Inhalt

VG Augsburg, Urteil v. 10.06.2021 – Au 8 K 21.384
Titel:

Teilnehmerbegrenzung betreffend fortbewegende Versammlung, hier: kein Feststellungsinteresse nach Hauptsacheerledigung

Normenketten:
BayIfSMV § 7 Abs. 1 S. 2
BayVersG Art. 15
GG Art. 8
VwGO § 113 Abs. 1 S. 4
Leitsätze:
1. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass nicht automatisch jeder Eingriff in die Versammlungsfreiheit ein sog. Fortsetzungsfeststellungsinteresse begründen kann; dieses besteht vielmehr nur dann, wenn die angegriffene Maßnahme die Versammlungsfreiheit schwer beeinträchtigt, wenn die Gefahr der Wiederholung besteht oder wenn aus Gründen der Rehabilitierung ein rechtlich anerkanntes Interesse an der Klärung der Rechtswidrigkeit angenommen werden kann (ebenso VG Lüneburg BeckRS 2019, 12326 unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG). (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse ist zu verneinen, wenn durch eine Begrenzung der Teilnehmer die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung - wenn auch in abweichend von der Anzeige begrenztem Umfang - möglich war (ebenso BVerfG BeckRS 2020, 605), letztlich auf die Durchführung des Demonstrationszuges verzichtet wurde und auch keine weiteren Versammlungen angezeigt sind. (Rn. 28 – 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Versammlungsrecht, Auflagenbescheid, Begrenzung der Teilnehmerzahl an einer sich fortbewegenden Versammlung aus Gründen des Infektionsschutzes, Erledigung der Hauptsache nach Klageerhebung, Feststellungsinteresse - verneint, Schwerwiegende Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit - verneint, Wiederholungsgefahr - verneint, Begrenzung der Teilnehmerzahl, fortbewegende Versammlung, Infektionsschutz, Feststellungsinteresse, schwerwiegende Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit, Wiederholungsgefahr, Rehabilitierung
Fundstelle:
BeckRS 2021, 30521

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen. 
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Klägerin wendet sich gegen eine versammlungsrechtliche Auflage, mit der die Anzahl der Teilnehmer an einer sich fortbewegenden Versammlung begrenzt worden ist.
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1. Am 18. Januar 2021 hat die Klägerin bei der Beklagten für den 27. Februar 2021 eine sich fortbewegende Versammlung unter freiem Himmel mit 6000 Teilnehmern unter dem Thema „Eigenverantwortung und Selbstbestimmung“ angezeigt. Die Aufstellung des Demonstrationszugs ist mit 14.00 Uhr angegeben, Abmarsch von dort und Rückkehr zum Ausganspunkt für die Zeit von 14.30 bis 17.30 Uhr.
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Nach dem Kooperationsgespräch vom 28. Januar 2021 wurde einvernehmlich der Aufstellungsort und die Routenführung des Demonstrationszugs geändert, die Klägerin ging von einer Teilnehmerzahl von 1000 bis 2000 Personen aus. Gleichzeitig machte sie geltend, dass bis zu 1000 Teilnehmer an der sich fortbewegenden Versammlung teilnehmen sollten, eine stationäre Versammlung am Aufstellungsort sollte nicht durchgeführt werden.
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Die Beklagte erließ am 16. Februar 2021 einen Bescheid, der Klägerin mit einem Ausfertigungsdatum 17. Februar 2021 zugestellt worden ist. In diesem ist nach der Bestätigung der Versammlungsanzeige (Ziffer 1.) und der Festlegung von Aufstellungsort und Routenführung der sich fortbewegenden Versammlung (Ziffer 2.1.1 und 2.1.2) unter anderem die nachfolgende Beschränkung enthalten:
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„2.1.3 Die Anzahl der Versammlungsteilnehmer wird während der stationären Kundgebung auf maximal 1.000 Personen beschränkt. Bei einem möglichen Demonstrationszug werden die Versammlungsteilnehmer auf maximal 300 Personen beschränkt. Hierzu zählen auch der Versammlungsleiter (VL) und die Ordner.
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Zur Begründung der Beschränkung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass nach § 7 Abs. 1 Satz 2 BayIfSMV die Versammlungsbehörde durch die im Einzelfall nötigen Beschränkungen nach Art. 15 BayVersG sicherzustellen hätten, dass die von einer Versammlung ausgehenden Infektionsgefahren auf ein infektionsschutzrechtlich vertretbares Maß beschränkt bleiben. Aus der Sicht der Versammlungsbehörde sei dies nur bei einer Beschränkung der Teilnehmerzahl in Bezug auf die stationäre und die sich fortbewegende Versammlung auf die im Bescheid geregelte Zahl der Teilnehmer der Fall. Gerade bei sich fortbewegenden Versammlungen könnten die Teilnehmer nur begrenzt in Bezug auf die Einhaltung der Infektionsschutzmaßnahme, das Tragen einer Mund-Nasen-Schutzbedeckung, kontrolliert werden. Bei Versammlungen des vorliegenden Teilnehmerkreises sei aber regelmäßig mit Verstößen gegen die genannten Pflichten zu rechnen.
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Am 19. Februar 2021 fragte die Klägerin nach der Zustellung des Bescheids vom 16./17. Februar 2021 bei der Versammlungsbehörde telefonisch nach, ob sie aufgrund der Beschränkung der Teilnehmerzahl auf 300 Personen bei der sich fortbewegenden Versammlung mehrere Züge mit je 300 Personen durchführen könne (Mail der Beklagten vom 19.2.2021, Bl. 47 der Behördenakte).
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2. Am 24. Februar 2021 erhob die Klägerin Klage gegen den Bescheid vom 17. Februar 2021, verweist auf die geringe Gefahr der Ansteckung mit dem Corona-Virus bei Veranstaltungen im Freien und beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 17. Februar 2021 unter Ziffer 2.1.3 aufzuheben, soweit darin die Versammlungsteilnehmer bei einem möglichen Demonstrationszug auf maximal 300 Personen beschränkt sind und die Beklagten zu verpflichten, die Anzahl der Teilnehmer am Demonstrationszug auf maximal 1000 Personen zu beschränken.
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Gleichzeitig hat die Klägerin Antrag auf die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt.
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Über diesen Antrag hat die Kammer mit Beschluss vom 26. Februar 2021 entschieden und die aufschiebende Wirkung der Klage teilweise angeordnet (VG Augsburg, B.v. 26.2.2021 - Au 8 S 21.386).
12
Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes wurde von der Beklagten vorgetragen, dass die Durchführung des Demonstrationszuges wegen der pandemischen Lage und dem zu erwartenden Teilnehmerkreis nur in der angeordneten Form infektionsschutzrechtlich vertretbar sei. Der allgemein kritische Charakter der angezeigten Versammlung lasse befürchten, dass es zu Verstößen gegen die derzeit geltenden Infektionsschutzmaßnahmen komme. Dabei sei zugunsten der Klägerin bereits von der Regelvermutung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BayIfSMV abgewichen worden und die Teilnehmeranzahl an der fortbewegenden Versammlung auf 300 Personen erhöht worden. Bei einer sich fortbewegenden Versammlung sei die Einhaltung der Mindestabstände regelmäßig nicht zu erwarten, die Einflussmöglichkeiten der Versammlungsleitung würden mit höherer Teilnehmerzahl immer geringer. Die Klägerin habe auch kein überzeugendes Hygienekonzept vorgelegt.
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Unter dem 24. Februar 2021 erließ die Beklagte einen Änderungsbescheid zum Bescheid vom 16. Februar 2021, der der Klägerin zum Zeitpunkt der Klageerhebung noch nicht förmlich zugestellt war. Sie hat ihn nach der Behördenakte vorab als mail-Datei erhalten. Darin wird die Ziffer 2.1.3 des Bescheids vom 16.02.2021 (gemeint wohl 17.02.2012) wie folgt gefasst:
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„Die Anzahl der Versammlungsteilnehmer wird für die stationäre Versammlung (Kundgebung am 27.02.2021 ab 14.00 Uhr …) auf maximal 1.000 Personen beschränkt. Bei einem anschließenden Demonstrationszug (am 27.02.2021 ab 14.30 Uhr) wird die Anzahl der Versammlungsteilnehmer auf maximal 300 Personen beschränkt. Bei Überschreitung der Teilnehmerzahl von 300 Personen erfolgt eine Untersagung des Demonstrationszuges. Zu den Teilnehmern zählen auch der Versammlungsleiter (VL) und die Ordner.
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Das Herauslösen von Versammlungsteilnehmern aus der stationären Kundgebung zu einem (eigenen) Demonstrationszug wird untersagt. Dies ist auch dann untersagt, wenn der Demonstrationszug nur bis zu 300 Personen umfassen würde, aber darüber hinaus Personen auf dem („Aufstellungsort“) bei einer stationären Kundgebung zurückbleiben müssten. Insofern können auch nicht mehrere Demonstrationszüge mit jeweils bis zu 300 Personen im Rahmen der Versammlung stattfinden.“
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass aufgrund der Teilnehmerzahl von 1000 Personen auf der stationären Versammlung in der Praxis nicht mit der für den Infektionsschutz erforderlichen Sicherheit gewährleistet werden könne, dass sich daraus nur 300 Personen zur sich fortbewegenden Versammlung herauslösen. Es sei nach der Einschätzung der Polizei vielmehr damit zu rechnen, dass sich unkontrolliert Personen dem Demonstrationszug anschließen würden und die Kundgebung dann nicht mehr sicher von der Polizei begleitet werden könne. Die Antragstellerin habe nicht nachvollziehbar darlegen können, wie sie diese Problematik und die damit verbundenen Infektionsgefahren in den Griff bekommen wolle. Nur der Hinweis auf das verantwortungsbewusste Verhalten der erwachsenen Teilnehmer sei nicht ausreichend.
19
Am 26. Februar 2021 teilte die Klägerin der Beklagten telefonisch mit, dass sie die Versammlung nicht durchführen wird. Am Versammlungstag haben sich keine Versammlungsteilnehmer zum Demonstrationszug eingefunden.
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Auf die gerichtlichen Anfragen zum weiteren Vorgehen in dem Klageverfahren hat die Klägerin keine Äußerung abgegeben.
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Mit Beschluss vom 5. Mai 2021 wurde der Rechtsstreit dem Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.
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In der Sache wurde am 8. Juni 2021 mündlich vor Gericht verhandelt. Auf das dabei gefertigte Protokoll wird im Einzelnen Bezug genommen, ebenso wegen der weiteren Einzelheiten auf den Inhalt der Gerichtsakte, auch in dem Verfahren Au 8 S 21.386, und der vorgelegten Behördenakte.

Entscheidungsgründe

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Aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 8. Juni 2021 konnte entschieden werden, ohne dass die Klägerin am Verhandlungstermin teilgenommen hat. Die Beteiligten wurden nach § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf diese Möglichkeit hingewiesen.
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Für die ursprünglich zulässig erhobene Klage kann die Klägerin kein (weiteres) Rechtsschutzinteresse mehr geltend machen. Die Klage war deshalb abzuweisen, sie ist nicht (mehr) statthaft.
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1. Mit dem Ablauf des 27. Februar 2021, dem Zeitpunkt der von der Klägerin angezeigten sich fortbewegenden Versammlung, hat sich das Klagebegehren erledigt. Die in der Hauptsache darauf gerichtete Klage, die Beklagte unter (teilweiser) Aufhebung von Ziffer 2.1.3 des Bescheids vom 17. Februar 2021, in der Fassung durch den Bescheid vom 24. Februar 2021, zu verpflichten, die Anzahl der zugelassenen Teilnehmer an dem angezeigten Demonstrationszug auf 1000 zu erhöhen, kann aufgrund des Zeitablaufs nicht mehr erreicht werden.
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In diesen Fällen kann das Gericht nach § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO im Rahmen der Anfechtung des Bescheids jedoch feststellen, dass der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist. Voraussetzung für diese Feststellung ist nach der gesetzlichen Regelung jedoch, dass die Klägerin „ein berechtigtes Interesse an dieser Feststellung hat“ (§ 113 Abs. 1 Satz 4 a.E. VwGO). Dieses Feststellungsinteresse ist vorliegend zu verneinen.
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Die Begrenzung der Teilnehmerzahl für die von der Klägerin angezeigte sich fortbewegende Versammlung auf 300 Personen, stellt unstreitig einen Eingriff in die durch Art. 8 Grundgesetz (GG) geschützte Versammlungsfreiheit dar.
28
In der Rechtsprechung ist allerdings geklärt, dass nicht automatisch jeder Eingriff in die Versammlungsfreiheit ein sog. Fortsetzungsfeststellungsinteresse i.S.d. § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO begründen kann. Dieses Feststellungsinteresse besteht vielmehr nur dann, „wenn die angegriffene Maßnahme die Versammlungsfreiheit schwer beeinträchtigt, wenn die Gefahr der Wiederholung besteht oder wenn aus Gründen der Rehabilitierung ein rechtlich anerkanntes Interesse an der Klärung der Rechtswidrigkeit angenommen werden kann“ (VG Lüneburg, U.v. 22.5.2019 - 5 A 312/17 - juris Rn. 35 unter Verweis auf die Rechtsprechung des BVerfG; vgl. bereits auch BVerwG, U.v. 23.3.1999 - 1 C 12/97 - NVwZ 1999, 991 ff. = juris Rn. 13). Diese Voraussetzungen sind vorliegend zu verneinen.
29
Die Begrenzung der Teilnehmerzahl an der sich fortbewegenden Versammlung auf 300 Personen berührt die Wahrnehmbarkeit der Versammlung im öffentlichen Raum, stellt jedoch keine so schwerwiegende Beeinträchtigung dar, dass bereits daraus ohne weiteres ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse abzuleiten ist. Die Klägerin konnte mit der von ihr angezeigten sich fortbewegenden Versammlung auf ihr Anliegen aufmerksam machen, eine „gemeinschaftliche, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichtete Erörterung oder Kundgebung“ (BVerfG, B.v. 17.4.2020 - 1 BvQ 37/20 - NVwZ 2020, 711 Rn. 17) war ihr - wenn auch in einem von der Anzeige abweichenden begrenzterem Umfang - möglich. Insoweit ist vorliegend auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin bereits vor der Versammlung, aber nach der gerichtlichen Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, auf die Durchführung des Demonstrationszuges verzichtet hat. Eine durch die Entscheidung der Beklagten weiterwirkende Beeinträchtigung der Versammlungsfreiheit ist insoweit nicht erkennbar.
30
Da die Klägerin auch in der Folge der angezeigten Versammlung vom 27. Februar 2021 keine weiteren Versammlungen angezeigt hat und die Beklagte nach der gerichtlichen Entscheidung im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes für zukünftige Versammlungsanzeigen im Hinblick auf die Rechtslage keine weiteren ungeklärten Rechtsfragen sieht, ist auch das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr und ein Rehabilitationsinteresse zu verneinen. Hinzu kommt, dass mit den seit der Versammlungsanzeige für den 27. Februar 2021 erfolgten Änderungen der Infektionsschutzmaßnahmenverordnungen und den dadurch notwendigen Maßnahmen zum Infektionsschutz im Rahmen der Versammlung, vergleichbare Rechtsfragen wie im vorliegenden Klageverfahren sich in gleicher Weise kaum mehr stellen werden.
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2. Mangels Feststellungsinteresse der Klägerin war die Klage damit als unstatthaft abzuweisen. Die Klägerin trägt als unterlegener Teil nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens.
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Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.