Titel:
Normenkontrollantrag bei außerkrafgetretenem Recht
Normenketten:
VwGO § 47
BayIfSMV § 2
Leitsätze:
1. Eine außerkraftgetretene Norm kann grundsätzlich nicht Gegenstand eines Normenkontrollantrags sein. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ist die Norm bei Stellung des Normenkontrollantrags bereits außer Kraft getreten, kommt eine anerkennenswerte Beschwer nur dann in Betracht, wenn die aufgehobene Rechtsvorschrift noch Rechtswirkungen zu äußern vermag, weil in der Vergangenheit liegende Sachverhalte noch nach dieser Rechtsvorschrift zu entscheiden sind. Es muss sich dann um einen Nachteil handeln, der unmittelbar durch die Anwendung oder den Vollzug der aufgehobenen Rechtsvorschrift eintritt. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Statthaftigkeit eines Normenkontrollantrags gegen eine bei Erhebung des Antrags bereits außer Kraft getretene Verordnung, außerkraftgetretenes Recht, Normenkontrollantrag, Statthaftigkeit, Verordnung, Beschwer
Fundstelle:
BeckRS 2021, 28906
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
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1. Mit ihrem erst nach Außerkrafttreten der angegriffenen Bestimmung gestellten Normenkontrollantrag nach § 47 VwGO begehrt die Antragstellerin, § 2 der Bayerischen Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen anlässlich der Corona-Pandemie (Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung - BayIfSMV; 2126-1-4-G, 2126-1-5-G, BayMBl. 2020 Nr. 158) vom 27. März 2020 für unwirksam zu erklären.
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2. Der Antragsgegner hat am 27. März 2020 durch das Staatsministerium für Gesundheit und Pflege die streitgegenständliche Verordnung erlassen, die auszugsweise folgenden Wortlaut hat:
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„§ 2 Betriebsuntersagungen
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(1) 1Untersagt ist der Betrieb sämtlicher Einrichtungen, die nicht notwendigen Verrichtungen des täglichen Lebens, sondern der Freizeitgestaltung dienen. 2Hierzu zählen insbesondere Sauna- und Badeanstalten, Kinos, Tagungs- und Veranstaltungsräume, Clubs, Bars und Diskotheken, Spielhallen, Theater, Vereinsräume, Bordellbetriebe, Museen, Stadtführungen, Sporthallen, Sport- und Spielplätze, Fitnessstudios, Bibliotheken, Wellnesszentren, Thermen, Tanzschulen, Tierparks, Vergnügungsstätten, Wettannahmestellen, Fort- und Weiterbildungsstätten, Volkshochschulen, Musikschulen und Jugendhäuser, Jugendherbergen und Schullandheime. 3Untersagt werden ferner Reisebusreisen.
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(2) 1Untersagt sind Gastronomiebetriebe jeder Art. 2Dies gilt auch für Gaststätten und Gaststättenbereiche im Freien (z. B. Biergärten, Terrassen). 3Ausgenommen ist die Abgabe und Lieferung von mitnahmefähigen Speisen. 4Die zuständigen Kreisverwaltungsbehörden können auf Antrag Ausnahmegenehmigungen für Betriebskantinen erteilen, soweit dies
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1. im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar und zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs zwingend erforderlich ist, und
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2. sichergestellt ist, dass der Abstand zwischen den Gästen mindestens 1,5 m beträgt und sich in den Räumen zu keinem Zeitpunkt mehr als 30 Personen gleichzeitig aufhalten.
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(3) 1Untersagt ist der Betrieb von Hotels und Beherbergungsbetrieben und die Zurverfügungstellung jeglicher Unterkünfte zu privaten touristischen Zwecken. 2Hiervon ausgenommen sind Hotels, Beherbergungsbetriebe und Unterkünfte jeglicher Art, die ausschließlich Geschäftsreisende und Gäste für nicht private touristische Zwecke aufnehmen.
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(4) 1Untersagt ist die Öffnung von Ladengeschäften des Einzelhandels jeder Art. 2Hiervon ausgenommen sind der Lebensmittelhandel, Getränkemärkte, Banken, Apotheken, Drogerien, Sanitätshäuser, Optiker, Hörgeräteakustiker, Filialen der ... AG, Tierbedarf, Tankstellen, Reinigungen und der Online-Handel. 3Die zuständigen Kreisverwaltungsbehörden können auf Antrag Ausnahmegenehmigungen für andere, für die Versorgung der Bevölkerung unbedingt notwendige Geschäfte erteilen, soweit dies im Einzelfall aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist. 4Die Öffnung von Einkaufszentren und Kaufhäusern ist nur erlaubt, soweit die in Satz 2 genannten Ausnahmen betroffen sind.
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(5) 1In Dienstleistungsbetrieben muss unbeschadet sonstiger Vorschriften ein Mindestabstand von 1,5 m zwischen den Kunden eingehalten werden. 2Auch bei Einhaltung dieses Abstands dürfen sich nicht mehr als 10 Personen im Wartebereich aufhalten.“
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Die BayIfSMV ist mit Ablauf des 19. April 2020 außer Kraft getreten (§ 7 Abs. 1 Satz 1 BayIfSMV).
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3. Die Antragstellerin, die in Bayern ein Einzelhandelsgeschäft für Mode und Inneneinrichtungen betreibt, beantragt,
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Festzustellen, dass die Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 27. März 2020 unwirksam war, soweit sie in § 2 den Betrieb und die Öffnung von Ladengeschäften des Einzelhandels jeder Art untersagte.
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Sie trägt zur Begründung ihres Antrages im Wesentlichen vor, der Normenkontrollantrag sei zulässig. Durch die angegriffene Norm sei der Antragstellerin der Betrieb ihres Geschäftes untersagt worden. Dem Normenkontrollverfahren stehe nicht entgegen, dass die angegriffene Norm nicht mehr in Kraft sei, sondern zwischenzeitlich durch die Zweite Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung ersetzt worden sei. Nach dem Rechtsgedanken des Art. 19 Abs. 4 GG sei auch ein Normenkontrollantrag gegen eine außer Kraft getretene Vorschrift möglich. Entsprechend der Grundsätze zur Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO bedürfe es daher auch der Anerkennung eines Normenkontrollantrags gegen eine außer Kraft getretene Rechtsvorschrift. Dies müsse insbesondere dann gelten, wenn die Antragstellerin ein berechtigtes Interesse geltend machen könne. Dies sei im Falle der Antragstellerin gegeben, weil sie Staatshaftungsansprüche geltend machen werde sowie eine konkrete Wiederholungsgefahr bestehe. Aufgrund der massiven Grundrechtseingriffe müsse die Antragstellerin, welche während der Geltungsdauer der BayIfSMV keine Rechtsmittel habe erheben wollen, die Möglichkeit haben, nachträglich die Rechtswidrigkeit der Norm festzustellen. Auch das Bundesverwaltungsgericht gehe in seiner neueren Rechtsprechung davon aus, dass ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit ausreiche. Außerdem folgten die Staatshaftungsansprüche aus einer Zeit, zu der die außer Kraft getretene Norm Geltung beansprucht habe.
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4. Der Antragsgegner tritt dem Eilantrag entgegen und beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Der Antrag sei schon unstatthaft, weil von der Norm keine nachteiligen Rechtswirkungen mehr ausgingen.
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5. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen. Hinsichtlich des Verlaufs der mündlichen Verhandlung wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
Entscheidungsgründe
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1. Der Antrag ist unzulässig, weil bei Erhebung des Normenkotrollantrags die angegriffene Norm bereits außer Kraft getreten war.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entzieht das Außerkrafttreten der zur Prüfung gestellten Norm dem Normenkontrollantrag grundsätzlich seinen Gegenstand. § 47 Abs. 1 VwGO geht von dem Regelfall einer noch gültigen Norm als Gegenstand des Normenkontrollantrags aus. Ein Normenkontrollantrag kann allerdings auch trotz Außerkrafttretens der angegriffenen Rechtsnorm zulässig bleiben, wenn in der Vergangenheit liegende Sachverhalte noch nach ihr zu entscheiden sind oder wenn während des Normenkontrollverfahrens eine auf kurzfristige Geltung angelegte Norm etwa wegen Zeitablaufs außer Kraft getreten ist. Das Außerkrafttreten der Norm allein lässt den zulässig gestellten Normenkontrollantrag nicht ohne weiteres zu einem unzulässigen Antrag werden, wenn die Voraussetzung der Zulässigkeit nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO fortbesteht, nämlich, dass der Antragsteller durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung einen Nachteil erlitten hat (BVerwG, U.v. 29.6.2001 - 6 CN 1.01 - juris Rn. 10).
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Ist die Norm jedoch bei Stellung des Normenkontrollantrags bereits außer Kraft getreten, kommt eine nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO anerkennenswerte Beschwer nur dann in Betracht, wenn die aufgehobene Rechtsvorschrift noch Rechtswirkungen zu äußern vermag, weil in der Vergangenheit liegende Sachverhalte noch nach dieser Rechtsvorschrift zu entscheiden sind. Es muss sich aber dann um einen Nachteil handeln, der unmittelbar durch die Anwendung oder den Vollzug der aufgehobenen Rechtsvorschrift eintritt. Sonstige durch die Rechtsvorschrift verursachte Nachteile, die nicht durch deren Anwendung im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO eintreten, müssen außer Betracht bleiben (BVerwG, B.v. 14.7.1978 - 7 N 1.78 - BVerwGE 56, 172 = juris Rn. 11; B.v. 25.2.1993 - 4 NB 18/92 - juris Rn. 9; vgl. auch Ziekow in NK-VwGO, 5. Aufl. 2018, § 47 Rn. 72 m.w.N.). Ein solcher Nachteil, der der Antragstellerin durch die Anwendung der bei Antragstellung bereits außer Kraft getretenen Bestimmung entstehen könnte, ist jedoch nicht erkennbar. Aus § 2 BayIfSMV ergeben sich seit dem 20. April 2020 keine unmittelbaren Rechtsfolgen mehr. Die Regelungswirkung des § 2 BayIfSMV bestand allein in der Untersagung des Betriebs verschiedener Einrichtungen und Unternehmen für die Dauer der Geltungszeit und ist mit Außerkrafttreten der angegriffenen Verordnung mit Ablauf des 19. April 2020 vollständig entfallen. Dass im direkten Anschluss daran mit Wirkung zum 20. April 2020 eine - teilweise inhaltsgleiche - Norm in Kraft getreten ist (vgl. § 2 2. BayIfSMV vom 16.4.2020, GVBl. 2020 S. 214), die die belastenden Rechtswirkungen aufrecht erhalten hat, ändert hieran nichts. Die unmittelbare Ersetzung der angegriffenen Norm durch eine andere belegt vielmehr, dass eine Fortdauer der Regelungswirkung des § 2 BayIfSMV über den 19. April 2020 hinaus nicht - auch nicht für einen Übergangszeitraum - in Betracht kommt.
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Von diesem - die Statthaftigkeit des Antrags betreffenden - Gesichtspunkt zu unterscheiden ist die weiterführende Frage, ob ein Interesse an der nachträglichen Feststellung der Ungültigkeit bestehen kann, wenn die streitige Rechtsverordnung während eines anhängigen Normenkontrollverfahrens außer Kraft getreten ist (vgl. BVerwG, B.v. 2.9.1983 - 4 N 1.83 - BVerwGE 68, 12; B.v. 14.6.2018 - 3 BN 1.17 - juris; BVerfG, B. v. 15.7.2020 - 1 BvR 1630/20 - juris Rn 9). Das ist hier jedoch gerade nicht der Fall, da die Antragstellerin ihren Antrag erst zu einem Zeitpunkt gestellt hat, als die angegriffene Norm bereits seit 23 Tagen nicht mehr in Kraft war. Deshalb vermag die Geltendmachung von Staatshaftungsansprüchen und eine Wiederholungsgefahr einen solchen Nachteil nach dem Außerkrafttreten der streitigen Norm nicht zu begründen. Der streitgegenständliche Normenkontrollantrag ist unstatthaft und damit unzulässig.
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Gegenstandswertes ergibt sich aus § 52 Abs. 1 GKG.
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3. Die Revision wird nicht zugelassen, weil die Frage, ob außer Kraft getretene Normen Gegenstand einer Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 VwGO sein können, in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt ist.