Titel:
Verfahrensfehler bei Feststellung eines Täuschungsversuchs
Normenketten:
BayRaPO § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 5, Abs. 4 S. 1, § 6 Abs. 1
BayVwVfG Art. 45 Abs. 1 Nr. 4
Leitsätze:
1. Die Eilzuständigkeit des Vorsitzenden der Prüfungskommission stellt eine Ausnahme zur Regelzuständigkeit der Prüfungskommission dar. Die Vorschrift des § 3 Abs. 4 S. 1 BayRaPO ist daher grundsätzlich restriktiv zu handhaben. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Wenn ein Ausschuss selbst für den Erlass eines Verwaltungsakts zuständig ist und eine unzuständige Stelle an seiner Stelle gehandelt hat, liegt keine "Mitwirkung" iSd Art. 45 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG vor. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Prüfungsrecht, Täuschungsversuch, Smartphone am Platz, Zuständigkeit der Prüfungskommission, Prüfung, Prüfungskommission, Eilentscheidung, unaufschiebbare Angelegenheit, Heilung, Ausschuss
Fundstelle:
BeckRS 2021, 27729
Tenor
I. Der Bescheid der Beklagten vom 20. August 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids der Beklagten vom 16. Februar 2021 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Die Hinzuziehung des Bevollmächtigten im Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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I. Die Klägerin wendet sich gegen einen Bescheid, mit dem ihre Prüfung „Quantitative Methoden“ im Sommersemester 2020 wegen eines Täuschungsversuchs als „nicht ausreichend“ bewertet wurde.
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Die Klägerin ist seit dem Wintersemester 2019/2020 an der beklagten Hochschule im Bachelorstudiengang Betriebswirtschaft und Recht immatrikuliert. Am 20. Juli 2020 nahm sie an der schriftlichen Prüfung „Quantitative Methoden“ teil. Diese bestand aus zwei Prüfungsteilen. Laut Prüfungsprotokoll lag während der Prüfung das Smartphone der Klägerin „am Platz“. Im ersten Prüfungsteil erreichte die Klägerin nach Korrektur durch den Erstprüfer eine Gesamtpunktzahl von 28 Punkten, im zweiten Prüfungsteil nach Korrektur durch die Erstprüferin eine Gesamtpunktzahl von 14 Punkten. Dieses Ergebnis ist der Klägerin nicht bekanntgegeben worden.
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Mit Email vom 14. August 2020 übersandte das Studienbüro der Beklagten dem Vorsitzenden der Prüfungskommission des Studiengangs Betriebswirtschaft und Recht, Professor Dr. G., das Prüfungsprotokoll mit der Bitte um Entscheidung, „ggf. wegen Täuschungsversuch“. Ein weiteres Mitglied der Prüfungskommission, Professor Dr. F., erhielt diese Mail in Cc.
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Mit Email vom selben Tag antwortete Professor Dr. G., dass das Smartphone auf dem Tisch einen Täuschungsversuch darstelle, zumal nicht ausgeschlossen werden könne, dass die Studentin dieses verwendet habe; „daher Note 5,0“.
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Mit Bescheid vom 20. August 2020 - ein Zustelldatum lässt sich der Akte nicht entnehmen - teilte das Studienbüro der Beklagten der Klägerin mit, dass die Prüfungskommission des Studiengangs Betriebswirtschaft und Recht „am 14.10.2020“ für die Prüfung „Quantitative Methoden“ aus dem Sommersemester 2020 die Note „nicht ausreichend“ wegen eines Täuschungsversuchs festgestellt habe. Das Smartphone auf dem Tisch liegend sei als Täuschungsversuch zu werten. Ein Täuschungsversuch werde gem. § 6 Abs. 1 RaPO für die Fachhochschulen mit der Note „nicht ausreichend“ bewertet. Die Freiversuchsregelung gemäß § 3 der Satzung über studien- und prüfungsrechtliche Sonderregelungen im Sommersemester 2020 und im Wintersemester 2020/2021 der Technischen Hochschule Aschaffenburg finde in diesem Fall keine Anwendung, da § 6 Abs. 1 RaPO hierarchisch über dieser Sonderregelung stehe, die im Übrigen nicht für den Fall eines Täuschungsversuchs getroffen worden sei. Die Prüfungsleistung sei somit abgelegt und mit „nicht bestanden“ bewertet.
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Mit Schreiben ihrer Prozessbevollmächtigten vom 10. September 2020, bei der Beklagten eingegangen am 15. September 2020, ließ die Klägerin gegen den Bescheid Widerspruch einlegen.
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Zur Begründung ließ sie vortragen, dass die Entscheidung bereits an einem formellen Fehler leide. Sie sei nicht in dem dafür vorgesehenen Verfahren getroffen worden, weil nicht die hierfür zuständige Prüfungskommission entschieden habe. Die Prüfungskommission bestehe aus den Professoren G., F. und B.; angemailt worden seien lediglich die Professoren G. und F., geantwortet habe nur Professor G. Es habe kein unaufschiebbarer Fall vorgelegen, welcher einer Entscheidung des Gremiums im Wege gestanden sei. Im Übrigen sei das Smartphone der Klägerin von dieser während der Prüfung nicht benutzt worden und von ihr auch nicht mitgebracht und auf den Tisch gelegt worden, um damit einen Unterschleif zu begehen. Vor der Prüfung habe die Klägerin ihr Smartphone ausgeschaltet und es offen sichtbar am Rand des Tisches abgelegt. Bei Austeilung der Klausur sei das Smartphone nicht beanstandet worden. Während einer ersten Kontrolle habe der aufsichtsführende Professor S. das auf dem Tisch liegende Smartphone bemerkt. Dieses sei ausgeschaltet gewesen. Durch doppeltes Tippen auf den Bildschirm habe die Klägerin dem Professor demonstriert, dass das Gerät heruntergefahren gewesen sei. Der Professor habe die Klägerin gebeten, das Smartphone wegzupacken. Dieser Bitte sei die Klägerin nachgekommen. Dieser Sachverhalt rechtfertige die getroffene Maßnahme auch in materieller Hinsicht nicht. Es könne von einer Täuschung nicht die Rede sein. Der Täuschende werde doch in jedem Fall sein Vorhaben nicht öffentlich machen wollen. Er werde also, wenn er denn tatsächlich mit einem Smartphone einen Unterschleif begehen wolle, dieses verbergen und nicht offen auf den Tisch legen, sodass es jeder Aufsichtsperson ins Auge stechen müsse. Hinzu komme, dass das Smartphone ausgeschaltet gewesen sei und erst hätte hochgefahren werden müssen, um es benutzen zu können. Bei Ausübung einer solchen Tätigkeit sei man in Gefahr, die Aufmerksamkeit der Aufsicht auf sich zu ziehen. Die Klägerin habe nicht versucht, durch Täuschung Vorteile zu erlangen, sondern habe vom Prüfungsstress beeinflusst und ohne jegliche Hintergedanken ganz einfach vergessen, ihr Smartphone wegzupacken.
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Am 28. September 2020 erließ die Beklagte einen wortgleichen Bescheid, in dem lediglich in der ersten Zeile das Datum „14.10.2020“ durch das Datum „14.08.2020“ ersetzt worden ist. Gegen diesen Bescheid ist kein Widerspruch eingelegt worden.
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Am 27. Oktober 2020 beschäftigte sich der Prüfungsausschuss der Beklagten mit dem Widerspruch der Klägerin. Laut Ergebnisniederschrift ist der Prüfungsausschuss der Auffassung, dass ein Smartphone ein unzulässiges Hilfsmittel darstelle, da der Hilfsmittelplan den Einsatz eines Smartphones zu Prüfungszwecken nicht erlaube. Ob das Smartphone tatsächlich zum Einsatz gekommen sei, spiele keine Rolle. Der Anscheinsbeweis für einen Täuschungsversuch sei ausreichend. Der Vorsitzende bitte die Prüfungskommission, sich mit der Eilentscheidung des Prüfungskommissionsvorsitzenden zu befassen.
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Daraufhin befasste sich die Prüfungskommission mit ihren Mitgliedern Professor Dr. G., Professor Dr. B. und Professor Dr. F. in ihrer Sitzung vom 17. November 2020 mit der Entscheidung des Prüfungskommissionsvorsitzenden vom 14. August 2020, dass ein Täuschungsversuch vorgelegen habe und der Klägerin die Note 5 zu erteilen gewesen sei. Mit einstimmigen Beschluss stellte die Prüfungskommission einen Täuschungsversuch fest.
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II. Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 21. Januar 2021, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg eingegangen am 25. Januar 2021, ließ die Klägerin gegen den Bescheid vom 20. August 2020 Untätigkeitsklage erheben. Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, dass die Voraussetzungen von § 75 VwGO vorliegen würden. Seit Einlegung des Widerspruchs seien mehr als vier Monate vergangen. Ein Grund dafür, dass über den Widerspruch nicht entschieden werden konnte, sei nicht ersichtlich. Im Übrigen wurden die Ausführungen im Widerspruchsverfahren zum Gegenstand der Klagebegründung gemacht.
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Mit Widerspruchsbescheid vom 16. Februar 2021 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Der Widerspruch sei zulässig, aber unbegründet. Die Einwände bezüglich der Feststellung des Täuschungsversuchs und der Bewertung der Prüfung mit „nicht bestanden“ durch die Prüfungskommission seien zurückzuweisen. Herr Professor Dr. G. habe am 14. August 2020 einen Eilentscheid getroffen, bei dem er den Täuschungsversuch festgestellt habe. Nach Aufforderung durch den Prüfungsausschuss habe die Prüfungskommission diesen Eilentscheid mit Beschluss vom 17. November 2020 bestätigt. Es könne also dahingestellt bleiben, ob die Notenfeststellung zunächst an einem Formfehler gelitten habe, da ein etwaiger Formfehler jedenfalls durch den Entscheid der Prüfungskommission geheilt worden wäre. Der Vortrag, das Smartphone sei nicht in Täuschungsabsicht auf den Tisch gelegt und auch nicht benutzt worden, verfange nicht. Ein Smartphone stelle ein unzulässiges Hilfsmittel dar, da der Hilfsmittelplan den Einsatz eines Smartphones zu Prüfungszwecken nicht erlaube. Ob das Smartphone tatsächlich zum Einsatz gekommen sei, spiele keine Rolle.
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Die Klägerin beantragt zuletzt,
Der Bescheid der Beklagten vom 20. August 2020 und ihr Widerspruchsbescheid vom 16. Februar 2021 werden aufgehoben.
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Die Beklagte beantragt,
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf den Widerspruchsbescheid verwiesen.
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Mit Schriftsätzen vom 24. Februar 2021 und 6. April 2021 ließ die Klägerin ihr bisheriges Vorbringen vertiefen.
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Mit Schriftsatz vom 9. April 2021 teilte die Beklagte mit, dass die streitgegenständliche Klausur korrigiert worden und mit deutlichem Abstand nicht bestanden sei. Das Ergebnis der Erstsowie Zweitkorrektur sei eine 5.
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Mit Schriftsatz vom 11. Mai 2021 ließ die Beklagte ergänzend ausführen, dass entgegen der Ausführungen der Klägerin das Verfahren zur Feststellung der Täuschungshandlung nicht zu beanstanden sei. Gemäß § 3 Abs. 4 Satz 1 RaPO habe Professor Dr. G. als Vorsitzender der Prüfungskommission über das Nichtbestehen der schriftlichen Prüfung wegen Täuschungshandlung entscheiden dürfen. Eine Eilentscheidung am 14. August 2020 sei erforderlich gewesen, da erst im Wintersemester 2020/2021 die nächste reguläre Sitzung der Prüfungskommission terminiert gewesen sei. Die Noten der Prüfungen im Sommersemester hätten jedoch bis zum Ende des Sommersemesters festgesetzt werden müssen. Damit habe eine unaufschiebbare Angelegenheit vorgelegen, eine Entscheidung in der vorlesungsfreien und sitzungsfreien Zeit durch den Vorsitzenden sei unumgänglich gewesen. Da eine Täuschungshandlung keine coronabedingte Folge sei, greife auch § 3 Abs. 1 der Satzung über studien- und prüfungsrechtliche Sonderreglungen im Sommersemester 2020 und im Wintersemester 2020/2021 der Technischen Hochschule Aschaffenburg nicht. Im Übrigen seien etwaige Verfahrensverstöße gemäß Art. 45 Abs. 1 Nrn. 3 und 2 VwVfG geheilt. Im Übrigen stelle das auf dem Tisch liegende Handy ein nicht zugelassenes Hilfsmittel dar. Gemäß den Hinweisen zum Prüfungsablauf für Studierende vom 12. November 2019 ergäben sich die zugelassenen Hilfsmittel aus dem Hilfsmittelplan, der mit dem Prüfungsplan veröffentlicht werde. Die zugelassenen Hilfsmittel seien eindeutig auf dem Prüfungsdeckblatt der schriftlichen Prüfung „Quantitative Methoden“ angegeben. Ein Mobiltelefon sei nicht gelistet gewesen. Damit dürfe es bereits nicht auf dem Tisch liegen. Dabei spiele es auch keine Rolle, dass das Smartphone beim Aufgreifen während der Klausur wohl ausgeschaltet war. Zum einen könne es mit einem einhändigen Griff in kürzester Zeit ein- und ausgeschaltet werden, zum anderen heiße es in den Prüfungshinweisen insbesondere, dass die Nutzung von Mobiltelefonen und anderen internetfähigen Geräten wegen der damit verbundenen möglichen Störung und Täuschungshandlung nicht erlaubt sei. Zuletzt werde darauf hingewiesen, dass es der Klägerin unbenommen sei, sich zur Wiederholungsprüfung im Sommersemester 2021 anzumelden und diese Prüfung zu absolvieren.
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Mit weiterem Schriftsatz vom 20. Mai 2021 ließ die Beklagte mitteilen, dass die Prüfungskommission nicht die Bewertung „nicht ausreichend“ wegen Nichterreichen der Mindestpunktzahl feststellen werde angesichts der Sonderregelung des § 3 Abs. 1 Satz 1 der Satzung über studien- und prüfungsrechtliche Sonderregelungen. Das Nichtbestehen könne daher allein auf den Täuschungsversuch gestützt werden.
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Für die weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte mit dem Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 21. Juli 2021 sowie auf die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg. Der Bescheid vom 20. August 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Februar 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Der Zulässigkeit der Klage steht nicht entgegen, dass gegen den weiteren, inhaltlich wortgleichen Bescheid vom 28. September 2020 kein Widerspruch eingelegt worden ist. Mit diesem Bescheid ist lediglich eine Datumsangabe korrigiert worden. Er enthält keine eigenständige Regelung und stellt nur eine wiederholende Verfügung dar.
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Der Klage fehlt auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis. Die Beklagte teilte zwar mit, dass die Prüfungsarbeit der Klägerin auch in der Sache korrigiert und aus materiellen Gründen als nicht bestanden bewertet worden sei. Allerdings übersieht sie hierbei, dass die Arbeit in ihren beiden Teilen jeweils nur von einem Prüfer bewertet worden ist. Nach § 7 Abs. 3 RaPO sind schriftliche Prüfungsleistungen, die als nicht bestanden bewertet werden sollen, jedoch von zwei Prüfenden zu bewerten. Die vorgenommene Bewertung genügt somit (noch) nicht den Anforderungen der Prüfungsordnung und die endgültige inhaltliche Bewertung steht (noch) nicht fest. Hinzu kommt, dass nach § 3 der Satzung über studien- und prüfungsrechtliche Sonderregelungen im Sommersemester 2020 und im Wintersemester 2020/2021 der Technischen Hochschule Aschaffenburg vom 24. April 2020 eine im Sommersemester 2020 nicht bestandene endnotenbildende Modulprüfung oder Modulteilprüfung als nicht abgelegt gilt. Selbst wenn in formell nicht zu beanstandender Weise die Arbeit der Klägerin korrigiert worden wäre und daraus eine Bewertung als nicht bestanden resultieren würde, so würde die Prüfung nach der Sonderregelung als nicht abgelegt gelten. Vor diesem Hintergrund liegt in dem Bescheid unabhängig von dem „Makel“ einer aufgrund Verstoßes gegen Prüfungsvorschriften nicht bestandenen Prüfung eine eigenständige Beschwer, welche unproblematisch ein Rechtsschutzbedürfnis entstehen lässt. Ob diese Sonderregelung dabei tatsächlich nicht auf Prüfungsarbeiten anzuwenden ist, bei denen das Nichtbestehen auf einer angenommenen Täuschung beruht, ist eine Frage der Begründetheit.
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2. Rechtsgrundlage für den streitgegenständlichen Bescheid ist § 6 Abs. 1 der Rahmenprüfungsordnung für die Fachhochschulen (RaPO) vom 17. Oktober 2001 (GVBl. S. 686, BayRS 2210-4-1-4-1-WK), zuletzt geänd. d.V. v. 10. Mai 2021 (GVBl. S. 305). Danach werden mit der Note „nicht ausreichend“ Prüfungsleistungen Studierender bewertet, die bei Abnahme der Prüfung eine Täuschungshandlung versucht oder begangen oder durch schuldhaftes Verhalten einen ordnungsgemäßen Ablauf der Prüfung unmöglich gemacht haben. Zwar hat die Klägerin während der Prüfung am 20. Juli 2020 möglicherweise eine Täuschungshandlung im Sinne von § 6 RaPO begangen, indem sie ein Smartphone auf dem Tisch liegen hatte. Die Entscheidung über die Folge dieses Verstoßes wurde jedoch unter Verstoß gegen Verfahrensvorschriften getroffen. Zudem scheitert der Erlass eines Bescheides, mit dem eine Prüfung als „nicht bestanden“ gewertet wird, an der coronabedingten Sonderregelung für das Sommersemester 2020.
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2.1 Der Bescheid ist bereits in formeller Hinsicht rechtswidrig. Denn entgegen § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 RaPO hat nicht die zuständige Prüfungskommission über die Folgen des Verstoßes entschieden.
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Das Studienbüro hat mit Email vom 20. August 2020 nicht die gesamte Prüfungskommission über den Vorfall unterrichtet und um eine Entscheidung gebeten, sondern lediglich den Vorsitzenden der Prüfungskommission. Dieser hat keinen Kontakt zu den übrigen Mitgliedern der Prüfungskommission aufgenommen, sondern noch am selben Abend seine Entscheidung, die Prüfung der Klägerin als nicht bestanden zu werten, dem Studienbüro mitgeteilt. Damit hat er offensichtlich gegen die Zuständigkeitsregelungen der RaPO verstoßen. Eine Entscheidung allein des Vorsitzenden ist nach § 3 Abs. 4 Satz 1 RaPO nur statthaft in unaufschiebbaren Angelegenheiten. Die Voraussetzungen für eine solche Eilzuständigkeit lagen hier ersichtlich nicht vor.
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Die Vorschrift des § 3 Abs. 4 Satz 1 RaPO ist grundsätzlich restriktiv zu handhaben, da die Eilzuständigkeit des Vorsitzenden in einem Ausnahmeverhältnis zur Regelzuständigkeit der Prüfungskommission steht. Anhaltspunkte für eine besondere Dringlichkeit oder Unerreichbarkeit der übrigen Mitglieder der Prüfungskommission sind nicht erkennbar und werden seitens der Beklagten auch nicht substantiiert behauptet. Gegen eine besondere Dringlichkeit spricht bereits der Umstand, dass das Studienbüro erst mehr als drei Wochen nach der Prüfung dem Vorsitzenden den Sachverhalt mitteilte und um eine Entscheidung bat. Diese späte Information ist vor dem Hintergrund des von der Beklagten selbst festgelegten Terminplans für die Abgabe der Prüfungsergebnisse (6. August 2020) und des Termins für die Sitzung der Prüfungskommissionen (7. August 2020; die tatsächliche Sitzung fand am 10. August 2020 statt) nicht nachvollziehbar und zeigt, dass die Beklagte selbst das Thema nicht als dringlich betrachtet hat.
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Dass nunmehr die nächste reguläre Sitzung der Prüfungskommission erst im Herbst stattfinden sollte, führt ebenfalls nicht zu einer unaufschiebbaren Angelegenheit. Es ist nicht ersichtlich, dass nicht auch außerhalb des regulären Terminplans eine Sitzung hätte einberufen werden können, zumal die Sitzungen am 10. August 2020 und 17. November 2020 jeweils als Videokonferenzen abgehalten wurden, welche relativ flexibel stattfinden können. Die auf Geheiß des Prüfungsausschusses am 17. November 2020 abgehaltene Sitzung dauerte laut Protokoll lediglich 10 Minuten. Die Beklagte trägt nichts dafür vor, weshalb eine solche kurze Videokonferenz nicht auch zeitgerecht im Juli oder August hätte stattfinden können. Vielmehr hat der Vorsitzende es offensichtlich nicht einmal versucht, die übrigen Mitglieder der Prüfungskommission zu erreichen. Mithin fehlen jegliche konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Prüfungskommission in der für eine reguläre Beschlussfassung erforderlichen Besetzung nicht selbst kurzfristig eine Entscheidung über die Folgen des Verstoßes hätte treffen können.
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Dieser Fehler führt zur Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids. Entgegen der Auffassung der Beklagten konnte der Fehler nicht durch die Entscheidung der Prüfungskommission am 17. November 2020 geheilt werden.
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In Betracht käme allenfalls eine Heilung nach Art. 45 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG. Danach ist eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die nicht den Verwaltungsakt nach Art. 44 nichtig macht, unbeachtlich, wenn der Beschluss eines Ausschusses, dessen Mitwirkung für den Erlass des Verwaltungsakts erforderlich ist, nachträglich gefasst wird. Diese Voraussetzungen liegen hier aber nicht vor. Zwar stellt die Prüfungskommission einen „Ausschuss“ im Sinne dieser Vorschrift dar, weil sie eine kollegiale Einrichtung ist, die aus mindestens drei Personen besteht und deren Willensbildung dem Mehrheitsprinzip folgt (vgl. Schoch/Schneider, VwVfG, Stand Juli 2020, § 45 Rn. 98). Allerdings ging es hier nicht um die „Mitwirkung“ der Prüfungskommission an der Entscheidung eines anderen Organs, sondern darum, dass die originär für die Entscheidung zuständige Prüfungskommission als solche nicht entschieden hat. In einem solchen Fall, wenn also der Ausschuss selbst für den Erlass des Verwaltungsakts zuständig ist und eine unzuständige Stelle an seiner Stelle gehandelt hat, liegt keine Mitwirkung im Sinne von Art. 45 Abs. 1 Nr. 4 BayVwVfG vor, zumal Art. 45 BayVwVfG auf Zuständigkeitsmängel nicht anwendbar ist (vgl. Schoch/Schneider, VwVfG, Stand Juli 2020, § 45 Rn. 99; VG Hamburg, U. v. 27.10.2008 - 15 K 1352/07 - juris Rn. 28ff. m.w.N.). Somit scheidet eine Heilung des Fehlers aus.
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Der Beschluss der Prüfungskommission vom 17. November 2020 trägt den streitgegenständlichen Bescheid auch nicht als erstmalige Entscheidung des zuständigen Gremiums. Zum einen ging es in der Sitzung (nur) darum, sich mit der Eilentscheidung des Vorsitzenden zu befassen, und nicht darum, erstmals eine eigenständige Entscheidung zu treffen. Daher erscheint zweifelhaft, ob sich insbesondere die übrigen Kommissionsmitglieder überhaupt in einer echten Entscheidungssituation befunden haben. Zum anderen war zu diesem Zeitpunkt bereits die seitens der Beklagten selbst aufgestellte Frist zur Feststellung und Bekanntgabe der Prüfungsergebnisse im Sommersemester abgelaufen.
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2.2 Da der streitgegenständliche Bescheid somit bereits aus formellen Gründen aufzuheben war, kann dahingestellt bleiben, ob die materiellen Voraussetzungen, insbesondere das Vorliegen einer Täuschungshandlung durch das Liegenlassen des Smartphones auf dem Tisch, erfüllt sind. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, dass selbst bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen eine Bewertung als „nicht bestanden“ im Sommersemester 2020 nicht ergehen konnte. Denn nach § 3 der Satzung über studien- und prüfungsrechtliche Sonderregelungen im Sommersemester 2020 und im Wintersemester 2020/2021 der Technischen Hochschule Aschaffenburg vom 24. April 2020 gilt eine im Sommersemester 2020 nicht bestandene endnotenbildende Modulprüfung oder Modulteilprüfung als nicht abgelegt (freier Prüfungsversuch). Laut Beklagter soll diese Regelung nicht für Fälle gelten, in denen das Nichtbestehen auf einem Verstoß gegen Prüfungsvorschriften beruht. Für eine solche Auslegung lässt der Wortlaut der Vorschrift allerdings keinen Raum. Dieser ist eindeutig und nimmt keine Differenzierung nach den Gründen des Nichtbestehens vor. Eine einschränkende Auslegung der Norm nach Sinn und Zweck ist in Anbetracht des klaren Wortlauts nicht zulässig. Somit ergäbe sich trotz Vorliegens der tatbestandlichen Voraussetzungen einer Täuschungshandlung die materielle Rechtswidrigkeit des Bescheids.
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3. Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
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Die Hinzuziehung des Bevollmächtigten im Vorverfahren war für notwendig zu erklären. Die Notwendigkeit einer solchen Hinzuziehung beurteilt sich aus der Sicht einer verständigen Partei, die bemüht ist, die Kosten so niedrig wie möglich zu halten (BVerwG, B. v. 3.7.2000 - 11 A 1/99 - juris Rn. 3). Maßgebend ist, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sachlage eines Rechtsanwalts oder sonstigen Bevollmächtigten bedient hätte. Notwendig ist die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts danach nur dann, wenn es dem Beteiligten nach seinen persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten war, das Vorverfahren selbst zu führen (BVerwG, B. v. 2.7.2014 - 6 B 21/14 - juris Rn. 7).
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Nach diesem Maßstab ist im vorliegenden Fall die Beauftragung eines Rechtsanwalts als sachgerecht anzusehen. In einer prüfungsrechtlichen Streitigkeit treten typischerweise schwierige Sach- und Rechtsfragen auf, die nur eine mit dieser Materie vertraute rechtskundige Person übersehen und (zuverlässig) beantworten kann. Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die zu diesem Zeitpunkt 20jährige Klägerin über solche speziellen Rechtskenntnisse verfügte, welche ausnahmsweise eine andere Beurteilung erlaubten. Im Widerspruchsverfahren wurden diverse spezifische prüfungsrechtliche und auch verwaltungsrechtliche Fragestellungen erörtert. Der Bevollmächtigte der Klägerin nahm hierzu ausführlich Stellung. Von der Klägerin konnte nach obigem Maßstab daher nicht erwartet werden, das Vorverfahren allein zu betreiben.