Inhalt

LArbG München, Beschluss v. 10.08.2021 – 3 TaBV 31/21
Titel:

Einigungsstelle – keine offensichtliche Unzuständigkeit für den Regelungsgegenstand "Einführung einer technischen Arbeitszeiterfassung"

Normenketten:
ArbGG § 100 Abs. 1
BetrVG § 76 Abs. 1 S. 2, § 87 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 6, Nr. 7
Leitsätze:
1. Offensichtlich unzuständig ist die Einigungsstelle für ein erzwingbares Einigungsstellenverfahren, wenn offensichtlich das vom Antragsteller in Anspruch genommene Mitbestimmungsrecht nicht gegeben ist. Das ist der Fall, wenn bei fachkundiger Beurteilung durch das Gericht sofort erkennbar ist, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in der fraglichen Angelegenheit unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt in Frage kommt. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand "Einführung einer technische Arbeitszeiterfassung" ist nicht offensichtlich unzuständig iSd § 100 Abs. 1 S. 2 ArbGG. Es ist nicht offensichtlich, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 und Nr. 7 BetrVG nicht besteht. (Rn. 20 – 22) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Einigungsstelle, offensichtliche Unzuständigkeit, Mitbestimmung, Zeiterfassung
Vorinstanz:
ArbG München, Beschluss vom 29.03.2021 – 37 BV 39/21
Fundstellen:
AuR 2022, 188
BeckRS 2021, 28924
LSK 2021, 28924

Tenor

Die Beschwerde der Beteiligten zu 2) - 9) gegen den Beschluss des Arbeitsgerichts München vom 29.03.2021 - 37 BV 39/21 - wird zurückgewiesen.

Gründe

I.
1
Die Parteien streiten über die Einsetzung einer Einigungsstelle.
2
Der Antragsteller ist der Betriebsrat für den gemeinsamen Betrieb der Beteiligten zu 2) - 9), die zu einem Medienkonzern gehören und gemeinsam ca. 1.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen.
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Es besteht eine Betriebsvereinbarung über gleitende Arbeitszeit mit elektronischer Zeiterfassung vom 18.07.1997, die nur für die in der Anlage 9 aufgeführten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gilt (im Folgenden: BV Arbeitszeiterfassung 1997). Für alle anderen Bereiche, insbesondere die Beschäftigten der Redaktionen sowie die außertariflich beschäftigten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, gibt es keine Arbeitszeiterfassung.
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Nachdem die Arbeitgeberinnen gegenüber dem antragstellenden Betriebsrat erklärt haben, sich nicht verpflichtet zu sehen, eine Arbeitszeiterfassung für die nicht unter den Geltungsbereich der BV Arbeitszeit fallenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einzuführen, hat der Betriebsrat das hiesige Beschlussverfahren eingeleitet. Die Einigungsstelle sei nicht offensichtlich unzuständig, sondern gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 2, 3 und 7 BetrVG zuständig.
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Aus Art. 31 Abs. 2 GRCh folge eine unmittelbare arbeitgeberseitige Pflicht zur Einführung eines objektiven, verlässlichen und zugänglichen Systems zur Arbeitszeiterfassung.
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Der Betriebsrat hat erstinstanzlich beantragt,
1.
Als Vorsitzenden einer Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand, „Einführung einer Arbeitszeiterfassung für alle Beschäftigten des Vertretungsbereichs des Beteiligten zu 1), die nicht unter den Geltungsbereich der Betriebsvereinbarung über gleitende Arbeitszeit mit elektronischer Zeiterfassung vom 18.07.1997 fallen“, wird Herr Z., bestellt.
2.
Die Anzahl der Beisitzer, die vom Arbeitgeber und Betriebsrat bestellt werden, wird auf vier festgesetzt.
Für den Fall des Unterliegens:
3. Als Vorsitzenden einer Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand, „Einführung einer technischen Arbeitszeiterfassung für alle Beschäftigten des Vertretungsbereiches des Beteiligten zu 1), die nicht unter den Geltungsbereich der Betriebsvereinbarung über gleitenden Arbeitszeit mit elektronischer Zeiterfassung vom 18.07.1997 fallen“, wird Herr Z bestellt.
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Der Beteiligtenvertreter zu 2) - 9) hat erstinstanzlich beantragt,
die Anträge abzuweisen, und die Auffassung vertreten, für den beantragten Regelungsgegenstand sei die Einigungsstelle offensichtlich unzuständig. § 87 Abs. 1 BetrVG vermittle dem Betriebsrat kein primäres Initiativrecht zur Einführung einer (flächendeckenden) Arbeitszeiterfassung.
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Das Arbeitsgericht München hat durch Beschluss vom 29.03.2021 - 37 BV 39/21 - als Vorsitzenden einer Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand „Einführung einer Arbeitszeiterfassung für alle Beschäftigten des Vertretungsbereichs des Beteiligten zu 1), die nicht unter den Geltungsbereich der Betriebsvereinbarung über gleitende Arbeitszeit mit elektronischer Zeiterfassung vom 18.07.1997“ fallen, Herrn X bestellt und die Anzahl der Beisitzer auf drei pro Seite festgesetzt. Im Übrigen hat es den Antrag des Betriebsrats abgewiesen. Da eine Einigung zwischen dem Betriebsrat und der Arbeitgeberseite nicht zustande gekommen sei, sei die Einigungsstelle gemäß § 100 Abs. 1 Satz 2 ArbGG i.V.m. § 76 Abs. 1 Sätze 2 und 3 BetrVG einzusetzen. Die Einigungsstelle sei nicht offensichtlich unzuständig, weil gemäß § 87 Abs. 1 Ziff. 7 BetrVG der Betriebsrat in Angelegenheiten zur Regelung über den Gesundheitsschutz im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften mitzubestimmen habe. Die Arbeitszeiterfassung sei im Anschluss an die Entscheidung des EuGH vom 14.05.2019 - C-55/18 - eine Angelegenheit des Gesundheitsschutzes.
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Gegen diesen, ihrem Verfahrensbevollmächtigten am 14.04.2021 zugestellten Beschluss haben die Arbeitgeberinnen am 26.04.2021 Beschwerde beim Landesarbeitsgericht München eingelegt und diese nach Verlängerung der Beschwerdebegründungsfrist bis zum 05.07.2021 am 05.07.2021 begründet.
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Die Einigungsstelle sei sowohl für den im Hauptantrag als auch für den im Hilfsantrag genannten Regelungsgegenstand offensichtlich unzuständig. Bei fachkundiger Beurteilung lasse sich ein Initiativrecht des Betriebsrats für die Einführung einer technischen (elektronischen) oder nichttechnischen (manuellen) Arbeitszeiterfassung nicht aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG folgern. Die Richtlinien 2003/88EG und 89391/EG sowie Art. 31 Abs. 2 GRCh stellten keine Rahmenvorschriften im Sinne des § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG dar. Es fehle auch an einer feststehenden oder festzustellenden konkreten Gesundheitsgefährdung, der mit einer Erfassung der Arbeitszeiten begegnet werden könnte. Ein Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung einer elektronischen Zeiterfassung begründe sich nicht aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG, weil dieser Mitbestimmungstatbestand allein den Zweck habe, Arbeitnehmer vor Beeinträchtigungen durch technische Einrichtungen zu bewahren. Ein Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG bestehe schließlich nicht, weil eine elektronische Arbeitszeiterfassung allein dem Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG, der insoweit abschließend sei, unterliege, und die Pflicht zur manuellen Arbeitszeitdokumentation nicht dem betrieblichen Zusammenleben und -wirken der Arbeitnehmer diene.
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Die Arbeitgeberinnen beantragen,
den Beschluss des Arbeitsgerichts München vom 29.03.2021 (Az.: 37 BV 39/21) abzuändern und die Anträge des Beteiligten zu 1) abzuweisen.
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Der Betriebsrat beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
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Die Arbeitgeberinnen würden den rechtlichen Maßstab, nach dem eine Einigungsstelle gemäß § 100 ArbGG einzusetzen sei, verkennen. Die Einigungsstelle sei nur dann nicht einzusetzen, wenn sie offensichtlich unzuständig sei. Allein der in der Literatur geführte rechtliche Diskurs über das Bestehen eines Initiativrechts des Betriebsrats zur Einführung einer Arbeitszeiterfassung (Bors, NZA 2019, 1176; Ulber, NZA 2019, 677 und Richnow/Hördt, ArbRAktuell 2021, S. 8, 9 f.) führe dazu, dass eine offensichtliche Unzuständigkeit der Einigungsstelle nicht gegeben sei. Die Prüfung ihrer Zuständigkeit obliege bekanntermaßen der Einigungsstelle selbst. Aus diesen Gründen sei in der landesarbeitsgerichtlichen Rechtsprechung eine offensichtliche Unzuständigkeit der Einigungsstelle trotz der Rechtsprechung des BAG mit Beschluss vom 28.11.1989 - 1 ABR 97/88 - betreffend die Ablehnung eines Initiativrechts des Betriebsrats zur Einführung einer elektronischen Zeiterfassung gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG verneint worden.
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Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Schriftsatz der Arbeitgeberinnen vom 05.07.2021 (Bl. 107 - 111 d. A.) und des Betriebsrats vom 20.07.2021 (Bl. 117 - 120 d. A.) sowie auf das Protokoll der Anhörung vom 05.08.2021 Bezug genommen. II.
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Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
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1. Die nach § 100 Abs. 2 Satz 1 ArbGG statthafte Beschwerde ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 100 Abs. 2 Sätze 2 und 3, 87 Abs. 2, 66 Abs. 1 Satz 5 ArbGG i. V .m. §§ 519, 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO, und damit zulässig.
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2. Die Beschwerde ist jedoch unbegründet. Das Arbeitsgericht hat zu Recht und aus zutreffenden Erwägungen eine Einigungsstelle mit dem Regelungsgegenstand „Einführung einer Arbeitszeiterfassung für alle Beschäftigten des Vertretungsbereichs des Beteiligten zu 1), die nicht unter den Geltungsbereich der Betriebsvereinbarung über gleitende Arbeitszeit mit elektronischer Zeiterfassung vom 18.07.1997 fallen“, eingesetzt. Weder die Person des Vorsitzenden noch die Anzahl der Beisitzer sind im Beschwerdeverfahren zwischen den Beteiligten streitig.
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a) Nach § 100 Abs. 1 Satz 2 ArbGG können Anträge nach § 76 Abs. 1 Satz 2 und 3 BetrVG wegen fehlender Zuständigkeit der Einigungsstelle nur zurückgewiesen werden, wenn die Einigungsstelle offensichtlich unzuständig ist. Offensichtlich unzuständig ist die Einigungsstelle für ein erzwingbares Einigungsstellenverfahren, wenn offensichtlich das vom Antragsteller in Anspruch genommene Mitbestimmungsrecht nicht gegeben ist (vgl. BAG, Beschluss vom 06.12.1983 - 1 ABR 43/81 - unter B. I. der Gründe). Diese Voraussetzung liegt vor, wenn bei fachkundiger Beurteilung durch das Gericht sofort erkennbar ist, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in der fraglichen Angelegenheit unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt in Frage kommt (vgl. Schlewing in Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, 9. Aufl. 2017, § 100, Rn. 9; ErfK/Koch, 21. Aufl. 2021, § 100 Rn. 3, jeweils m.w.N.). Nur durch eine solch weitgehende Einschränkung der Zuständigkeitsprüfung, die das Bestellungsverfahren nicht mit der zeitraubenden Prüfung schwieriger Rechtsfragen belastet, ist gewährleistet, dass eine formal funktionsfähige Einigungsstelle schnell gebildet wird (vgl. BAG, Beschluss vom 24.11.1981 - 1 ABR 42/79 - unter B. 1. der Gründe).
19
Gibt es zu einer Rechtsfrage eine höchstrichterliche Rechtsprechung, nach der dem Betriebsrat kein Mitbestimmungsrecht zusteht, ist die Einigungsstelle „offensichtlich“ unzuständig, wenn diese Rechtsprechung als gefestigt angesehen werden kann und keine Anhaltspunkte für ein Abweichen erkennbar sind (vgl. Helml in Helml/Pessinger, ArbGG, 5. Aufl. 2021, § 100 Rn. 6; Ulrici in Boecken/Düwell/Diller/Hanau, Gesamtes Arbeitsrecht, 1. Aufl. 2016, § 100 Rn. 6). Eine offensichtliche Unzuständigkeit liegt auch dann nicht vor, wenn das Bestehen eines Mitbestimmungsrechts zu dem beantragten Verfahrensgegenstand umstritten ist und eine höchstrichterliche Entscheidung noch aussteht (vgl. Ulrici, a.a.O., m. w. N. in Fußnote 27).
20
b) Danach ist von einer offensichtlichen Unzuständigkeit der Einigungsstelle zu dem beantragten Regelungsgegenstand nicht auszugehen. Es ist nicht offensichtlich, dass ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Ziff. 6 und 7 BetrVG nicht besteht.
21
Soweit das Bundesarbeitsgericht entschieden hat, dass ein Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung einer elektronischen Zeiterfassung nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG nicht bestehe, weil es sich bei diesem Mitbestimmungsrecht um ein Abwehrrecht handele, liegt schon wegen der inzwischen eingetretenen anderen Besetzung des Senats keine gefestigte Rechtsprechung im Sinne des § 100 Abs. 1 Satz 2 ArbGG vor (vgl. insoweit Helml in Helml/Pessinger, ArbGG, a.a.O., § 100 Rn. 6). Im Übrigen besteht eine beachtliche Kritik an dieser Rechtsprechung (vgl. Kohte in Düwell, BetrVG, 5. Aufl. 2018, § 87 Rn. 20 und 72; DKKW-Klebe, BetrVG, 17. Aufl. 2020, § 87 Rn. 166; Byers, RdA 2014, 37) und durch den Beschluss des LAG Berlin-Brandenburg vom 22.01.2015 - 10 TaBV 1812/14 - Rn. 20 ff. eine abweichende Entscheidung, sodass ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG nicht mehr „sofort“ aus offensichtlichen Gründen verneint werden kann (in diesem Sinne bereits ArbG Offenbach, Beschluss vom 14.09.2015 - 2 BV 13/15). Auch vor dem Hintergrund der insoweit unterschiedlichen Beurteilung in dieser Frage durch die verschiedenen Landesarbeitsgerichte (vgl. a. A. etwa LAG Hessen, Beschluss vom 17.11.2015 - 4 TaBV 185/15 - Rn. 11 und LAG Niedersachsen, Beschluss vom 22.10.2013 - 1 TaBV 53/13- unter II 2) a) der Gründe) kann - von krassen Fehlentscheidungen abgesehen - keine Rede davon sein, bei fachkundiger Beurteilung durch das Gericht sei sofort erkennbar, dass kein mitbestimmungspflichtiger Tatbestand gegeben sei (vgl. LAG Nürnberg, Beschluss vom 21.09.1992 - 7 TaBV 29/92 -).
22
Darüber hinaus ist eine offensichtliche Unzuständigkeit im Hinblick auf das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG nicht anzunehmen. In der Literatur wird von prominenter Seite die Auffassung vertreten, dass die Einführung (technischer) Kontrolleinrichtungen zur Vermeidung von Gesundheitsschäden der Arbeitnehmer oder zur Vermeidung einer „Selbstausbeutung“ im Rahmen sog. Vertrauensarbeitszeit dem Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG unterliegen könnte (vgl. Fitting, 30. Aufl. 2020, § 87 Rn. 251; Brors, NZA 2019, 1176, 1179).
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c) Nach allem ist eine offensichtliche Unzuständigkeit der Einigungsstelle für den be antragten Regelungsgegenstand nicht anzunehmen (vgl. in diesem Sinne auch LAG Hamm, Beschluss vom 04.06.2019 - 7 TaBV 93/18 -; LAG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22.01.2015 - 10 TaBV 1812/14 -).
24
3. Eine Kostenentscheidung war nicht zu treffen, weil das Beschlussverfahren gerichtskostenfrei ist, § 2 Abs. 2 GKG i. V. m. § 2 a Abs. 1 Nr. 1 ArbGG.
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4. Ein Rechtsmittel findet nach § 100 Abs. 2 Satz 4 ArbGG nicht statt.