Titel:
Konkret-individuelle Zusicherung Italiens bei der Rückführung vulnerabler Personen nach Italien
Normenketten:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a, § 77 Abs. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2
EMRK Art. 3
GRCh Art. 4
Leitsatz:
An die Behandlung vulnerabler Personen sind – speziell hinsichtlich ihrer Unterbringung – jedenfalls besondere Anforderungen zu stellen, von deren tatsächlicher Berücksichtigung durch Italien nach den derzeit verfügbaren Erkenntnismitteln nicht ohne Vorliegen einer – bisher nicht abgegebenen – konkret-individuellen Zusicherung Italiens ausgegangen werden kann (VG München BeckRS 2021, 26854; BeckRS 2020, 36390) (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Dublin III-Verfahren, Abschiebungsanordnung nach Italien, Adäquate Unterbringung von Mutter mit Kind nicht hinreichend sichergestellt, Vulnerabler Personenkreis, Erfordernis konkret-individueller Zusicherung zum maßgebl. Zeitpunkt, vulnerable Personen, mangelhafte Unterbringungs- und Versorgungslage, extreme materielle Notlage, VO (EU) Nr. 604/2013
Fundstelle:
BeckRS 2021, 26854
Tenor
I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. März 2019 - Gesch.Z. … - wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Tatbestand
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Die Klägerin, ihren Angaben zufolge in Nigeria am ... geboren, begehrt die Aufhebung eines ihren Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland als unzulässig ablehnenden Bescheids des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit einer Abschiebungsanordnung nach Italien im Rahmen eines asylrechtlichen Dublin-Verfahrens.
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Auf ein Wiederaufnahmegesuch vom 19. Februar 2019 der Beklagten an Italien bezugnehmend auf einen Eurodac-Treffer … erfolgte keine Rückmeldung seitens der italienischen Behörden. Die Klägerin gab gegenüber dem Bundesamt an, das Camp in Italien nach Bedrohungen durch einen Mann und dessen Familie verlassen zu haben und zu einer Freundin gezogen zu sein, bis sie sich auf den Weg nach Deutschland gemacht habe.
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Mit Bescheid vom 15. März 2019 - Gesch.Z.: … - lehnte das Bundesamt einen in der Bundesrepublik Deutschland am 12. Februar 2019 gestellten Asylantrag der Klägerin als unzulässig ab (Nr. 1), verneinte das Vorliegen von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) (Nr. 2) und ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4). Der Asylantrag sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgrund eines bereits in Italien gestellten Asylantrags gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO unzulässig. Die Unzulässigkeit des Antrags könne auch auf dem erfolglosen Abschluss des früheren Asylverfahrens gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG beruhen. Abschiebungsverbote lägen nicht vor, da keine systemischen Mängel in Italien bestünden, welche der Vermutung entgegenstünden, dass aufgrund des normativen Vergewisserungskonzepts in Italien die Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) sichergestellt sei. Hierzu wird umfangreich ausgeführt, worauf Bezug genommen wird. Es sei daher nicht davon auszugehen, dass die Klägerin in Italien tatsächlich Gefahr laufe, dort wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Auch individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe für die Ausübung eines Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO seien nicht ersichtlich. Die Schwangerschaft sowie HIV-Infektion der Klägerin begründeten weder einen solchen Selbsteintritt noch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Bescheidsbegründung Bezug genommen.
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Am 25. März 2019 hat die Klägerin zur Niederschrift beim Verwaltungsgericht München Klage erhoben. Zur Begründung verwies sie zunächst darauf, schwanger zu sein und Ende Mai/Anfang Juni ein Kind zu erwarten. Hierzu legte sie eine Kopie ihres Mutterpasses sowie ärztliche Unterlagen u.a. in Bezug auf eine HIV-Infektion vor. Eine Rückkehr nach Italien sei ihr deshalb nicht zumutbar. Nachdem sich der Prozessbevollmächtigte für die Klägerin bestellt hat, nahm dieser mit Schreiben vom 22. November 2019, 28. November 2019 und 3. Dezember 2019 Stellung und ergänzte das bisherige Vorbringen, u.a. bezugnehmend auf die Ausführungen der Schweizer Flüchtlingshilfe vom 8. Mai 2019 zur aktuellen Situation für Asylsuchende in Italien sowie den AIDA Country Report update 2018 vom April 2019. Insbesondere durch das „Salvini-Dekret“ habe sich die Lage in Italien verschlechtert. Dies gelte auch für vulnerable Personen, somit auch für die Klägerin mit ihrem am … … … geborenen Baby. Die Klägerin benötige aufgrund ihrer HIV-Infektion zudem das Medikament „Dovato“. Diesbezüglich wurde ein Attest vom 21. November 2019 in Bezug auf eine fortgeschrittene therapiebedürftige HIV-Infektion im Stadium A3 mit bereits bestehender Resistenz gegen einzelne HIV-Medikamente vorgelegt. Eine Überstellung der Klägerin nach Italien würde angesichts der aktuellen Lage gegen Art. 4 der Europäischen Grundrechtcharta verstoßen.
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Die Klägerin hat auf mündliche Verhandlung verzichtet und beantragt,
1. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 15. März 2019 - Az.: …, wird aufgehoben.
2. Hilfsweise: Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG ) bestehen.
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Die Beklagte beantragt,
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Sie verwies mit Schreiben vom 17. April 2019 zunächst auf die allgemeine Zusicherung der italienischen Behörden vom Januar 2019. Seit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 4. November 2014 - Tarakhel - habe sich in Italien viel getan. Daran hätten auch die jüngsten Reformen des italienischen Asylsystems („Salvini-Dekret“) nichts geändert. Hierzu wurde auf gerichtliche Bitte vom 6. November 2019 in Bezug auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 1380/90 - hin mit Schreiben vom 19. November 2019 sowie Schreiben vom 26. November 2019 näher ausgeführt. Im Schreiben vom 26. November 2019 wurde zudem zur gesundheitlichen Versorgungslage und Behandelbarkeit von HIV-Infektionen in Italien ausgeführt. Das Medikament „Dovato“ sei auch in Italien erhältlich. Unter dem 5. Mai 2020 verwies die Beklagte auf einen Bericht zur „Aufnahmesituation von Familien mit minderjährigen Kindern nach einer Dublin-Überstellung in Italien“ vom 2. April 2020 und nahm umfangreich Stellung. Letztlich hätten die Besucher in den Aufnahmeeinrichtungen und die Gespräche mit den beteiligten Behörden im Dublin-Verfahren einerseits die Eindrücke einiger NGOs bestätigt, dass es bei der Aufnahmesituation für Familien mit minderjährigen Kindern durchaus regionale Unterschiede geben kann, die auch mit der Größe der Aufnahmeeinrichtung zusammenhängen können. Insgesamt sei aber die Sorge, dass eine Familie mit minderjährigen Kindern nach ihrer Dublin-Rückkehr nicht unmittelbar angemessen untergebracht wird, nach den vorliegenden Informationen und gesammelten Eindrücken unbegründet. Ergänzend wurde darauf hingewiesen, dass die Koordination der Unterbringung für Dublin-Rückkehrer wie etwa die Zuweisungen eine adäquate Unterkunft erst infolge der Ankündigung einer geplanten Überstellungserfolge. Einem Dublin-Ersuchen vulnerabler Personen (Familien) werden nur dann zugestimmt und ein bestimmter Zielflughafen angegeben, nachdem die italienischen Behörden überprüft haben, dass es eine geeignete Unterbringungsmöglichkeit in der Region des Zielflughafens gebe und diese über freie Kapazitäten verfüge. Erfordere die Vulnerabilität von Dublin-Rückkehrern bestimmte Anforderungen, würden diese durch die italienischen Behörden infolge der angekündigten Überstellung geprüft. Hierzu zähle auch die Verfügbarkeit einer den Anforderungen entsprechenden Unterkunft für Kleinkinder zu einem bestimmten Zeitpunkt. Sollte eine solche Unterkunft nicht in der Region des Zielflughafens verfügbar sein, so sei Italien gehalten, dies dem Bundesamt vor Überstellung unverzüglich mitzuteilen. Die geplante Überstellung werde daraufhin storniert. Ergehe keine Rückmeldung Italiens nach Bekanntgabe eines geplanten Überstellungstermins sei davon auszugehen, dass eine derart geforderte adäquate Unterbringung und Versorgung für die zu erstellenden Personen verfügbar und die Bereitstellung durch die zuständigen Stellen Italiens sichergestellt sei. Insoweit sei die Überstellung von Familien mit Kleinkindern nach Italien rechtmäßig.
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Einem vorläufigen Rechtsschutzbegehren der Klägerin hat das Gericht mit Beschluss vom 13. Januar 2020 - M 30 S 19.50256 - stattgegeben und die aufschiebende Wirkung der vorliegenden Klage angeordnet.
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Mit rechtskräftigem Gerichtsbescheid vom 11. Januar 2021 - M 30 K 19. 50797 - wurde eine Klage des am ... geborenen Sohns der Klägerin mit der Maßgabe abgewiesen, dass dem Bundesamt vor Überstellung nach Italien eine Zusicherung der italienischen Behörden vorliegt, dass der Kläger zusammen mit der/den sorgeberechtigten Person/en unverzüglich nach der Ankunft in Italien einen sicheren Platz in einer Einrichtung erhält, die für Alleinstehende mit Kindern oder Familien eine spezielle Versorgung und Betreuung gewährleistet und deren individuelle Bedürfnisse abdeckt.
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Mit gerichtlichem Schreiben vom 10.02.2021 wurde der Beklagten Gelegenheit eingeräumt, eine der Maßgabe im Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 11. Januar 2021 - M 30 K 19. 50797 - entsprechende individuelle Zusicherung der italienischen Behörden vorzulegen. Daraufhin verwies das Bundesamt mit Schreiben vom 16. Februar 2021 darauf, dass die Vorlage einer individuell konkreten Zusicherung zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich sei. Zum jetzigen Zeitpunkt seien weder aufenthaltsbeendende Maßnahmen durch die zuständige Ausländerbehörde eingeleitet noch liege ein konkreter Vorstellungstermin vor. Insoweit könne zum jetzigen Zeitpunkt noch keine derart geforderte Aussage über eine bestimmte Unterkunftseinrichtung des zuständigen Mitgliedstaats ergehen. Zudem verwies das Bundesamt auf ein Schreiben des Ministerio dell´ Interno vom 08. Februar 2021, mit dem Italien versichere, gemäß der EU-Richtlinien die Unterbringung von Familien zu gewähren.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten der Verfahren M 30 K 19.50255, M 30 K 20.50239 und M 30 S 19.50256 sowie die - in elektronischer Form - vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, nachdem die Beteiligten auf mündliche Verhandlung verzichteten, § 101 Abs. 2 VwGO.
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Die zulässige Klage ist begründet. Der im Wege einer Anfechtungsklage gemäß § 42 VwGO angegriffene Bescheid des Bundesamtes vom 15. März 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin daher in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
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Der Asylantrag der Klägerin ist nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a) AsylG unzulässig. In Folge dessen sind die getroffenen Entscheidungen über ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG jedenfalls verfrüht ergangen und ebenfalls aufzuheben (vgl. BVerwG, 14.12.2016 - 1 C 4/16 - juris Rn. 21) bzw. die verfügte Abschiebungsanordnung folglich gleichermaßen rechtswidrig.
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Mangels Vorlage einer konkret-individuellen Zusicherung über eine adäquate Unterbringung und Versorgung der Klägerin mit ihrem Sohn durch die italienischen Behörden steht zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, vgl. § 77 Abs. 1 AsylG, zur Überzeugung des Gerichts i.S.v. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO fest, dass eine Abschiebung der Klägerin nach Italien nicht durchgeführt werden kann, so dass nunmehr die Beklagte für die Durchführung des Asylverfahren zuständig ist.
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Es besteht ein real risk dafür, dass die Klägerin im Falle einer Abschiebung nach Italiens infolge systemischer Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens oder der dortigen Aufnahmebedingungen der Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh ausgesetzt wäre.
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Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 - 2 BvR 1938/93 und 2 BvR 2315/93 - juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 - C-411/10 und C-493/10 - juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedsstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Konvention für Menschenrechte und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entspricht. Zwar ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Die nationalen Behörden und Gerichte sind aber nur bei Vorliegen von Anhaltspunkten, die auf ein ernsthaftes Risiko von Verstößen gegen Art. 4 GRCh hindeuten, verpflichtet, auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte zu würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen. Diese müssen zudem eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die nur vorliegt, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden des Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass einem Asylbewerber gerade aufgrund seiner besonderen Schutzbedürftigkeit und unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen eine Situation extremer materieller Not drohen würde, die es ihm nicht erlauben würde, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzen würde (EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - juris Rn. 92, 95).
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Vorliegend kann dahinstehen, ob die Aufnahmebedingungen für Dublin-Rückkehrer vor dem Hintergrund der drohenden Unterkunftssituation und eines Verlustes eines Anspruchs auf Unterbringung unabhängig von einer etwaigen Vulnerabilität systemisch mangelhaft sind (vgl. teilweise bejahend VG München, B.v. 23.2.2021 - M 30 S 21.50040 - noch nicht veröffentlicht; verneinend VG München U.v. 28.10.2020 - M 19 K 19.51141 - juris Rn. 37 ff. m.w.N.; B.v. 8.9.2020 - M 9 S 17.53032 n.v.; VG Würzburg, B.v. 21.12.2020 - W 8 S 20.50319 - juris Rn. 17 ff.; vgl. a. VG Augsburg, U.v. 10.11.2020 - Au 3 K 20.31390 - juris 23 ff.)
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An die Behandlung vulnerabler Personen sind - speziell hinsichtlich ihrer Unterbringung - jedenfalls besondere Anforderungen zu stellen, von deren tatsächlichen Berücksichtigung durch Italien nach den derzeit verfügbaren Erkenntnismitteln nicht ohne Vorliegen einer - bisher nicht abgegebenen - konkret-individuellen Zusicherung Italiens ausgegangen werden kann (BayVGH, B.v. 19.10.2020 - 13a ZB 18.30891 - juris Rn. 4 f.; B.v. 9.9.2020 - 9 ZB 20.5001 - juris Rn. 6 f; VG München, U.v. 28.10.2020 - M 19 K 19.51141 - juris Rn. 42 ff.). Insoweit schließt sich das Gericht den nachfolgenden Entscheidungsgründen in dem Urteil des Verwaltungsgerichts München vom 28. Oktober 2020 - M 19 K 19.51141 - im Wesentlichen an:
„Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am 4. November 2014 im Fall einer Familie mit minderjährigen Kindern entschieden, dass die Schweizer Behörden die Abschiebung der Familie nach Italien nicht vornehmen dürfen, ohne vorher individuelle Garantien von den italienischen Behörden erhalten zu haben, dass die Antragsteller in Italien in einer dem Alter der Kinder adäquaten Art und Weise behandelt werden und die Familie zusammenbleiben darf (EGMR, U.v. 4.11.2014 - Tarakhel ./. Schweiz, Nr. 29217/12 - NVwZ 2015, 127, Rn. 114 ff.). Die allgemeine Situation der Asylbewerber in Italien war zwar nicht mit der Griechenlands vergleichbar und hatte nicht jegliches Überstellen von Asylbewerbern nach Italien verhindert (vgl. EGMR, U.v. 4.11.2014, a.a.O. Rn. 114 ff.). Es konnte aber nicht ausgeschlossen werden, dass eine erhebliche Anzahl von Asylbewerbern keine Unterkunft findet oder in überbelegten Einrichtungen auf engstem Raum oder in gesundheitsschädlichen oder gewalttätigen Verhältnissen untergebracht war. Um sicherstellen zu können, dass die Aufnahmebedingungen an die Bedürfnisse von besonders schutzbedürftigen Personen angepasst sind, mussten vor deren Abschiebung die vorgenannten individuellen Garantien eingeholt werden, (vgl. EGMR, U.v. 4.11.2014, a.a.O. Rn. 120, 122).
Auch der Europäische Gerichtshof (EuGH), der mit seinen Urteilen vom März 2019 (EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a. - Rs. „Ibrahim u.a.“, juris Rn. 90 f.; U.v. 19.3.2019 - C-163/17 - Rs. „Jawo“, juris Rn. 92 ff.) die Maßstäbe für Rückführungen im Dublinraum präzisierte und tendenziell eher verschärfte (vgl. Rn. 34, 35), erkennt das Erfordernis einer Differenzierung zwischen gesunden und arbeitsfähigen Flüchtlingen einerseits und Antragstellern mit besonderer Verletzbarkeit andererseits an (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a - Rs. „Ibrahim u.a.“, juris Rn. 93).
In gleicher Weise forderte auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG, B.v. 31.7.2018 - 2 BvR 714/18 - juris Rn. 19 f.; B.v. 8.5.2017 - 2 BvR 157/17 - juris Rn. 16; B.v. 17.9.2014 - 2 BvR 939/14 - juris Rn. 16), dass jedenfalls bei der Abschiebung von Familien mit Neugeborenen (vgl. Art. 16 Abs. 1 der Dublin-III-VO) und Kleinstkindern bis zum Alter von drei Jahren in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaats sicherzustellen ist, dass die Familie bei der Übergabe an diese eine gesicherte Unterkunft erhält, um erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren in dem genannten Sinne für die in besonderem Maße auf ihre Eltern angewiesenen Kinder auszuschließen.
Die italienischen Behörden reagierten auf die „Tarakhel“ Rechtsprechung des EGMR mit Erklärungen vom 2. Februar 2015, 15. April 2015 und 8. Juni 2015, in denen sie allgemein zusicherten, dass Familien mit (Klein-) Kindern zukünftig ausschließlich in den für Familien geeigneten SPRAR-Unterkünften untergebracht werden. Daraufhin relativierte der EGMR im Jahr 2016 sein Urteil insofern, als von dem Erfordernis der konkret-individuellen Zusicherung wieder abgesehen wurde (EGMR, E.v. 4.10.2016, Ali v. Switzerland and Italy, Nr. 30474/14, https://dejure.org, Rn. 34). Zu diesem Zeitpunkt sicherten die allgemeinen Zusicherungen Italiens jedoch noch eine grundsätzliche Unterbringung von Familien mit (Klein-) Kindern in SPRAR-Unterkünften zu.
Dies änderte sich jedoch seit den Umstrukturierungen durch das Salvini-Dekret vom Oktober 2018 in entscheidungserheblicher Weise, die die vorliegend getroffene Maßgabe-Entscheidung erforderlich macht. Das neue Unterbringungssystem Italiens differenziert nun zwischen einer Erstaufnahme („prima accoglinza“) und einer sekundären Versorgungsschiene („Sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e per minori stranieri non accompagnati“ - SIPROIMI). Asylsuchende - auch Dublin-Rückkehrer - werden in den Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht und verbleiben während des Asylverfahrens dort. In den SIPROIMI (bis Ende 2018 SPRAR), den Aufnahmeeinrichtungen der zweiten Ebene, werden ausschließlich unbegleitete Minderjährige sowie international Schutzberechtigte untergebracht. Unstreitig ist damit, dass die vom EGMR in Bezug genommenen besser ausgestatteten SPRAR-Unterkünfte, die jetzigen SIPROIMI, den Dublin-Rückkehrern und somit auch Familien mit (Klein-)Kindern nicht mehr zur Verfügung stehen. Davon, dass die übrigen Unterkünfte für Asylsuchende (CAS und CARA) eine kind- und familiengerechte Unterbringung gewährleisten, kann jedoch nicht ohne Weiteres ausgegangen werden.
Der allgemeinen Zusicherung der italienischen Behörden vom 8. Januar 2019 ist zunächst die Unterbringung vulnerabler Personen in den Erstaufnahmeeinrichtungen zu entnehmen. Darüber hinaus kann aus ihr nicht die hinreichende Gewissheit gewonnen werden, dass, wo und wie, die italienischen Behörden eine dem Alter und der Situation einer Familie mit Säugling angemessene Unterbringung tatsächlich ermöglichen können (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 23). Denn den durch den EGMR aufgestellten Anforderungen an die Unterbringungsgarantien bezüglich Familien und schwer erkrankten Asylsuchenden kann dieses allgemeine Schreiben vom 8. Januar 2019 hinsichtlich der dargestellten, weitreichenden Änderungen des italienischen Unterbringungssystems nicht mehr standhalten (vgl. Schweizer Bundesverwaltungsgericht, BVGer, U.v. 17.12.2019 - E-962/2019 - abrufbar unter https://www.bvger.ch/bvger/de/home/rechtsprechung/referenzurteile/asyl/dublin-italien.html; AIDA - Italy, Update 2019, Stand: 27.5.2020, a.a.O. S. 62).
Den geänderten Verhältnissen bezüglich der Unterbringung vulnerabler Personen Rechnung tragend, ist damit bei dieser Personengruppe eine hinreichend belastbare Versorgungszusicherung zu fordern (vgl. BVerfG, B.v. 10.10.2019 - 2 BvR 1380/19 - juris Rn. 23 f.; VGH Bad.-Würt., U.v. 29.7.2019 - A 4 S 749/19 - juris Rn. 41; BayVGH, B.v. 5.11.2019 - 7 AS 19.50020 - juris Rn. 17 f.). Dieser obergerichtlichen Rechtsprechung folgend, geht das Gericht daher derzeit davon aus, dass für den Kläger als besonders schutzbedürftige Person eine Verletzung von Art. 3 EMRK bei der Rückführung nach Italien nur dann ausgeschlossen ist, wenn zuvor entsprechende individuelle Garantien eingeholt werden, dass eine angemessene Unterbringung und Versorgung und gegebenenfalls Gesundheitsversorgung sichergestellt sind.
So weist das Bundesamt in seinem Bericht vom 2. April 2020 selbst auf regionale Unterschiede im Unterbringungssystem hin (BAMF, Bericht v. 2.4.2020, S. 51) und kann bei der Darstellung der drei besuchten Aufnahmeeinrichtungen in Rom, Mailand und St. Anna (Nähe Crotone) keine verbindlichen Aussagen zum Zeitpunkt und zum Ort der gesicherten Unterbringung treffen (BAMF, Bericht v. 2.4.2020, S. 25 - 38). Vage Begrifflichkeiten („in der Regel“ werde in Rom […] untergebracht; „üblicherweise“ würden zurückgekehrte Familien von Mitarbeitenden der Unterkünfte am Flughafen abgeholt und in die jeweiligen Unterkünfte gebracht, BAMF, Bericht v. 2.4.2020, S. 27) sowie der im Bericht durchgehend verwendete Konjunktiv verstärken die Zweifel an einer Sicherstellung der erhöhten Anforderungen im Hinblick auf den vulnerablen Personenkreis. Gleiches gilt bezüglich der Aussagen des italienischen Flüchtlingsrats, der die Sorge, dass eine Familie mit Kindern nach der Rücküberstellung nach Italien im Rahmen des Dublin-Verfahrens unfreiwillig obdachlos würde, nicht vollkommen ausschließen konnte (BAMF, Bericht v. 2.4.2020, S. 40). Vielfach werden Unzulänglichkeiten im Hinblick auf die zeitnahe Unterbringung vulnerabler Personen durch ehrenamtliche Helfer oder NGOs aufgefangen (BAMF, Bericht v. 2.4.2020, S. 47), was jedoch nicht sicher planbar und verlässlich ist.“
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(VG München, U.v. 28. Oktober 2020 - M 19 K 19.51141 - juris Rn. 43 ff.).
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Auch die neueren Erkenntnisse sind nicht geeignet, von einer Beseitigung der drohenden mangelhaften Unterbringungs- und Versorgungslage für vulnerable Personen auszugehen. Aus den aktuellen Berichten des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BfA - Länderinformation der Staatendokumentation Italien vom 11.11.2020) und der Schweizer Flüchtlingshilfe (SFH - Aufnahmebedingungen in Italien - von Januar 2020 sowie Anfragebeantwortung vom 29.10.2020) ergeben sich vielmehr hinreichend deutliche Anhaltspunkte, dass nicht nur anerkannt Schutzberechtigte (vgl. insoweit auch Hess.VGH, B.v. 11.1.2021 - 3 A 539/20.A - juris; VG Oldenburg, U.v. 7.7.2020 - 6 A 243/20 - juris Rn.; VG Magdeburg, U.v. 23.6.2020 - 6 A 124/18 MD - asylnet; VG Gelsenkirchen, GB v. 25.5.2020 - 1a K 9184/17.A - juris Rn. 64 ff.; VG Braunschweig, U.v. 21.4.2020 - 3 A 112/19), sondern auch anderweitige Dublin-Rückkehrer unter Umständen keinen Zugang (mehr) zu den italienischen Unterkünften bekommen (vgl. VG München, B.v. 23.2.2021 - M 30 S 21.50040 - noch nicht veröffentlicht). Inwiefern hiervon Familien oder vulnerable Personen tatsächlich ausgenommen sind, erscheint fraglich. Zudem haben die italienischen Behörden auf das Wiederaufnahmegesuch vom 19. Februar 2019 im vorliegenden Verfahren gerade nicht reagiert. Dass die allgemeinen Angaben des Bundesamtes über das Procedere im Zusammenhang mit einem konkreten Überstellungsgesuch, u.a. dahingehend, dass einer Überstellung erst bei vorhandenem Platz in einer entsprechend angemessenen Unterkunft zum Termin der Überstellung zugestimmt werde, Berücksichtigung finden werden, vermag das Gericht in Übereinstimmung mit den umfangreichen Ausführungen des Verwaltungsgerichts München im Verfahren M 19 K 19.51141 nicht festzustellen.
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Auch das von der Beklagten im Verfahren vorgelegte Rundschreiben des Ministero dell´ Interno vom 8. Februar 2021 vermag hieran noch nichts zu ändern. Zwar stellt es heraus, dass im Rahmen eines neues Schutzsystems SAI, das das frühere SIPROIMI ersetze, auch Dublin-Familiengruppen mit Minderjährigen aufgenommen würden. Es handelt sich hierbei jedoch zunächst um einen Hinweis auf ein entsprechendes Gesetzesdekret. Wann die Einführung des neuen Schutzsystems SAI tatsächlich erfolgt bzw. abgeschlossen ist und inwieweit den besonderen Anforderungen der Personen des vulnerablen Personenkreises tatsächlich Rechnung getragen wird - im Schreiben vom 8. Februar 2021 wird nur der Schutz der Familieneinheit zitiert - bleibt unklar. Das Schreiben ist daher vergleichbar mit einer (abstrakten) Absichtserklärung und vermag nicht das Erfordernis nach einer konkret-individuellen Zusicherung entfallen zu lassen, zumal Italien im vorliegenden Fall auf das Wiederaufnahmegesuch hinsichtlich der Klägerin nicht reagiert hat.
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Ohne Vorliegen einer konkret-individuellen Zusicherung der italienischen Behörden droht der Klägerin mit ihrem im Jahre 2019 geborenen Sohn eine mangelhafte Unterbringungssituation und damit eine - gemäß der Maßstäbe von EGMR, EuGH und BVerfG - extreme materielle Notlage, der die Klägerin nicht mehr mit zumutbarer Eigeninitiative wird entgegentreten können.
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Für eine Klageabweisung unter Maßgabe der Vorlage einer entsprechend konkret-individuellen Zusicherung, so im Gerichtsbescheid den Sohn der Klägerin betreffend tenoriert (VG München, GB. v. 11.1.2021 - M 19 K 19. 50797 -) ist vor dem Hintergrund des § 113 Abs. 1 VwGO, des maßgeblichen Beurteilungszeitpunkts nach § 77 Abs. 1 AsylG sowie der sich etwaig ergebenden Vollstreckungsfragen eines sog. Maßgabeurteils - der streitgegenständliche Bescheid erwächst bei Klageabweisung trotz erfolgter Maßgabe, aber mangels ausdrücklicher Änderung wohl unverändert in Bestandskraft - aus Sicht des vorliegend erkennenden Gerichts kein Raum (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 29 AsylG Rn. 36 a.E.; a. A. VG München, U.v. 28.10.2020 - M 19 K 19.51141 - juris; VG München, GB v. 27.1.2021 - M 2 K 19.50637 - n.v.). Der obergerichtlichen Rechtsprechung lassen sich insoweit (bislang) keine hinreichenden Ausführungen für eine solche Urteilstenorierung mit Maßgabe entnehmen. Während der Verwaltungsgerichtshof des Landes Baden-Württemberg eine Ablehnung eines Eilantrages „mit der Maßgabe, dass das Bundesamt vorsorgen muss“, als nicht den Vorgaben der Tarakhel-Rechtsprechung genügend erachtet (VGH BW, U.v. 29.7.2019 - A 4 S 749/19 - juris Rn. 41), lassen sich den Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in den Nichtzulassungsentscheidungen vom 19. Oktober 2020 - 13a ZB 18.30891 - sowie vom 9. September 2020 - 9 ZB 20.50011 - keinerlei hierzu Ausführungen finden, ebensowenig im Übrigen den diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Urteilen des VG Regensburg. Das Bundesverfassungsgericht hat sich hingegen kritisch zu einer Maßgabeentscheidung im Eilverfahren geäußert, eine Entscheidung diesbezüglich aber offengelassen (BVerfG, B.v. 30.4.2015 - 2 BvR 746/15 - juris Rn. 8). Wenn schon im Eilverfahren eine Ablehnung unter Maßgabe kritisch zu sehen ist, bietet § 113 VwGO im Klageverfahren hierfür erst recht keinen Raum.
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Der (Anfechtungs-)Klage ist daher vielmehr mit Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids stattzugeben. Einer Entscheidung über den Hilfsantrag in Bezug auf die Feststellung von Abschiebungsverboten bedarf es nicht.
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Die Kostenfolge folgt aus § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis ergeben sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).