Inhalt

VG München, Urteil v. 17.05.2021 – M 1 K 17.42425
Titel:

Asylbegehren eines kurdischen Jesiden aus der Türkei

Normenketten:
AsylG § 3 Abs. 1, § 3a, § 3b, § 3e Abs. 1, § 4 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Anerkennungs-RL Art. 9, Art. 10
EMRK Art. 3
Leitsätze:
1. Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Verfolgung von Jesiden in der Türkei liegen nicht vor. (Rn. 26 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Etwaige asylrelevante Übergriffe auf türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit weisen nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte auf, die zu einer Gruppenverfolgung und damit dazu führt, dass jedes Mitglied dieser Gruppe als verfolgt gilt. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine niederschwellige politische Tätigkeit, zB durch Teilnahme an Protestaktionen für kurdische Angelegenheiten, begründet keine Verfolgungsgefahr. (Rn. 44) (redaktioneller Leitsatz)
4. Schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die die Annahme einer unmenschlichen Behandlung rechtfertigen, setzen ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus. (Rn. 57) (redaktioneller Leitsatz)
5. Die Covid-19-Pandemie begründet kein Abschiebungsverbot für die Türkei. (Rn. 62) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl Türkei, Kurde, Jeside (Yezide), Soziale Ausgrenzung, Prokurdischer Protest, Versuch der Polizei, ihn als Spitzel anzuwerben, inländische Fluchtalternative, Gruppenverfolgung, Covid-19-Pandemie, Qualifikationsrichtlinie, RL 2011/95/EU
Fundstelle:
BeckRS 2021, 30613

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger verfolgt sein von der Beklagten abgelehntes Asylbegehren im Klagewege weiter.
2
Der Kläger, nach eigenen Angaben am … in …, Türkei, geboren, ist türkischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und jesidischen Glaubens. Er gibt an, am 1. März 2015 in einem Lkw versteckt aus der Türkei ausgereist und am 10. März 2015 in Deutschland eingereist zu sein. Am 14. April 2016 stellte er einen umfassenden Asylantrag.
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In seiner Anhörung am 29. Dezember 2016 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) führte der Kläger aus, den Betrag von 6.000 EUR für den Schleuser habe er sich von Freunden und seinem Vater geliehen und auch ein bisschen erarbeitet. In der Türkei lebten noch seine Eltern und drei Geschwister sowie die restliche Großfamilie. Er habe acht Jahre die Schule besucht und die Mittelschule ohne Abschluss verlassen. Normalerweise habe er in Restaurants gearbeitet, und wenn er dort keine Arbeit gefunden habe, habe er auf Baustellen gearbeitet. Seine wirtschaftliche Lage sei gut gewesen, er habe keine Schwierigkeiten gehabt. Ungefähr im Jahr 2010 habe er für fünfzehn Monate Wehrdienst geleistet. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Kläger an, als Jeside habe er in der Türkei keine Rechte. Er habe immer versteckt halten müssen, dass er Jeside sei und als Minderheit im Land lebe. Er habe seinen Glauben nicht frei ausüben können. Man werde dadurch unter Druck gesetzt und komme irgendwann zu dem Punkt, dass man damit nicht mehr umgehen könne. Man werde als Mensch zweiter Klasse behandelt; ihm sei etwa immer wieder vorgeworfen worden, warum er nicht in die Moschee gehe und dort bete. Daneben habe er das allgemeine Problem als Kurde in der Türkei. Er habe einen Cousin, der drei Jahre vom Staat festgehalten worden sei, ohne dass der Kläger gewusst habe, wo er sich befinde. Er habe befürchtet, dass ihm auch so etwas zustoßen könne. Er habe weiter auf die Schule gehen wollen, sei aber ausgegrenzt, geschlagen und schließlich von der Schule geworfen worden. Auf den Dörfern habe er dann vergeblich nach Arbeit gesucht. Bei seinen Arbeiten in Restaurants sei er immer entlassen worden, wenn herausgekommen sei, dass er Jeside sei. Damit gelte man als unrein. Daher habe er sich entschieden, nach Istanbul zu gehen, wo er ein bisschen gearbeitet habe, aber das habe nicht viel verändert, weil er als Kurde dort auch ausgegrenzt worden sei. Daher sei er zurück nach … gegangen und mit Hilfe der Familie geflohen. Ansonsten wäre er im Gefängnis gelandet oder umgebracht worden oder hätte am Ende jemanden töten müssen. Er habe in der Türkei weder Zukunft noch Rechte; er habe Angst um sein Leben. Die Jesiden hätten wegen ihres Glaubens Angst vor den Menschen in ihrer Umgebung gehabt; man habe dies versteckt gehalten. Komme es heraus, dass man Jeside sei, hielten sich die Leute fern und grenzten einen aus. Von der Schule sei er ausgeschlossen worden, weil er Kurde gewesen sei. In der Klasse seien sie 20 kurdische bei insgesamt 35 Schülern gewesen. Einige seien auch entlassen worden, andere freiwillig gegangen. Ihn hätte man nicht gemocht, und man habe nicht gewollt, dass er etwas erreiche. Seinem Vater sei gesagt worden, dass er nichts werden würde und er nichts von ihm erwarten könne. Er sei für Kleinigkeiten bestraft worden; das sei alles vorgeschoben gewesen. Einen Rechtsanwalt sei deswegen nicht beauftragt worden, weil er gewusst habe, dass nichts dabei herauskomme. Er habe außerdem Angst gehabt, als Agent eingesetzt zu werden. Er sei ein paar Mal auf pro-kurdischen Demonstrationen gewesen und sei einmal von der Polizei mitgenommen und verhört worden. Sie hätten gewollte, dass er als Spitzel für sie arbeite. Er solle Informationen über die Kurden sammeln und ihn mit Gefängnis und Folter bedroht. Ein genaues Datum könne er nicht nennen, aber es sei umgehend nach seinem Wehrdienst gewesen. Vielleicht sei er beobachtet worden. Das Haus seiner Eltern sei auch mehrfach, vor etwa vier bis fünf Jahren (i.e. 2011/12) durchsucht worden und sein Vater geschlagen worden. Haftbefehle, Anklagen oder derartiges gebe es nicht, hingegen ständig Bedrohungen. Die Polizei habe ihn mehrfach mit Gefängnis gedroht; die Polizei in … sei so zu allen Kurden. Er sei zwei Jahre in Istanbul gewesen, wo er auch ausgegrenzt worden sei und kein Haus habe mieten können. Er sei zunächst bei einem Freund gewesen, und als dieser ausgezogen sei, sei er in der Wohnung geblieben. Wenn man in Istanbul nicht leben könne, könne man nirgendwo in der Türkei leben. Wenn er in die Türkei zurückmüsse, würde sich die Situation irgendwann zuspitzen, und er hätte irgendwann Probleme mit anderen Personen, die ihn entweder töten würden oder er sie töten müsse, oder er werde irgendwann festgenommen.
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Mit Bescheid vom 19. Mai 2017 entschied die Beklagte, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen (Nr. 1), seinen Antrag auf Asylanerkennung abzulehnen (Nr. 2), ihm den subsidiären Schutzstatus nicht zuzuerkennen (Nr. 3) und stellte ferner fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenhG nicht vorliegen (Nr. 4). Ferner wurde eine Abschiebungsandrohung in die Türkei verfügt (Nr. 5) und das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheides wird Bezug genommen. Der Bescheid, adressiert an den Verfahrensbevollmächtigten des Klägers, wurde am 22. Mai 2017 zur Post gegeben.
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Der Kläger hat durch seinen Prozessbevollmächtigten am *. Juni 2017 Klage erhoben und beantragt,
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1. Die Beklagte ist unter Aufhebung ihres Bescheides vom 19. Mai 2017, zugestellt am 24. Mai 2017, zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und festzustellen, dass in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 3 AsylG vorliegen.
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2. Hilfsweise ist die Beklagte unter Teilaufhebung ihres Bescheides vom 19. Mai 2017 zu verpflichten, dem Kläger den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
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3. Höchst hilfsweise ist die Beklagte unter Teilaufhebung ihres Bescheides zu verpflichten festzustellen, dass ein nationales Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG hinsichtlich des Herkunftslandes vorliegt.
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Der Kläger werde als jesidischer Kurde sowohl religiös als auch ethnisch staatlich und gesellschaftlich benachteiligt, diskriminiert und verfolgt. Die Ausführungen der Beklagten zu der Situation der Jesiden träfen nicht zu, weil sich die Sicherheitslage der Jesiden durch die deutliche Islamisierung und durch dschihadistische und salafistische Bewegungen erheblich verschlechtert habe. Die Diskriminierung der jesidischen Kurden habe deutlich zugenommen; dies betreffe insbesondere die Grenzregion zu Syrien, woher der Kläger auch stamme. Die Rechtsprechung des EGMR zur Diskriminierungssituation der Aleviten sei übertragbar; die Situation religiöser Minderheiten habe sich seither verschlechtert. Der Kläger habe selbst angegeben, dass er als Jeside in der Türkei keine Rechte habe. Er habe deswegen seine religiöse Identität versteckt. Auch würden die Menschen dazu angehalten, in die Moschee zu gehen oder danach gefragt zu werden; eine freie Religionsausübung liege damit nicht vor. Die Diskriminierung in der Schule und die Entlassung von der Arbeit wegen der Religionszugehörigkeit sowie die Einstellung, Jesiden seien unrein, seien weitere Beispiele für Diskriminierung. Die Beklagte gehe selbst davon aus, dass seit ca. 1990 die Jesiden in der Südosttürkei einer mittelbaren regionalen Gruppenverfolgung unterlegen seien; dies habe sich nicht zum Positiven verändert. Ferner seien auch politisch engagierte Kurden landesweit staatlicher und nichtstaatlicher Verfolgung ausgesetzt und verfügten über keine internen Schutzmöglichkeiten mehr. Dies zeige gerade die Entvölkerungspolitik unter Hinnahme tausender ziviler Tote und großflächiger Ausgangssperren. Ohne Verheimlichung seiner religiösen und ethnischen Identität habe der Kläger in der Westtürkei keine wirtschaftliche Existenzgrundlage aufbauen können und könne dies auch nicht, geschweige denn seine politische Einstellung und seine religiöse Zugehörigkeit offenzulegen. Die Beklagte habe die individuell vorgetragenen Fluchtgründe nicht ausreichend berücksichtigt. Es handele sich um einen höhnischen Zirkelschluss anzunehmen, dass der Kläger nicht verfolgt sein könne, weil er seine Religion nicht preisgegeben habe. Die Verfolgungshandlung des türkischen Staates liege vor, etwa in Form der Ausgangssperren, die gerade die kurdisch besiedelten Gebiete getroffen hätten, ferner die komplette Zerstörung und Abriss abertausender Häuser in kurdischen Städten. Dies habe der Vertreibung der Kurden gedient. Die Ausgangssperren seien zwar formal aufgehoben, praktisch dauerten diese aber fort und würden immer wieder neu verhängt; ohnehin herrsche landesweit der Ausnahmezustand. Die Volksgruppe der Kurden sei zwar landesweit noch keiner staatlichen Verfolgung ausgesetzt. Dies beruhe darauf, dass es tatsächlich auch regierungstreue Kurden gebe. Dies betreffe aber gerade nicht die Kurden, die sich für die kurdischen Rechte einsetzten. Abzulesen sei dies an der Verhaftung der prokurdischen Parlamentsabgeordneten, der kurdischen Bürgermeister, tausender HDP- und DBP-Politiker und -Mitglieder sowie der Tötung von tausenden kurdischen Zivilisten und der Vertreibung von einer halben Millionen Kurden seit der erneuten Eskalation des Krieges seit Juli 2015. Fast täglich komme es, insbesondere in der Westtürkei und in der Schwarzmeerregion, zu heftigen Übergriffen nationalistischer und islamfaschistischer Gruppierungen auf kurdischstämmige Bauarbeiter und landwirtschaftlicher Saisonarbeiter. Es komme zu Schlägen, Beschimpfungen, Demütigungen und Vertreibungen. Durch syrische und irakische Kriegsflüchtlinge habe sich die wirtschaftliche Lage in der Türkei für unqualifizierte Arbeitnehmer verschlechtert, sodass ein Zugang zu dem ohnehin schlechten Arbeitsmarkt weiter erschwert würde. An Kurden, die aus der Osttürkei kämen, würden keine Wohnungen vermietet; bei dem leisesten Verdacht eines kurdischen politischen Interesses sei dies so. Der Kläger habe auch vormals in der Westtürkei nicht leben können; er würde weder Wohnung noch Arbeit finden. Die Vorgehensweise des türkischen Staates sei brutaler Terror gegen unliebsame politische Gegner. Die Gefängnisse zeichneten sich durch ein hohes Maß an körperlicher Gewalt gegenüber den Häftlingen aus, die auch zu Todesfällen führe. Die Justiz sei gleichgeschaltet. Für die Annahme einer politischen Verfolgung sei die Einleitung eines Straf-, Ermittlungs- bzw. Gerichtsverfahrens nicht erforderlich. Jedenfalls drohe dem Kläger eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung durch den türkischen Staat. Sein Vater sei bereits von den Sicherheitskräften geschlagen worden, er sei wiederholt festgenommen worden, und ihm sei von den Sicherheitskräften wiederholt angetragen worden, für sie als Spitzel zu arbeiten. Aufgrund seiner staatsbekannten politischen Aktivitäten drohe dem Kläger eine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner körperlichen Unversehrtheit infolge willkürlicher Staatsgewalt, nämlich durch Verhaftung, Folterung oder gar Tötung. Dem Kläger drohe im Falle einer Abschiebung eine unmenschliche Behandlung und Folter durch die sogenannte Sicherheitsüberprüfung. Dies gelte insbesondere für Kurden; es existierten Listen mit Namen von gesuchten Personen, insbesondere solcher mit Verbindungen zur Gülen-Bewegung, zur PKK oder ähnlichen Organisationen. Seit der erneuten Eskalation des Kurdenkonflikts Mitte 2015 und dem Putschversuch Mitte 2016 hätten Folter und Misshandlungen durch Sicherheitskräfte wieder deutlich zugenommen. Dem Kläger drohten damit die Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK.
10
Die Beklagte hat die Verfahrensakten vorgelegt und sich in der Sache nicht geäußert.
11
Das Gericht hat mit Beschluss vom 12. April 2021 den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
12
Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung am 10. Mai 2021 informatorisch gehört worden.
13
Einen zugleich mit der Klage gestellten Prozesskostenhilfeantrag hat das Gericht in der mündlichen Verhandlung als unzulässig abgelehnt.
14
Zu den weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Behördenakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

15
I. Über die Klage konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden, weil mit der ordnungsgemäßen Ladung ein Hinweis im Sinne des § 102 Abs. 2 VwGO erfolgte.
16
II. Die zulässige Klage ist in Haupt- und Hilfsanträgen unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) als rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat keinen Anspruch darauf, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (nachfolgend unter 1.), den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen (unter 2.) oder zu seinen Gunsten das Vorliegen der Voraussetzungen nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen (unter 3.). Auch an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung und dem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot besteht keine Zweifel (unter 4.).
17
1. Die Voraussetzungen für das Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG sind nicht gegeben. Das Gericht ist nicht davon überzeugt, dass dem Kläger bei seiner Rückkehr in die Türkei Verfolgung droht.
18
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
19
Verfolgungshandlungen im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG sind solche Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2). Akteure, von denen gemäß § 3c AsylG die Verfolgung ausgehen kann, sind der Staat oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen sowie nichtstaatliche Akteure, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.
20
Zwischen den Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen muss nach § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Dabei ist unerheblich, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale, etwa politischer oder religiöser Art, aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger nur zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG).
21
Die Furcht vor Verfolgung ist im Rechtssinne begründet, wenn dem Ausländer die genannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 19). Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 - 10 C 25.10 - juris Rn. 24; B.v. 7.2.2008 - 10 C 33.07 - juris Rn. 23; U.v. 5.11.1991 - 9 C 118.90 - juris Rn. 17).
22
Ist ein Ausländer bereits verfolgt worden oder von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht gewesen, stellt dies einen ernsthaften Hinweis darauf dar, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird (Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU). Dabei handelt es sich um eine Beweiserleichterung in Form einer widerlegbaren Vermutung dafür, dass der Betroffene erneut von einer solchen Verfolgung bedroht ist. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Ob die Vermutung durch stichhaltige Gründe widerlegt ist, obliegt der tatrichterlichen Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - juris Rn. 23).
23
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, sodass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
24
Der Kläger hat weder wegen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe noch wegen individueller Gründe eine begründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft gemacht.
25
a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der Jesiden oder zum jesidischen Glauben.
26
Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Verfolgung der Jesiden in der Türkei liegen nicht vor. Im Bescheid wird zutreffend ausgeführt, dass die seinerzeit angenommene Gruppenverfolgung der Jesiden nicht mehr besteht. Auf die diesbezüglichen Bescheidsgründe (S. 3 f.) wird verwiesen und darüber hinaus ausgeführt:
27
aa) Die ehemals rund 60.000 kurdisch-stämmigen Jesiden sind in ihren Heimatregionen insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren aufgrund ihrer Religion Übergriffen muslimischer Nachbarn ausgesetzt gewesen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 17). Die große Mehrheit ist ausgewandert, viele nach Deutschland. Die überwiegende Mehrheit der Jesiden in den Kreisen Viransehir/Provinz Sanliurfa und Besiri/Provinz Batman. Ihre Anzahl ist nur schwer einzuschätzen und wird zwischen 400 und 2.000 angenommen, allerdings ohne die jesidischen Flüchtlinge aus Irak und Syrien (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 14.6.2019, S. 14). Bei Jesiden kam es (Stand 2018) offenbar vermehrt zu Schwierigkeiten mitunter unter Androhung von Gewalt mit politisch gut vernetzten, zumeist kurdischen Clans in der Region, wenn sie versuchten, bei Rückkehr in die Türkei in der Vergangenheit zurückgelassenes oder erstmals katastermäßig erfasstes Land als Eigentum registrieren zu lassen oder dieses tatsächlich nutzen zu wollen. Die (kurdisch geprägten) Menschenrechtsvereine behaupteten, von diesen Vorgängen keine Kenntnis zu haben (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 17).
28
Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung von Jesiden liegen nicht vor (wie hier VG Augsburg, U.v. 17.4.2019 - Au 6 K 17.35247 - juris Rn. 37; VG Hannover, U.v. 11.3.2019 - 13 A 4090/17 - juris Rn. 23). Im Urteil vom 14. März 2012 (3 L 152/09 - juris) führt das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt unter Zugrundelegung seines Urteils vom 28. Oktober 2007 (3 L 303/04 - juris) aus, dass eine Gruppenverfolgung der Jesiden nicht (mehr) festzustellen ist, weil die hierfür erforderliche Verfolgungsdichte nicht ansatzweise erreicht ist. Dieser Beurteilung schließt sich das Gericht an und hält auch für den Fall des Klägers daran fest. Verfolgungsschläge durch den Staat, die zudem so eng und dicht gestreut wären, dass jedes Gruppenmitglied damit rechnen müsste, alsbald in eigener Person getroffen zu werden, sind nicht bekannt und werden auch von Kläger nicht dezidiert vorgetragen. Es sind in den letzten Jahren keine Fälle körperlicher Gewalt gegenüber Vertreter religiöser Minderheiten bekannt geworden (Lagebericht, S. 13). Im Übrigen lässt sich nicht feststellen, dass der türkische Staat bei etwaigen Übergriffen von muslimischen Nachbarn grundsätzlich keinen Schutz gewährt.
29
bb) Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG und Art. 10 Abs. 1 lit. b Qualifikationsrichtlinie (QRL) umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Danach gehören zu den Handlungen, die eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG bzw. von Art. 9 Abs. 1 QRL darstellen können, nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit, den Glauben im privaten oder öffentlichen Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in die Freiheit, sich keiner Religion anzuschließen oder sich von einer Religion abzuwenden und als Atheist zu leben und zu handeln (vgl. VG Augsburg, U.v. 3.4.2018 - Au 3 K 17.32736 - juris Rn. 30; VG Münster, Urteil vom 26.07.2017 - 7 K 5896/16.A -, juris Rn. 25; VG Chemnitz, Urteil vom 26.04.2017 - 6 K 921/16.A -, juris Rn. 23).
30
Die Beurteilung der Frage, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 AsylG bzw. Art. 9 Abs. 1 QRL zu erfüllen, hängt von objektiven und subjektiven Gesichtspunkten ab (EuGH, U.v. 5.9.2012 - C-71/11 und C-99/11 - juris Rn. 70; BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 28). Ein objektiver Gesichtspunkt ist insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter. Die erforderliche Schwere kann dann erreicht sein, wenn dem Ausländer bei einem Bekanntwerden seiner religiösen bzw. atheistischen Einstellung die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, denn ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, begründet keine erhebliche Verfolgungsgefahr. Subjektiv ist zu berücksichtigen, ob die Glaubensbetätigung, die die Verfolgung auslöst, oder das bewusste Abwenden von einer Religion für den Betroffenen zur Wahrung seiner religiösen oder weltanschaulichen Identität besonders wichtig bzw. unverzichtbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 - 10 C 23/12 - juris Rn. 28 f.).
31
Der Kläger hat bei Rückkehr in die Türkei keine schwerwiegende Verletzung seiner Religionsfreiheit zu gewärtigen.
32
Gegenwärtig sieht nach den vorliegenden Erkenntnismitteln (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 24.8.2020 - im Folgenden: Lagebericht - S. 13) die türkische Verfassung die positive und negative Religions- und Gewissensfreiheit vor. Nach Beurteilung durch das Auswärtige Amt ist die individuelle Religionsfreiheit weitgehend gewährt (Lagebericht, S. 13). Die kollektive Religionsfreiheit findet Einschränkungen durch „Gefährdung der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk, des Laizismus oder der Demokratie“. Nichtmuslime bzw. Muslime nicht-sunnitischen Glaubens sollen nicht über solide rechtliche Strukturen verfügen; einer nicht-muslimischen Religionsgemeinschaft kommt als solcher keine Rechtspersönlichkeit zu. Sie können sich allerdings legal als Vereine organisieren (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Türkei vom 27.1.2021 - im Folgenden: BFA - S. 75). Jesiden ebenso wie etwa Aleviten können keine Befreiung vom staatlich verpflichtenden Religionsunterricht erhalten; dies ist nur Schülern mit dem Vermerk „christlich“ oder „jüdisch“ möglich (BFA, S. 78). Es gibt glaubwürdige Berichte über staatliche Diskriminierung von Nicht-Sunniten bei der Einstellung in den öffentlichen Dienst. Mitglieder von Minderheiten werden in der Arbeitswelt diskriminiert, insbesondere wenn der Arbeitgeber Verbindungen zur Regierung hat (BFA, S. 78). Bekannt wurden auch Berichte über Fälle von Vandalismus, Hate Speech und sozialer Ausgrenzung gegenüber Vertretern religiöser Minderheiten. Es sind in den letzten Jahren allerdings keine Fälle körperlicher Gewalt bekannt geworden (Lagebericht, S. 13).
33
cc) Die dargestellte Situation der jesidischen Glaubensgruppe ebenso wie der individuelle Vortrag des Klägers lassen keine asylrelevanten Verfolgungshandlungen erkennen, insbesondere droht den Anhängern des jesidischen Glaubens deswegen keine Gefahr, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Dies behauptet im Übrigen auch der Kläger nicht. Anhaltspunkte dafür, dass es eine nennenswerte Anzahl religiös motivierter Gewalttaten gegenüber Jesiden gibt, bestehen nicht; im Gegenteil sind nach den o.g. Erkenntnismitteln keine Fälle körperlicher Gewalt bekannt geworden. Zwar werden Jesiden in der Türkei rechtlich und tatsächlich anderen Minderheiten nicht in vollem Umfang gleichgestellt und gewärtigen eine gewisse Diskriminierung. Dies bestätigt der Kläger teilweise mit seinen Schilderungen, als Jeside habe er sich in der Türkei ausgegrenzt gefühlt. Er gibt aber nicht einmal an, dass er an der Ausübung seiner Religion gehindert worden wäre. Zu verzeichnen ist hingegen lediglich ein vom Kläger subjektiv empfundener sozialer Druck, den das Gericht nicht für schwerwiegend erachtet. Im Übrigen ist die Behauptung, ihm sei jeweils gekündigt worden, wenn er als Jeside erkannt worden sei, nicht nachvollziehbar angesichts seiner Behauptung, seine wirtschaftliche Lage sei gut gewesen. Ferner besteht auch kein Anlass für die Annahme, dass der türkische Staat unfähig oder unwillig wäre, Jesiden den notwendigen Schutz gegen etwaige Übergriffe von dritter Seite zu gewähren.
34
dd) Im Übrigen verfügt der Kläger über eine inländische Fluchtalternative in der Westtürkei (vgl. unten).
35
b) Eine Verfolgung des Klägers durch seine Zugehörigkeit zu der Gruppe der Kurden in der Türkei droht nach aktueller Erkenntnislage nicht.
36
aa) Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass etwaige asylrelevante Übergriffe auf türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweisen, die zu einer Gruppenverfolgung und damit dazu führt, dass jedes Mitglied dieser Gruppe als verfolgt gilt (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 - 6 K 3554.17.A - juris Rn. 51 m.w.N.). Das Gericht schließt sich insoweit der oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung an (vgl. BayVGH, B.v. 10.2.2020 - 24 ZB 20.30271 - juris Rn. 6 m.w.N.; SächsOVG, B.v. 7.1.2021 - 3 A 927/20.A - juris Rn. 12; OVG Saarl, B.v. 18.11.2020 - 2 A 321/20 - juris Rn. 16).
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Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 82 Mio. Einwohner leben etwa 13 Mio. bis 15 Mio. kurdische Volkszugehörige in der Türkei. Die Kurden stellen die größte ethnische Minderheit in der Türkei dar. Sie unterliegen allein aufgrund ihrer Abstammung auch nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes keinen staatlichen Repressionen, zumal aus den Ausweispapieren in der Regel - sofern keine spezifisch kurdischen Vornamen geführt werden - nicht hervorgeht, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (vgl. Lagebericht, S. 12). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza in Wort und Schrift ist keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Das am 2. März 2014 vom türkischen Parlament verabschiedete „Demokratisierungspaket“ hat u.a. Möglichkeiten zur Unterrichtung kurdischer Sprachen und zum Gebrauch kurdischer Ortsnamen geschaffen. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist (vgl. Lagebericht, S. 12). Seit dem Putschversuch in der Türkei sind eine Reihe von kurdischen Print- und Bildmedien geschlossen worden (vgl. Lagebericht, S. 6, S. 13), und der Druck auf kurdische Medien und die Berichterstattung über kurdische Themen aufgrund von Gerichtsverfahren und Verhaftungen von Journalisten hält an. Es sind jedoch immerhin acht Fernsehkanäle zu verzeichnen, die ausschließlich auf Kurdisch senden, sowie 27 Radiosender, die kurdische Programme anbieten oder ausschließlich auf Kurdisch senden. Veranstaltungen mit Bezug zur Kurden-Problematik werden unter dem Vorwand der Sicherheitslage hingegen verboten (BFA, S. 85 f.).
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Auch im Jahr 2020 berichten Medien immer wieder von Gewaltakten gegen Menschen, die im öffentlichen Raum Kurdisch sprachen oder als Kurden wahrgenommen wurden; nebst spontanen Gewalt von Einzelpersonen kommt es auch zu organisierten gewalttätigen Angriffen türkisch-nationalistischer Milizen gegen kurdische Gruppen (BFA, S. 86 f.). Gleichwohl ist nicht von einer solchen Verfolgungsdichte auszugehen, die die Annahme einer Gruppenverfolgung der Kurden in der Türkei, auch durch staatliches Unterlassen, rechtfertigt. Viele Kurden, die nicht politisch aktiv sind, sind in der türkischen Gesellschaft integriert, identifizieren sich mit der türkischen Nation und leben ihr Leben auf normale Weise (BFA, S. 85).
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bb) Zudem steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative gem. § 3e Abs. 1 AsylG offen (vgl. BayVGH, B.v. 10.2.2020 - 24 ZB 20.30271 - juris Rn. 7; B.v. 3.6.2016 - 9 ZB 12.30404 - juris Rn. 6; SächsOVG, U.v. 7.4.2016 - 3 A 557.13.A - juris, Rn. 31; VG Augsburg, U.v. 9.12.2020 - Au 4 K 19.31715 - BeckRS 2020, 42300, Rn. 19). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine höhere Gefährdung verringern, die in der Südosttürkei u.a. auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK basiert und dort zahlreiche zivile Opfer gekostet hat.
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Dem Kläger ist es nach § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG wirtschaftlich zuzumuten, dass er sich in der Westtürkei niederlässt. Die Niederlassung in einen sicheren Landesteil ist zumutbar i.S.v. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wenn bei umfassender Würdigung aller Umstände ein die Gewährleistungen des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-Grundrechtecharta wahrendes Existenzminimum gesichert ist und auch keine anderweitige schwerwiegende Verletzung grundlegender Grund- oder Menschenrechte oder eine sonst unerträgliche Härte droht (vgl. OVG NRW, B.v. 25.2.2021 - 19 A 1417/20.A - juris Rn. 19; VGH BW, U.v. 29.11.2019 - A 11 S 2376/19 - juris Ls.; VG Würzburg, U.v. 24.2.2021 - W 8 K 20.30328 - juris Rn. 40). Dabei sind schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die nicht auf eine direkte oder indirekte Handlung oder Unterlassung staatlicher oder nicht staatlicher Akteure zurückzuführen sind, nur in ganz besonderen Ausnahmefällen im Rahmen des Art. 3 EMRK zu berücksichtigen. Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2019 - 1 B 2/19 - juris Rn. 10). Nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17, C-318/17, C-319/17, C-438/17 - juris Rn. 90) kommt es darauf an, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Grundbedürfnisse zu befriedigen, insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
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Dem Kläger ist ein Leben in der Westtürkei wirtschaftlich zuzumuten. Seine wirtschaftliche Lage war nach eigenen Angaben bis zu seiner Ausreise aus der Türkei gut, er hat nach den Angaben in seiner Anhörung beim Bundesamt keine Schwierigkeiten gehabt. Nach seiner achtjährigen Schulbildung vermochte es der Kläger, durch verschiedene Arbeiten im Baugewerbe und in Restaurants seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Dies war nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung auch in Istanbul so, wo es „irgendwie gegangen“ sei. Damit ist das Gericht überzeugt davon, dass der junge und erwerbsfähige Kläger auch bei seiner Rückkehr in die Türkei weiterhin in der Lage sein wird, sein wirtschaftliches Existenzminimum ohne Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu sichern.
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c) Der Kläger hat auch keine Verfolgung aus sonstigen Gründen, insbesondere im Hinblick auf ein politisches Engagement, zu befürchten.
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aa) Seit spätestens Sommer 2015 fährt die türkische Regierung unter Staatspräsident Erdogan politisch einen verstärkt nationalen Kurs, dessen Kernelement das bedingungslose Vorgehen im Kurdenkonflikt gegen die PKK und vermeintliche Unterstützer ist (vgl. Lagebericht, S. 6). Der Kurdenkonflikt ließ auch die politische Vertretung der kurdischen Minderheit zum Ziel staatlicher Repressalien werden. So wurden etwa im Zuge der Verfassungsänderung am 8. Juni 2016 138 Abgeordnete (darunter 57 von 59 Abgeordnete der pro-kurdischen HDP) die parlamentarische Immunität entzogen. Im März 2019 befanden sich zehn ehemalige Abgeordnete der HDP und ein ehemaliger Abgeordneter der CHP in Haft (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 14. Juni 2019, S. 6). Trotz der Einschränkungen ihres Wahlkampfs u.a. durch die Inhaftierung ihres Spitzenkandidaten Demirtas überwand die HDP bei der letzten Präsidentschaftswahl am 24. Juni 2018 die Zehnprozenthürde und zog mit 11,70% erneut ins türkische Parlament ein. Die türkische Regierung versucht zudem auch auf lokaler Ebene den Einfluss der HDP zu verringern. So wurden etwa 45 von 65 HDP-Bürgermeistern abgesetzt und 21 von ihnen im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen in Untersuchungshaft genommen (Stand Mai 2020). Der Führung der linkskurdischen HDP wird regierungsseitig vorgeworfen, enge Verbindungen zur PKK sowie zu derer politischer Dachorganisation KCK zu pflegen. Strafverfolgungen gegen die PKK und die KCK betreffen nicht selten auch Mitglieder der HDP. Nach Schätzungen im März 2020 befinden sich ca. 5.000 Parteifunktionäre und -mitglieder der HDP gegenwärtig in Haft (Lagebericht, S. 6, 10). Oppositionspolitisches Engagement kann zu Gefährdung führen; Betroffene werden in der Regel in wiederholt verlängerte Untersuchungshaft gesetzt und können Gewaltandrohungen und Strafverfolgung ausgesetzt sein. Seit Juli 2015 sind mehr als 10.000 Politiker und Unterstützer der HDP verhaftet worden (vgl. Schnellrecherche der Schweizerischen Flüchtlingshilfe v. 7.7.2017 zur Türkei: Gefährdung bei Rückkehr von kurdischstämmigen Personen mit oppositionspolitischem Engagement und möglichen Verbindungen zur PKK). Die Bemühungen um die „Zerschlagung“ der HDP gipfeln in dem inzwischen beim türkischen Verfassungsgericht eingereichten Parteiverbotsantrag (vgl. etwa den Bericht der Deutschen Welle vom 18. März 2021, abrufbar unter: https://www.dw.com/de/t%C3%BCrkei-kurdenpartei-hdp-droht-verbot/a-56916153), der nunmehr vom türkischen Verfassungsgericht zur Entscheidung angenommen worden ist. Eine verfolgungsrelevante Rückkehrgefährdung besteht insbesondere bei Personen, die in das Visier der türkischen Sicherheitsbehörden geraten, weil sie dort als tatsächliche oder potentielle Unterstützer etwa der PKK oder anderer als terroristisch eingestufter Organisationen angesehen werden Anhaltspunkte sind hierfür etwa der Eintrag in ein Fahndungsregister, ein anhängiges Ermittlungs- oder Strafverfahren, oder die in besonders exponierter Weise erfolgte (exil-)politische Betätigung (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 - 6 K 3554/17.A - juris Rn. 51; VG Augsburg, U.v. 19.2.2021 - Au 8 K 20.30558 - juris Rn. 26; OVG Sachsen, U.v. 7.4.2016, - 3 A 557/13.A, juris; OVG Sachsen-Anhalt, B.v. 17.5.2016 - 3 L 177/15 - juris, jeweils m.w.N.; BFA, Länderinformationsblatt Türkei vom 29.11.2019, S. 88.). Für eine generelle Strafverfolgung von bloßen Mitgliedern der HDP sind indes derzeit keine Anhaltspunkte gegeben (vgl. VG München, U.v. 30.4.2021 - M 1 K 17.40851 - juris Rn. 41; VG Augsburg, U.v. 19.2.2021 - Au 8 K 20.30558 - juris Rn. 25 unter Berufung auf Auswärtiges Amt, Auskunft vom 8.1.2021 an das VG Augsburg, zu Frage 3; VG Magdeburg, U.v. 28.9.2018 - 6 A 243/17 - juris Rn. 25). Eine Verfolgungsgefahr für den Einzelnen aufgrund niedrigschwelliger Aktivitäten in Zusammenhang mit der HDP ohne Hinzutreten besonderer Anhaltspunkte wird regelmäßig noch nicht begründet. Keine Verfolgungsgefahr begründen daher beispielsweise die Teilnahme an Demonstrationen für kurdische Angelegenheiten als einfaches Parteimitglied der HDP bzw. der Vorgängerparteien oder vereinzelte Festnahmen bzw. Befragungen oder ein verstärktes Betroffensein von Polizeikontrollen (vgl. VG München, U.v. 30.4.2021 - M 1 K 17.40851 - juris Rn. 40 f.; v. 17.3.2021 - M 1 K 17.41734 - juris Rn. 39 und nachfolgend BayVGH, B.v. 7.6.2021 - 24 ZB 21.30687 - juris Rn. 7; VG Kassel, U.v. 29.4.2021 - 5 K 74/19.KS.A - juris Rn. 45, jeweils m.w.N.).
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bb) Der Kläger hat nicht glaubhaft gemacht, derart in den Fokus der türkischen Sicherheitsbehörden geraten zu sein, dass bei Rückkehr mit einem Zugriff auf seine Person zu rechnen wäre. Insbesondere hat sich der Kläger nach Überzeugung des Gerichts nicht in regimekritischer Weise politisch exponiert. Zunächst ist der Kläger kein Mitglied der HDP. Vielmehr ist er nach eigenen Angaben von seinem Umfeld gezwungen worden, mitunter an politischen Protestaktionen teilzunehmen, wo auch Steine geworfen worden seien. Dies begründet - die Richtigkeit der Angaben unterstellt - als niederschwellige Tätigkeit keine Verfolgungsgefahr. Ferner trägt der Kläger vor, er sei einmal von der Polizei auf das Präsidium mitgenommen und verhört worden; man habe ihn als Spitzel anheuern wollen, und ihm sei mit Gefängnis und Folter gedroht worden. Dieser Vorfall ist bereits unglaubhaft geschildert, weil der Kläger unterschiedliche Angaben zum Zeitpunkt machte: In der Anhörung beim Bundesamt meint der Kläger, dies habe sich umgehend nach seinem Wehrdienst zugetragen, wohingegen er in der mündlichen Verhandlung äußerte, dies sei vor seiner Militärzeit gewesen. Zum anderen ist selbst bei Wahrunterstellung nicht von einer Wiederholung bei Rückkehr auszugehen, weil der Kläger nach seiner Weigerung freigelassen wurde und deswegen in der Folge nicht noch einmal von der Polizei behelligt worden ist. Befände er sich tatsächlich im Fokus der Sicherheitsbehörden, wäre damit zu rechnen gewesen, dass diese in den Jahren nach dem geschilderten Vorfall bis zu seiner Ausreise noch einmal auf ihn zugekommen wären. Entsprechendes gilt für den Vortrag, dass die Polizei sein Haus durchsucht hat, angesichts der Angabe des Klägers, dies habe sich bereits vier bis fünf Jahre vor seiner Anhörung beim Bundesamt zugetragen. Unterlagen etwa zu Ermittlungsverfahren, Haftbefehlen o.ä. wurden im Übrigen nicht vorgelegt.
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cc) Im übrigen gilt auch hier, dass der Kläger mit der Westtürkei eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stünde, selbst wenn er bei der Polizei von … bekannt wäre und ständig bedroht worden wäre. Nach eigener Angabe fühlte sich der Kläger in Istanbul zwar ausgegrenzt, von polizeilichen Vorfällen oder Zwang durch militante Kurden berichtete er jedoch nicht.
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2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG.
47
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiärer Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Für die Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG gelten nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend. Damit werden die dortigen Bestimmungen über den Vorverfolgungsmaßstab, Nachfluchtgründe, Verfolgungs- und Schutzakteure und internen Schutz als anwendbar auch für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erklärt. Auch bei der Zuerkennung subsidiären Schutzes greift die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 - 10 C 5.09 - juris Rn. 20).
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a) Die Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG, hat der Kläger weder geltend gemacht, noch liegen Anhaltspunkte hierfür vor. Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Lagebericht, S. 22). Für extralegale Hinrichtungen liegen keine Anhaltspunkte vor.
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b) Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG sind nicht erfüllt. Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ vorliegt, hängt vom Einzelfall ab; eine derartige Behandlung muss jedenfalls ein Minimum an Schwere erreichen. Darunter sind Maßnahmen zu verstehen, bei denen einem Betroffenen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden, die nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen. Hierfür bedarf es grundsätzlich eines Akteurs (Art. 6 der RL 2011/95/EU, vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - juris Rn. 30). Dies gilt gemäß § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG auch dann, wenn die Gefahr von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht. Es müssen konkrete Anhaltspunkte oder stichhaltige Gründe dafür glaubhaft gemacht werden, dass der Ausländer im Fall seiner Abschiebung einem echten Risiko oder einer ernsthaften Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
50
Dem Vorbringen des Klägers kann nicht entnommen werden, dass ihm bei Rückkehr in die Türkei ein derartiger ernsthafter Schaden droht. Es wird auf die voranstehenden Ausführungen (unter II. 1.) verwiesen. Auch dem Vortrag, er sei von seinem Umfeld unter Druck gesetzt worden, an prokurdischen Aktionen teilzunehmen, kann die Gefahr eines ernsthaften Schadens bei Rückkehr nicht entnommen werden. Zum einen bleibt der Vortrag unglaubhaft, weil der Kläger nicht erklärt hat, auf welche Weise sein Umfeld ihn dazu hat zwingen können und warum er dem Druck nicht standhalten konnte. Zum anderen behauptet auch der Kläger nicht, dass ihm etwa Gewalt angedroht worden sei. Im übrigen gilt auch hier, dass der Kläger mit der Westtürkei eine inländische Fluchtalternative zur Verfügung stünde. Es ist nicht damit zu rechnen, dass ihn das Umfeld, das ihn angeblich zu prokurdischen Aktionen gezwungen hat, beispielsweise in der Anonymität der Großstädte finden. Nach eigener Angabe fühlte sich der Kläger in Istanbul zwar ausgegrenzt, von Drangsalierungen durch kurdische Bekannte oder sonstige berichtete er jedoch nicht.
51
Der Kläger ist bei seiner Rückkehr in die Türkei nach den vorliegenden Erkenntnissen auch nicht wegen seiner Asylantragstellung unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen. In den letzten Jahren ist kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht, S. 26).
52
c) Auch besteht keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit des Klägers infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG).
53
Die allgemeine Gefahr, die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgeht, kann sich individuell so verdichten, dass sie eine ernsthafte individuelle Bedrohung darstellt. Voraussetzung hierfür ist eine außergewöhnliche Situation, die durch einen so hohen Gefährdungsgrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer solchen Bedrohung ausgesetzt ist. Bezüglich der Gefahrendichte ist auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die ein Kläger typischerweise zurückkehren wird (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 14.7.2009 - 10 C 9.08; U.v. 21.4.2009 - 10 C 11.08; U.v. 17.11.2011 - 10 C 13.10; U.v. 31.1.2013 - 10 C 15.12 - jeweils juris). In der Türkei liegt gegenwärtig kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vor, auch nicht in Bezug auf …, wo sich der Kläger zuletzt aufgehalten hat.
54
3. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Auf die diesbezügliche Bescheidsbegründung des Bundesamts wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
55
a) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AsylG besteht nach den Angaben des Klägers und den vorhandenen Erkenntnissen nicht.
56
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Insoweit sind die Verhältnisse im Abschiebungszielstaat landesweit in den Blick zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris Rn. 26) und die vorhersehbaren Folgen einer Rückkehr unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Lage im Zielstaat als auch der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen (vgl. EGMR, U.v. 20.7.2010 - 23505/09, N./Schweden - HUDOC Rn. 54; vom 28.6.2011 - 8319.07 und 11449.07, Sufi und Elmi/Großbritannien - HUDOC Rn. 216; v. 29.1.2013 - 60367.10, S.H.K/Großbritannien - HUDOC Rn. 72; v. 6.6.2013 - 2283.12, Mohammed/Österreich - HUDOC Rn. 95; v. 5.9.2013 - 61204.09, 1./Schweden - HUDOC Rn. 56).
57
Dabei sind schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die nicht auf eine direkte oder indirekte Handlung oder Unterlassung staatlicher oder nicht staatlicher Akteure zurückzuführen sind, nur in ganz besonderen Ausnahmefällen im Rahmen des Art. 3 EMRK zu berücksichtigen. Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2019 - 1 B 2/19 - juris Rn. 10). Nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17, C-318/17, C-319/17, C-438/17 - juris Rn. 90) kommt es darauf an, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Grundbedürfnisse zu befriedigen, insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
58
Im Hinblick auf den Kläger liegen keine ernsthaften und stichhaltigen Gründe dafür vor, dass er tatsächlich Gefahr läuft, in der Türkei einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Die allgemeine Versorgungslage in der Türkei stellt weder für sich genommen noch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK dar. Insbesondere ist davon auszugehen, dass der erwerbsfähige Kläger, der in der Türkei seinerzeit auf dem Bau, als Fensterputzer und in der Gastronomie tätig war, auch künftig sein Existenzminimum in der Türkei wird sichern können.
59
b) Es liegt kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.
60
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Nach § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG, welche gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entsprechend gelten, muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
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Der Kläger hat keine gesundheitlichen Gründe geltend gemacht und insbesondere keine qualifizierte ärztliche Bescheinigung vorgelegt.
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Auch die Covid-19-Pandemie begründet nach aktuellem Stand kein Abschiebungsverbot für die Türkei. Hierbei handelt es sich um eine allgemeine Gefahr, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigt. Der Kläger wäre auf die medizinische Versorgung in der Türkei zu verweisen.
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4. Die Abschiebungsandrohung gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG ist in rechtmäßiger Weise erfolgt. Ebenso wenig zu beanstanden ist das Einreise- und Aufenthaltsverbot und dessen Befristung in Nr. 6 des streitgegenständlichen Bescheids. Die Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 1, § 75 Nr. 12 AufenthG ist ermessensgerecht erfolgt.
64
III. Die Entscheidung über die Kosten folgt § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.