden im Sinne eines moralischen oder ethischen Vorwurfs oder ein Charaktermangel auf Seiten des Gewerbetreibenden sind daher nicht Voraussetzung einer Gewerbeuntersagung wegen Unzuverlässigkeit (ständige Rechtsprechung seit BVerwG, U.v. 2.2.1982 - 1 C 146/80 - juris). Unerheblich ist auch, ob sich die Steuerschulden gemäß § 162 Abgabenordnung - AO aus geschätzten oder exakt ermittelten Besteuerungsgrundlagen ergeben (BVerwG, U.v. 29.1.1988 - 1 B 164/87 - juris). Vielmehr muss im Interesse eines ordnungsgemäßen und redlichen Wirtschaftsverkehrs von einem Gewerbetreibenden erwartet werden, dass er bei anhaltender wirtschaftlicher Leistungsunfähigkeit ohne Rücksicht auf die Ursachen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten seinen Gewerbebetrieb aufgibt. Diese - durch die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Gewerbeausübung begründete - Erwartung ist der eigentliche Grund, den wirtschaftlich leistungsunfähigen Gewerbetreibenden als unzuverlässig zu bewerten. Dieser Grund entfällt nur dann, wenn der Gewerbetreibende zahlungswillig ist und trotz seiner Schulden an einem sinnvollen und erfolgsversprechenden Sanierungskonzept arbeitet (BVerwG, U.v. 15.4.2015 - 8 C 6/14 - juris Rn. 14; BVerwG, U.v. 2.2.1982 - 1 C 146/80 - juris Rn. 15). Ein erfolgsversprechendes Sanierungskonzept setzt grundsätzlich voraus, dass mit den Gläubigern eine Ratenzahlungsvereinbarung geschlossen und ein Tilgungsplan auch effektiv eingehalten wird (BayVGH, B.v. 8.7.2013 - 22 C 13.1163 - juris Rn. 10).
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Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist der Beklagte zutreffend zu der Überzeugung gelangt, der Kläger sei gewerberechtlich unzuverlässig. Zum für die Entscheidung des Gerichts maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerrufsbescheids hatte er Steuerrückstände in Höhe von 22.453,68 EUR, die über einen längeren Zeitraum hin angewachsen waren und sowohl nach ihrem absoluten Betrag, wie auch im Verhältnis zur Wirtschaftskraft des Gewerbes erheblich sind. Der Kläger arbeitete auch nicht an einem sinnvollen und erfolgsversprechenden Sanierungskonzept, denn eine Ratenzahlungsvereinbarung mit dem Finanzamt, die der Kläger eingehalten hätte, gab es nach Aktenlage nicht. Auch die Tatsache, dass der Kläger seit längerer Zeit keine Steuererklärungen und keine Umsatzsteuer-Voranmeldungen mehr abgegeben hatte, spricht gegen seine gewerberechtliche Zuverlässigkeit. Dabei kann ihn nicht entlasten, dass er, wie er schriftsätzlich vortrug, wegen des unerwarteten Todes seines Bruders an Depressionen litt und durch die Corona-Krise praktisch keine Aufträge generieren konnte. Denn auf die Ursachen der Nichterfüllung der steuerlichen Verpflichtungen kommt es - wie bereits ausgeführt - nicht an. Zudem hätte schon damals die Möglichkeit bestanden, sich hilfesuchend an einen Steuerberater oder dergleichen zu wenden, um Angelegenheiten, die das Gewerbe betreffen, so gut als möglich geordnet zu halten, oder das Gewerbe krankheitsbedingt vorübergehend aufzugeben, zumal sich die Probleme offensichtlich über einen längeren Zeitraum hinzogen, es sich also nicht nur um einen kurzzeitigen Ausfall des Klägers handelte. Im Hinblick auf die Corona-Krise ist festzuhalten, dass diese erst im Frühjahr 2020 begann, also nicht mitursächlich für die Steuerschulden des Klägers aus den Jahren zuvor gewesen sein kann. Auch deuten die mehrfachen Eintragungen des Klägers im Schuldnerverzeichnis sowie seine - wenn auch nur relativ geringen - Schulden bei der Industrie- und Handelskammer darauf hin, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses schon seit längerem insgesamt wirtschaftlich nicht mehr leistungsfähig war, was ihn jedoch nicht dazu bewog, sein Gewerbe aufzugeben, oder anderweitige Maßnahmen zu treffen. Für die Unzuverlässigkeit des Klägers spricht auch - ohne dass es hierauf entscheidungserheblich ankäme - dass er auf die Anhörung des Beklagten zum Widerruf der Reisegewerbekarte weder antwortete, noch sich hierdurch veranlasst gesehen hätte, nunmehr konkrete Schritte zur Tilgung seiner Schulden beim Finanzamt einzuleiten. In der Gesamtschau war daher zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt des Bescheiderlasses die Prognose des Beklagten gerechtfertigt, dass der Kläger nicht die Gewähr dafür bietet, er werde sein Gewerbe künftig ordnungsgemäß ausüben.
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Dass der Kläger seine Schulden zwischenzeitlich nach Erlass des streitgegenständlichen Bescheides womöglich, wie er vortragen ließ, teilweise getilgt hat, ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Widerrufs seiner gewerberechtlichen Erlaubnis unerheblich. Denn der maßgebliche Zeitpunkt der Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist die letzte Behördenentscheidung. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass seit dem Inkrafttreten der Neufassung des § 35 Abs. 6 GewO am 1.5.1974 eine deutliche Trennung zwischen dem Untersagungsverfahren einerseits und dem Wiedergestattungsverfahren andererseits besteht. Ist ein Gewerbe wirksam untersagt worden, hat die Behörde nicht mehr zu prüfen, ob die Untersagungsgründe die ergangene Gewerbeuntersagung weiterhin tragen. Haben sich die tatsächlichen Umstände geändert, muss die Initiative vom Gewerbetreibenden ausgehen (BVerwG, U.v. 15.4.2015 - 8 C 6.14 - juris Rn. 15 m.w.N.).
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Ohne den Widerruf der Reisegewerbekarte des Klägers wäre das öffentliche Interesse konkret gefährdet (Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 BayVwVfG). Eine konkrete Gefährdung des öffentlichen Interesses bei Untätigbleiben des Beklagten trotz manifester gewerberechtlicher Unzuverlässigkeit des Klägers liegt hier insbesondere darin, dass die vom Kläger ohne vorhergehende Bestellung aufgesuchten Kunden aufgrund seiner Unzuverlässigkeit der konkreten Gefahr ausgesetzt sind, mit einem zahlungsunfähigen und überschuldeten Vertragspartner in geschäftliche Beziehungen zu treten. Die Kunden eines Reisegewerbetreibenden sind gegenüber dem stehenden Gewerbe erhöht schutzbedürftig (Schönleiter in Landmann/Rohmer, Gewerbeordnung, Stand: September 2020, § 55 Rn. 2; Rossi in Pielow, BeckOK GewO, 53. Edition, Stand: 1.3.2021, § 55 Rn. 1) da hier die geschäftliche Initiative nicht von den Kunden, sondern vom Gewerbetreibenden ausgeht und seine Identität aufgrund des - vielfach zudem flüchtigen - Kontaktes zu den Kunden außerhalb einer Niederlassung schwieriger festzustellen ist. Der Widerruf der Reisegewerbekarte ist notwendig, um die Verbraucher, deren Schutz die Vorschriften über das Reisegewerbe bezwecken und die der Kläger als Reisegewerbetreibender aufsucht, um mit ihnen Geschäfte abzuschließen, vor den damit zusammenhängenden Gefahren zu schützen.
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Die Jahresfrist nach Kenntniserlangung der für den Widerruf maßgeblichen Tatsachen durch die Behörde gemäß Art. 49 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 48 Abs. 4 BayVwVfG wurde eingehalten. Denn erst frühestens nach der Anhörung des Klägers mit Schreiben vom 4.9.2019 waren dem Beklagten alle maßgeblichen Tatsachen im Hinblick auf die Gewerbeuntersagung des Klägers bekannt; insbesondere konnte der Beklagte erst ab diesem Zeitpunkt davon ausgehen, dass der Kläger bisher noch keinen Schuldentilgungsplan erarbeitet hatte, da der Kläger dies andernfalls sicherlich geltend gemacht hätte. Nach der Anhörung erging bis zum Erlass des Widerrufsbescheids am 7.7.2020 weniger als ein Jahr. Zudem erfuhr der Beklagte am 1.7.2020, dass die Steuerschulden des Klägers inzwischen auf 22.453,68 EUR angestiegen waren.
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Das ihm in Art. 49 Abs. 2 BayVwVfG eingeräumte Widerrufsermessen hat der Beklagte ordnungsgemäß ausgeübt. Er hat ausweislich des streitgegenständlichen Bescheids erkannt, dass ihm bezüglich des Widerrufs Ermessen zusteht. Er ist auch rechts- und ermessensfehlerfrei nach Abwägung des öffentlichen Interesses am Widerruf mit dem Interesse des Klägers am Behalten der Erlaubnis zu der Überzeugung gelangt, dass der Widerruf das hier einzig mögliche, notwendige und angemessene Mittel ist, die Allgemeinheit und die Kunden des Klägers zu schützen.
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2. Die Verpflichtung des Klägers in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheids, die selbständige Ausübung seines Reisegewerbes einzustellen, begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
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Rechtsgrundlage dieser Verfügung ist § 60d GewO, wonach die Ausübung des Reisegewerbes u.a. entgegen § 55 Abs. 2 GewO, also ohne die erforderliche Erlaubnis, von der zuständigen Behörde verhindert werden kann. Diese Norm ermächtigt die zuständige Behörde also zu der Verfügung, die beanstandete Tätigkeit einzustellen (Ennuschat in Ennuschat/Wank/Winkler, Gewerbeordnung, 9. Aufl. 2020, § 60d Rn. 9). Nachdem die Reisegewerbekarte des Klägers widerrufen wurde, würde er seine Reisegewerbekarte ohne die hierfür erforderliche Erlaubnis ausüben. Folglich ist der Beklagte zu der Verfügung berechtigt, die Ausübung des Reisegewerbes einzustellen.
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Das ihm in § 60d GewO eingeräumte Entschließungs- und Auswahlermessen hat der Beklagte beanstandungsfrei ausgeübt. Zwar hat der Beklagte hierzu in dem Bescheid vom 7.7.2020 keine weiteren Ausführungen gemacht. Jedoch ist davon auszugehen, dass in Fällen, in denen die (erforderliche) Erlaubnis zum Betreiben eines Gewerbes mangels Zuverlässigkeit widerrufen wird im Hinblick auf die Verfügung, das Gewerbe einzustellen, ein sog. intendiertes Ermessen besteht (vgl. Winkler in Ennuschat/Wank/Winkler, Gewerbeordnung, 9. Aufl. 2020, § 15 Rn. 25; VG München, U.v. 10.2.2015 - M 16 K 14.4508 - juris Rn. 22; HessVGH, B.v. 20.2.1996 - 14 TG 430 /95 - juris Rn. 15). In diesem Fall bedarf es einer näheren Begründung für die Anordnung der Einstellung des Gewerbes regelmäßig nicht, sofern kein atypischer Fall vorliegt (vgl. Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl. 2018, § 39 Rn. 70; BVerwG, U.v. 16.6.1997 - 3 C 22-96 - juris Rn. 14). Der Beklagte ist vorliegend zwar nicht darauf eingegangen, warum er auch die Einstellung des Gewerbes des Klägers verfügte, hat sich jedoch ausführlich mit der Frage auseinandergesetzt, wieso dessen Reisegewerbekarte zu widerrufen ist und insbesondere, welche Gefahren sich für dessen Kunden und die Allgemeinheit andernfalls ergeben würden. Es war daher auch ohne zusätzliche Erläuterung ohne weiteres erkennbar, aus welchen - nicht zu beanstandenden - Gründen der Beklagte sich für die Verfügung entschied, das Gewerbe einzustellen.
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3. Auch die in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids angeordnete Abgabe der Reisegewerbekarte ist rechtlich nicht zu beanstanden. Die Verpflichtung zur Rückgabe der Reisegewerbekarte folgt aus Art. 52 Sätze 1 und 2 BayVwVfG. Danach kann die Behörde nach dem Widerruf eines Verwaltungsaktes die aufgrund desselben erteilten Urkunden, die zum Nachweis der Rechte aus dem Verwaltungsakt oder zu deren Ausübung bestimmt sind, zurückfordern, wenn dieser bestandskräftig geworden ist. Die Reisegewerbekarte ist eine Urkunde im Sinne des Art. 52 BayVwVfG, denn sie kann gegebenenfalls gegenüber Kunden und Behörden zum Nachweis der Berechtigung zur Ausübung der in ihr bezeichneten Gewerbe im Reisegewerbe vorgelegt werden (VG Ansbach, U.v. 5.6.2014 - AN 4 K 13.01803 - juris Rn. 29).
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4. Ziffer 4 des Bescheids vom 7.7.2020, in welcher dem Kläger jede weitere selbstständige Erwerbstätigkeit im Bereich des stehenden Gewerbes untersagt wurde und ihm zudem die Tätigkeit als Vertretungsberechtigter eines Gewerbetreibenden oder eines mit der Leitung eines Gewerbebetriebes beauftragten Person untersagt wurde („erweiterte Gewerbeuntersagung“) ist jedoch rechtswidrig, da es an der hierfür erforderlichen Rechtsgrundlage fehlt.
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Entgegen der Annahme des Beklagten kann diese (erweiterte) Gewerbeuntersagung in vorliegendem Fall, in dem das tatsächlich ausgeübte Gewerbe erlaubnispflichtig ist, nicht auf § 35 Abs. 1 Satz 2 GewO gestützt werden (vgl. zum folgenden VG Würzburg, U.v. 24.6.2020 - W 6 K 19.236; OVG Münster, B.v. 30.9.2016 - 4 B 601/16 - jeweils juris; a.A. wohl VG Ansbach, U.v. 21.4.2017 - AN 4 K 17.00427 - juris Rn. 34; VG Magdeburg, B.v. 5.11.2020 - 3 B 214/20 - juris). Denn nach § 35 Abs. 8 Satz 1 GewO sind die Absätze 1 bis 7a des § 35 GewO - also auch die Bestimmungen über den Ausspruch einer Gewerbeuntersagung - nicht anzuwenden, soweit für einzelne Gewerbe besondere Untersagungs- oder Betriebsschließungsvoraussetzungen bestehen, die auf die Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden abstellen, oder soweit eine für das Gewerbe erteilte Zulassung wegen Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden zurückgenommen oder widerrufen werden kann. Zweck des § 35 Abs. 8 Satz 1 GewO ist es, doppelspurige Regelungen auszuschließen (Marcks in Landmann/Rohmer, Gewerbeordnung, Stand: September 2020, § 35 Rn. 195). Es soll vermieden werde, dass ein Gewerbe wegen Unzuverlässigkeit aufgrund zweier verschiedener Vorschriften untersagt werden kann. Eine Gewerbeuntersagung kann deshalb nicht auf § 35 Abs. 1 GewO gestützt werden, wenn für die Untersagung eines ausgeübten erlaubnispflichtigen Gewerbes aufgrund Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden in der Gewerbeordnung oder in gewerberechtlichen Nebengesetzen eine abschließende Regelung besteht. Setzt die jeweilige Gewerbeerlaubnis spezialgesetzlich eine gewerberechtliche Zuverlässigkeit voraus, haben deshalb nach § 35 Abs. 8 Satz 1 GewO auch spezielle Vorschriften über die Rücknahme und den Widerruf Vorrang vor der Untersagung nach § 35 Abs. 1 GewO. Dies entspricht dem Regelungszweck. Der Gesetzgeber hat die Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 GewO als notwendiges Korrelat zur Gewerbefreiheit bewusst auf das zulassungsfreie Gewerbe beschränkt und die Möglichkeit einer Gewerbeuntersagung sowie einer erweiterten Gewerbeuntersagung für andere Gewerbe, die an die Gewerbeuntersagung für das ausgeübte Gewerbe anknüpft, ebenfalls auf diesen Bereich beschränkt, um ein im zulassungsfreien Gewerbe besonders leichtes Unterlaufen der Regelung durch ein Ausweichen auf andere Gewerbe zu verhindern. Anhaltspunkte dafür, dass darüber hinaus zugleich mit Widerruf oder Rücknahme einer Erlaubnis für das ausgeübte erlaubnispflichtige Gewerbe eine Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO für ein gar nicht ausgeübtes zulassungsfreies Gewerbe ermöglicht werden sollte, finden sich hingegen nicht. Erst recht gilt dies für die Möglichkeit einer hieran erst anknüpfenden erweiterten Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 2 GewO (ausführlich OVG NW, B.v. 30.4.2020 - 4 B 21/20 - juris Rn. 26 ff.).
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Da die Erteilung einer nach § 55 Abs. 2 GewO erforderlichen Reisegewerbekarte nach § 57 Abs. 1 GewO indirekt die Zuverlässigkeit des Antragstellers voraussetzt, widerspricht es der in § 35 Abs. 8 Satz 1 GewO getroffenen Vorrangbestimmung, wenn einem Reisegewerbetreibenden - über den Widerruf seines Reisegewerbes hinausgehend - gemäß § 35 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 2 GewO auch jedes künftige, noch nicht ausgeübte stehende Gewerbe sowie jegliche gewerbliche Vertretungs- und Leitungstätigkeiten untersagt werden.
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Die Unzulässigkeit einer erweiterten Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 2 GewO neben Rücknahme oder Widerruf der Zulassung für das ausgeübte zulassungspflichtige Gewerbe folgt im Übrigen nicht nur aus § 35 Abs. 8 GewO, sondern auch daraus, dass eine erweiterte Gewerbeuntersagung nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nur in Verbindung mit einer Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO ausgesprochen werden darf. Eine erweiterte Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 2 GewO ist danach nur zulässig, wenn - abgesehen von dem Fall des § 35 Abs. 1 Satz 3 GewO - in demselben Verfahren zumindest ein tatsächlich betriebenes Gewerbe nach Maßgabe von § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO untersagt wird (vgl. BVerwG, U.v. 2.2.1982 - 1 C 14.78 - juris Rn. 39). Deshalb kommt eine erweiterte Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 2 GewO in den Fällen nicht in Betracht, in denen ein erlaubnispflichtiges Gewerbe betrieben und anstelle einer hier nicht möglichen Gewerbeuntersagung nach § 35 Abs. 1 Satz 1 GewO die erforderliche Erlaubnis wegen Unzuverlässigkeit widerrufen wurde. Auch wenn die spezialgesetzliche Regelung ermöglicht, die Fortführung des Betriebs aufgrund der Unzuverlässigkeit des Gewerbetreibenden zu unterbinden, aber (lediglich) nicht die Möglichkeit vorsieht, daran anknüpfend Maßnahmen in Bezug auf andere Gewerbe oder Tätigkeiten zu treffen, ist ein Rückgriff auf § 35 Abs. 1 Satz 2 GewO ausgeschlossen und eine erweiterte Gewerbeuntersagung nicht zulässig (OVG NW, B.v. 30.4.2020 - 4 B 21/20 - juris Rn. 36 ff. m.w.N.).
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Ganz ungeachtet dessen läge hier auch die notwendige Erforderlichkeit der erweiterten Gewerbeuntersagung (vgl. Ennuschat in Ennuschat/Wank/Winkler, Gewerbeordnung, 9. Aufl. 2020, § 35 Rn. 151 ff.) wohl gar nicht vor, da ein Ausweichen des Klägers, der bisher im Reisegewerbe primär die Reinigung von Dachfassaden und Hofzufahrten angeboten hat, in ein stehendes Gewerbe - jedenfalls auf Grundlage der Erkenntnisse des Beklagten - nicht hinreichend wahrscheinlich sein dürfte. Denn dies würde nicht zuletzt bedeuten, dass der Kläger seine Art der Kundenakquise ganz grundsätzlich umstellen, und etwa auch Geschäftsräume oder dergleichen zur Verfügung stehen haben müsste.
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5. Die Zwangsgeldandrohungen in Ziffern 5 und 6 des Bescheides vom 7.7.2020 sind ebenfalls rechtswidrig. Sie sind mit Art. 36 Abs. 1 Satz 2 VwZVG nicht vereinbar und verletzen den Kläger in seinen Rechten.
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Nach Art. 36 Abs. 1 Satz 2 VwZVG ist bei der Androhung von Zwangsmitteln dem Betroffenen eine angemessene Frist zur Erfüllung der Verpflichtung zu setzen. Schon während des Laufs dieser Erfüllungsfrist müssen die allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen gegeben sein. Hierzu gehört u.a., dass die zu vollstreckende Anordnung gemäß Art. 19 Abs. 1 VwZVG vollziehbar ist (vgl. nur BayVGH, B.v. 11.7.2001 - 1 ZB 01.1255 - juris Rn. 14). Die dem Kläger eingeräumten Fristen zur Rückgabe der Reisegewerbekarte (Ziffern 3 und 5) und zur Einstellung des Reisegewerbes und Nicht-Ausübung einer anderen gewerblichen Tätigkeit (Ziffern 2 und 6) betrugen jeweils zwei Wochen ab Zustellung des streitgegenständlichen Bescheids. Da aber der Beklagte die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Ziffern 1 bis 4 mit Bescheid vom 19.8.2020 aufgehoben hat, entfaltete die Klage gegen den Bescheid insgesamt aufschiebende Wirkung. Folglich war dieser während der dem Kläger gesetzten Fristen nicht vollziehbar, was zur Unangemessenheit der Fristen und damit zur Rechtswidrigkeit der Zwangsgeldandrohungen führt (vgl. OVG NW - U.v. 2.3.2001 - 7 A 5020/98 - juris Rn. 31 ff.; BayVGH, B.v. 16.5.2018 - 21 Cs 18.72 - juris Rn. 18 f.; für Gegenstandslosigkeit BayVGH, B.v. 30.8.2001 - 22 CS 99.3133 - juris Rn. 17).
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Die Zwangsmittelandrohung in Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids ist darüber hinaus auch schon deshalb rechtswidrig, weil hiernach das Zwangsgeld u.a. auch dann fällig werden soll, wenn der Kläger ein anderes, erlaubnisfreies Gewerbe betreibt. Da die entsprechende Untersagung jeglicher selbständiger Erwerbstätigkeit im Bereich des stehenden Gewerbes jedoch rechtswidrig ist (s.o.), gilt selbiges auch für die daran anknüpfende Zwangsgeldandrohung.
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6. Nachdem die erweiterte Gewerbeuntersagung in Ziffer 4 des Bescheids vom 7.7.2020 rechtswidrig ist (s.o.), ist auch die Kostenfestsetzung in Ziffer 9 rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn ausweislich der Begründung des Bescheids stützt sich die Festsetzung der Kosten auf Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 6 Kostengesetz - KG i.V.m. § 1 Kostenverzeichnis - KVz i.V.m. Nr. 5.III.5/Tarifstellen 15, 30 Anlage zum KVz und den dort festgelegten Gebührenrahmen von 50 bis 2.000 EUR. Abgesehen davon, dass die Tarifstelle 30 schon nicht existiert, bezieht sich die Tarifstelle 15, die den genannten Gebührenrahmen benennt, auf Untersagungen nach § 35 Abs. 1 GewO. Eine solche wurde hier jedoch, wie dargelegt, nicht rechtmäßig verfügt.
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Der hier eigentlich einschlägige Gebührenrahmen für den Widerruf einer Reisegewerbekarte in Nr. 5.III.5/Tarifstelle 23.8 Anlage zum KVz liegt zwischen 50 und 500 EUR, also wesentlich niedriger als der durch den Beklagten angewandte. Es ist daher nicht anzunehmen, dass der Beklagte auch unter Heranziehung dieses Gebührenrahmens eine Gebühr von 450 EUR festgesetzt hätte.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Da der Kläger mit seinem wesentlichen Klageziel, den Widerruf seiner Reisegewerbekarte abzuwenden, nicht erfolgreich war, sich allerdings die erweiterte Gewerbeuntersagung, die Zwangsmittelandrohungen sowie die Kostenentscheidung als rechtswidrig erwiesen haben, erschien es angemessen, dem Kläger 7/10 der Kosten des Verfahrens und dem Beklagten 3/10 der Kosten aufzuerlegen.
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Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.