Titel:
Aufstockung einer Grenzgarage und Abstandsflächen
Normenketten:
BayBO Art. 6
BGB § 242
Leitsätze:
1. Bauliche Änderungen eines Gebäudes lösen eine abstandflächenrechtliche Neubeurteilung des Gesamtgebäudes aus, wenn sich im Vergleich zum bisherigen Zustand spürbare nachteilige Auswirkungen auf die von diesen Änderungen betroffenen Nachbargrundstücke hinsichtlich der durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange ergeben können. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Abstandsfläche einer Wand ist immer von der Geländeoberfläche des Baugrundstücks aus zu bestimmen. Unterschiede in der Höhenlage zwischen Bau- und Nachbargrundstück sind für die Bemessung der Abstandsfläche mithin grundsätzlich irrelevant. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Ein Nachbar kann sich nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) gegenüber einer Baugenehmigung grundsätzlich nur dann nicht mit Erfolg auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen, wenn auch die Bebauung auf seinem Grundstück den Anforderungen dieser Vorschrift nicht entspricht und wenn die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu – gemessen am Schutzzweck der Vorschrift – schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Nachbarklage, Errichtung eines Lager-/Abstellraums auf eine Grenzgarage ohne innere Verbindung der Räumlichkeiten, abstandsflächenrechtliche Gesamtbetrachtung, Aufstockung, Geländeoberfläche, Treu und Glauben
Fundstelle:
BeckRS 2021, 26827
Tenor
I. Die Baugenehmigung des Landratsamts … … vom 18. Dezember 2019 (Az. … …) wird aufgehoben.
II. Der Beigeladene trägt seine außergerichtlichen Kosten selbst. Im Übrigen tragen der Beigeladene und der Beklagte die Kosten des Verfahrens je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin wendet sich im Wege einer Nachbarklage gegen eine dem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung zur Errichtung eines Lager- bzw. Abstellraums auf einer bestehenden Garage auf dem Grundstück Fl.Nr. … der Gemarkung … (Vorhabengrundstück).
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Die Klägerin ist Eigentümerin des Grundstücks Fl.Nr. …, welches an die Ostseite des Vorhabengrundstücks angrenzt und in seiner Südwest-Ecke grenzständig mit einer kleineren Scheune bebaut ist. Das Vorhabengrundstück ist mit einer Doppelhaushälfte und in seinem nordöstlichen Grundstücksbereich mit einer Reihengarage (4 Stellplätze) und einem Carport bebaut. Die Nordost-Ecke der Garage befindet sich in einem Abstand von etwa 3 m zur gemeinsamen Grundstücksgrenze; dieser Grenzabstand verjüngt sich nach Süden auf bis zu unter 1 m an der Südwest-Ecke des klägerischen Grundstücks.
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Unter dem 24. September 2019 beantragte der Beigeladene eine Baugenehmigung für die „Aufstockung der bestehenden Garage mit Lager- und Abstellnutzung“. Nach der Eingabeplanung soll auf dem Garagengebäude ein weiteres Vollgeschoss mit Satteldach errichtet werden und zwar zum Bestandsgebäude derart versetzt, dass die Aufstockung über die gesamte Länge der Ostwand von 14,69 m einen Grenzabstand von 3 m einhält. Der geplante Aufbau soll im Nordosten über einen gesonderten Zugang verfügen, eine Verbindung zum Bestandsgebäude im Gebäudeinneren ist nicht vorgesehen.
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Mit Bescheid vom 18. Dezember 2019 erteilte das Landratsamt … … (im Folgenden: Landratsamt) dem Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung. Der Bescheid wurde der Klägerin am 20. Dezember 2019 zugestellt und dem Beigeladenen am 2. Januar 2020 ausgehändigt.
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Die Klägerin hat am 20. Januar 2020 Klage gegen den Bescheid erhoben. Sie beantragt,
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die Baugenehmigung des Landratsamts … … vom 18. Dezember 2019 (Az. …) aufzuheben.
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Zur Begründung wurde mit Schriftsatz des Bevollmächtigten der Klägerin vom 5. Oktober 2020 im Wesentlichen vorgetragen, die auf dem Vorhabengrundstück vorhandene Reihengarage habe nach einer im Jahr 1967 erteilten Baugenehmigung einen Grenzabstand von 3 m einzuhalten gehabt und sei in der Folge planabweichend errichtet worden. Der Standort des Gebäudes sei planabweichend um mehrere Meter verschoben worden, auch weise das Gebäude (ohne Carport) eine Länge von ca. 14 m statt der damals genehmigten 12,86 m auf. Zwischenzeitlich sei an der südlichen Garagenseite noch ein Carport angebaut und integriert worden, sodass sich für das Gebäude eine Gesamtlänge von über 20 m ergebe. Die Baugenehmigung vom 18. Dezember 2019 sei daher schon deshalb aufzuheben, weil wegen der Unvollständigkeit bzw. Unrichtigkeit der eingereichten Pläne Gegenstand und Umfang der erteilten Genehmigung nicht eindeutig festgestellt und aus diesem Grund eine Verletzung von Nachbarrechten nicht ausgeschlossen werden könne. Die eingereichten Pläne beträfen einen nicht isoliert genehmigungsfähigen Teil eines bestehenden, selbst nicht genehmigten Garagengebäudes. Die Baugenehmigung aus dem Jahre 1967 sei infolge der planabweichenden Errichtung nicht umgesetzt worden und daher erloschen, sodass es sich bei dem Gebäude formal um einen nicht genehmigten Schwarzbau handele. Für Änderungen eines bestehenden Gebäudes, das selbst nicht genehmigt sei, könne kein selbstständiger Bauantrag gestellt werden, vielmehr habe es eines einheitlichen Bauantrags für das Gesamtvorhaben bedurft. Zudem verstoße das genehmigte Vorhaben gegen Abstandsflächenrecht. Es handele sich nicht um ein privilegiertes Vorhaben nach Art. 6 Abs. 9 BayBO, da das Garagengebäude die danach maximal zulässige Gesamtlänge von 9 m überschreite. Im Übrigen seien die Bauunterlagen auch hinsichtlich der Abstandsflächen zu unbestimmt. Aus den genehmigten Plänen gehe schon die Wandhöhe nicht ausreichend klar hervor. Im Übrigen sei aus dem vorgelegten Abstandsflächenplan nicht zweifelsfrei erkennbar, ob die Abstandsflächen zum Grundstück der Klägerin eingehalten würden. Die an der östlichen Fassade erforderlichen Abstandsflächen von - aus den Plänen abgegriffen - 5,30 m könnten auch nicht unter Anwendung des 16 m-Privilegs eingehalten werden. Der Eingabeplan suggeriere zwar, dass das Garagengebäude im Hang eingegraben sei und als unterirdisches Gebäude keine Abstandsflächen auslöse. Das Bestandsgebäude sei jedoch rundherum freistehend. Durch die Errichtung des Carports werde die für das 16m-Privileg maximal zulässige Außenwandlänge von 16 m überschritten.
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Das Landratsamt beantragt für den Beklagten,
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen vorgetragen, dem Landratsamt lägen keine Akten zur Baugenehmigung der Garage mehr vor, sodass die diesbezüglichen Angaben der Klägerseite fraglich seien. Eine Unaufklärbarkeit gehe zu Lasten der Klägerin. Der Carport an der südlichen Seite der Garage sei konstruktiv selbstständig. In rechtlicher Hinsicht spreche nichts gegen eine isolierte Genehmigung der Aufstockung, da das gegenständliche Vorhaben gerade kein einheitliches Gebäude mit der darunterliegenden Garage bilde. Das Vorhaben entspreche der Legaldefinition des Art. 2 Abs. 2 BayBO und könne nur durch den Zugang im Osten betreten werden; eine vertikale Durchgangsmöglichkeit zwischen den Garagen und dem darüber liegenden Vorhaben bestehe nicht. Bautechnisch handele es sich daher um zwei getrennte Gebäude. Wegen der in den Bauvorlagen dargestellten östlichen Anböschung seien die Garagen zumindest aus der Richtung des klägerischen Grundstücks nicht mehr wahrnehmbar. Dieser Eindruck verstärke die Selbstständigkeit der beiden Gebäude. Da von einer selbständigen Genehmigungsfähigkeit des Vorhabens auszugehen sei, komme es nicht auf die Genehmigungssituation der Garagen an. Im Übrigen liege ein Erlöschen der Baugenehmigung aus dem Jahre 1967 fern, da die von der Klägerin angeführten geringfügigen Abweichungen selbst bei Wahrunterstellung nicht so gravierend seien, dass sich daraus eine Wesensänderung des Gebäudes ergebe. Die Baugenehmigung vom 18. Dezember 2019 sei hinreichend bestimmt. Die Abstandsflächen seien in dem mit Genehmigungsvermerk versehenen Eingabeplan inhaltlich richtig dargestellt, aus dem Schnitt AA würden zudem alle für die Abstandsflächenberechnung notwendigen Maße hervorgehen. Ein Verstoß gegen Abstandsflächenrecht liege nicht vor. Die Ostwand der Garage sei zum Grundstück der Klägerin hin nur vorübergehend aus Sanierungsgründen abgegraben worden, danach solle das Gelände wieder auf das ursprüngliche und in den Plänen dargestellte Niveau verfüllt werden. Messe man von dem Urgelände, welches teilweise durch das Dach der mehr als 50 Jahre bestehenden Garage gebildet werde, bis zum Schnittpunkt der Dachhaut, ergebe sich eine Wandhöhe von 3 m. Selbst wenn man davon ausgehe, dass die Geländeoberfläche vor dem Garagendach, also am Erdboden gemessen werden müsse, ergebe sich unter Anwendung des 16 m-Privilegs eine Wandhöhe von 3 m. Entgegen der klägerischen Ausführungen handle es sich bei dem Carport schon aufgrund der fehlenden Außenwände um ein abgesetztes selbstständiges Gebäude. Da die Wandhöhe selbst nach den Berechnungen der Klägerseite 6 m nicht überschreite, bleibe es nach der gem. Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO zulässigen Halbierung bei der Mindestabstandsfläche von 3 m, welche durch das Vorhaben eingehalten werde.
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Der Beigeladene beantragt ebenfalls,
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Im Wesentlichen wurde auf die Ausführungen des Beklagten Bezug genommen. Ergänzend wurde mit Schriftsatz vom 28. Oktober 2020 vorgetragen, dass der Stadel der Klägerin den Grenzabstand nicht einhalte und dessen schadhafte Dachrinnensituation dazu geführt habe, dass der Beigeladene seine Garagenwand habe sanieren müssen.
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Mit Schriftsatz vom 1. Februar 2021 wies das Landratsamt auf die an diesem Tag in Kraft getretene Novelle der Bayerischen Bauordnung hin. Selbst wenn das Garagengebäude und der Carport als ein Gebäude angesehen würden, seien die Abstandsflächen nach der nunmehr geltenden Rechtslage ohne weiteres eingehalten.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf die Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom 12. Mai 2021 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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1. Die Klage ist zulässig und begründet.
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Die angefochtene Baugenehmigung vom 18. Dezember 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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Zu berücksichtigen ist, dass im Rahmen einer Nachbarklage eine Aufhebung der Baugenehmigung nicht allein wegen objektiver Rechtswidrigkeit in Betracht kommt, sondern nur, wenn dritt- oder nachbarschützende Normen verletzt sind. Dementsprechend findet im gerichtlichen Verfahren keine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle statt. Die Prüfung hat sich vielmehr darauf zu beschränken, ob durch die angefochtene Baugenehmigung drittschützende Vorschriften, die dem Nachbarn einen Abwehranspruch gegen das Vorhaben vermitteln, verletzt sind (zur sog. Schutznormtheorie vgl. etwa Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 42, Rn. 89 ff.).
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Vorliegend verletzt die erteilte Baugenehmigung Vorschriften des Abstandsflächenrechts, welchen grundsätzlich drittschützende Wirkung zukommt (vgl. Kraus in Busse/Kraus, BayBO, 141. EL Stand März 2021, Art. 6, Rn. 14 f.). Der Klägerin ist es zudem nicht verwehrt, sich hierauf zu berufen.
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1.1 Das Vorhaben hält die gesetzlich vorgeschriebenen Abstandsflächen zum Grundstück der Klägerin nicht ein. Denn die Beklagtenseite hat insoweit verkannt, dass nicht nur die beantragte Aufstockung des Garagengebäudes, sondern der entstehende Baukörper insgesamt abstandsflächenrechtlich neu zu beurteilen ist (sog. abstandsflächenrechtliche Gesamtbetrachtung).
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Für die Beurteilung der Erfolgsaussichten der Anfechtungsklage ist entsprechend der allgemeinen verwaltungsprozessualen Grundsätze auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung abzustellen (vgl. Dirnberger in Busse/Kraus, a.a.O., Art. 66, Rn. 590 ff.). Nach diesem Zeitpunkt eingetretene Rechtsänderungen werden nur berücksichtigt, wenn sie sich zugunsten des Bauherrn auswirken (BVerwG, B.v. 23.4.1998 - 4 B 40/98 - NVwZ 1998, 1179). Nachträgliche Änderungen der Rechtslage zugunsten der Nachbarn können hingegen nicht berücksichtigt werden, da der Bauherr mit dem Wirksamwerden der Baugenehmigung bereits eine gesicherte Rechtsposition innehat (vgl. Dirnberger, a.a.O., Rn. 592). Die zum 1. Februar 2021 in Kraft getretenen Änderungen des Art. 6 BayBO durch das Gesetz vom 23. Dezember 2020 (GVBl. 2020, 663) finden im vorliegenden Fall daher nur Anwendung, sofern sich aus ihnen eine für den Beigeladenen günstigere Rechtsposition ergibt, weil er mit der Zustellung des streitgegenständlichen Bescheids bereits eine gesicherte Rechtsposition erlangt hat. Vorliegend hält das genehmigte Vorhaben die erforderlichen Abstandsflächen sowohl nach den Regelungen des Art. 6 BayBO in der bis zum 31. Januar 2021 geltenden Fassung, als auch nach aktueller Rechtslage nicht ein.
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Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs lösen bauliche Änderungen eines Gebäudes eine abstandflächenrechtliche Neubeurteilung des Gesamtgebäudes aus, wenn sich im Vergleich zum bisherigen Zustand spürbare nachteilige Auswirkungen auf die von diesen Änderungen betroffenen Nachbargrundstücke hinsichtlich der durch das Abstandsflächenrecht geschützten Belange ergeben können. Ob eine bauliche Veränderung oder auch eine Nutzungsänderung den bisherigen Interessenausgleich in Frage stellt und die Situation nicht unerheblich verschlechtert, bemisst sich dabei nach den mit der gesetzlichen Abstandsflächenregelung verfolgten Zielen. Maßgeblich ist, ob eine (mehr als nur geringfügig) ungünstigere Beurteilung insbesondere auch unter dem Blickwinkel nachbarlicher Interessen als zumindest möglich erscheint (vgl. grundlegend: BayVGH, U.v. 20.2.1990 - 14 B 88.02464 - juris Rn. 20 ff.; BayVGH, B.v. 24.3.2017 - 15 B 16.1009 - juris Rn. 5; BayVGH, B.v. 21.2.2018 - 15 CS 17.2569 - juris Rn. 10; BayVGH, U.v. 11.11.2014 - 15 B 12.2672 - juris Rn. 35; BayVGH, U.v. 8.11.1990 - 2 B 89.339 - BeckRS 1990, 8661 - jew. m.w.N. zur Rspr; Kraus in Busse/Kraus, a.a.O, Art. 6, Rn. 26 ff.). Rechte des oder der jeweiligen Nachbarn werden in solchen Fällen aber nur dann verletzt, wenn die bauliche Änderung - wie vorliegend der Fall - die dem jeweiligen Nachbargrundstück zugewandte Außenwand betrifft und diese infolge der Gesamtbetrachtung die erforderlichen Abstandsflächen nicht einhält (vgl. BayVGH, B.v. 24.3.2017, a.a.O.).
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Daran gemessen wirft die geplante Aufstockung die Frage der abstandsflächenrechtlichen Zulässigkeit des gesamten Gebäudes auf.
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Der (Gesamt-)Baukörper liegt nach der Bestandsdarstellung des Grundrissplans bei einer Messung mit dem Lineal etwa 0,9 m von der Südwest-Ecke des klägerischen Grundstücks entfernt und unterschreitet damit sehr deutlich den sowohl nach bisheriger als auch nach aktueller Rechtslage zu beachtenden gesetzlichen Mindestabstand von 3 m (Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO n.F. = a.F.), der allenfalls an der Nordost-Ecke des Garagengebäudes eingehalten wird. Von der Unterschreitung des Mindestabstands betroffen ist damit nahezu der gesamte Bereich der gemeinsamen Grundstücksgrenze der Fl.Nrn. … und … auf einer Länge von etwa 11,5 m. Ob das Bestandsgebäude - welches auch ohne Berücksichtigung des Carports unstrittig länger als 9 m ist und somit nicht die Privilegierungsvoraussetzungen des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO a.F. = Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 n.F.) erfüllt - in der Vergangenheit legal errichtet wurde, kann im Rahmen der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung dahinstehen. Denn bei dem Vorhaben handelt es sich um eine ganz erhebliche Änderung des Bestandsgebäudes, mit der das bislang erdgeschossige Flachdachgebäude ein weiteres Vollgeschoss mit Satteldach erhält. Selbst die isolierte Neuerrichtung eines Satteldachs wäre demgegenüber nach den Ausführungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in seiner Entscheidung vom 20. Februar 1990 (Az. 14 B 88.02464 - juris Rn. 21) nicht ohne weiteres bzw. nicht ohne Erteilung einer entsprechenden Abweichung von den einzuhaltenden Abstandsflächen möglich. Der 14. Senat des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs führt in dieser, den Einbau einer Gaube betreffenden Entscheidung aus: “So ginge es beispielsweise schwerlich an, die Aufbringung eines Satteldachs auf einem Gebäude, das sich längs einer Grenze erstreckt und bisher ein Flachdach trägt, abstandsflächenrechtlich allein mit der Erwägung gutzuheißen, es sei nur auf die geplante Änderung abzustellen, die vorgesehene Dachneigung überschreite jedoch nicht 45 Grad (s. hierzu Art. 6 Abs. 3 Satz 4 BayBO); zur Erforderlichkeit von Befreiungen für solche Aufstockungen grenznaher Flachdachgebäude s. OVG Lüneburg vom 10.3.1986 und vom 2.7.1986 BauR 1987, 74 und 76).“.
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Der Umstand, dass sich an der Grundstücksgrenze ein Geländesprung befindet, sodass das bestehende Garagengebäude deutlich tiefer liegt als das klägerische Grundstück (vgl. Foto Bl. 39 d.BA bzw. 80 d.GA), rechtfertigt keine andere Bewertung. Die Abstandsfläche einer Wand ist immer von der Geländeoberfläche des Baugrundstücks aus zu bestimmen. Unterschiede in der Höhenlage zwischen Bau- und Nachbargrundstück sind für die Bemessung der Abstandsfläche mithin grundsätzlich irrelevant (vgl. Kraus in Busse/Kraus, a.a.O., Rn. 168 m.w.N.). In Hinblick auf die Ausführungen der Klageerwiderung ist ferner klarzustellen, dass der Gesetzgeber heute zwar nicht mehr ausdrücklich zwischen natürlicher oder festgelegter Geländeoberfläche differenziert, grundsätzlich aber auf die natürliche Geländeoberfläche, d.h. auf die gewachsene und nicht die durch Aufschüttungen oder Abgrabungen veränderte Geländeoberfläche als unterer Bezugspunkt i.S.d. Art. 6 Abs. 4 Satz 2 BayBO (a.F. = n.F.) abzustellen ist (vgl. Kraus in Busse/Kraus, a.a.O., Rn. 188 ff. m.w.N.). Zwar kann eine veränderte Geländeoberfläche nach längerer Zeit, die sich nach den Umständen des Einzelfalls bestimmt, zur natürlichen Geländeoberfläche werden (vgl. Kraus in Busse/Kraus, a.a.O., Rn. 191; BayVGH, B.v. 12.2.2020 - 15 CS 20.45 - BayVBl. 2020, 444; BayVGH, B.v. 7.11.2017 - 1 ZB 15.1839 - juris Rn. 5), auch dies führt jedoch nicht dazu, dass das Flachdach des Garagengebäudes als Teil einer baulichen Anlage mit der natürlichen Geländeoberfläche gleichzusetzen wäre; maßgeblich ist vielmehr das unterhalb des Bestandsgebäudes liegende Geländeniveau. Anderes gilt nur im Falle einer Neufestlegung des Geländeniveaus, wobei eine solche einen förmlichen Rechtsakt der Behörde erfordert (vgl. Kraus in Busse/Kraus, Bay-BO, Stand März 2021, Art. 6, Rn. 188 ff.; BayVGH, B.v. 12.2.2020 - 15 CS 20.45 - juris Rn. 30; BayVGH, B.v. 28.9.2001 - 1 CS 01.1612 - juris Rn. 12 f.; BayVGH, B.v. 30.4.2007 - 1 CS 06.3335 - juris Rn. 24). Abgesehen davon, dass allein die Darstellung einer neuen Geländeoberfläche in den genehmigten Bauvorlagen für eine Neufestlegung des Geländes nicht ausreichend ist (vgl. BayVGH, B.v. 30.4.2007 - 1 CS 06.3335 - juris Rn. 24 m.w.N. zur Rspr.; offengelassen: BayVGH, B.v. 27.12.2006 - 25 CS 06.3222, BeckRS 2009, 40612), wird ein von dem bestehenden Gelände abweichendes geplantes Geländeniveau im vorliegenden Eingabeplan gar nicht ausgewiesen. Allein die unnatürlich anmutende, unbeschriftete „Geländedarstellung“ in der Ostansicht reicht hierfür jedenfalls nicht aus. Eine Darstellung des bestehenden Geländes mit entsprechender Bezeichnung findet sich lediglich in der Südansicht des Eingabeplans und zwar unmittelbar vor der Gebäudedarstellung sowie im Bereich der Darstellung des Geländeniveaus auf dem benachbarten Grundstück der Klägerin. Der Südansicht lässt sich damit der bereits angesprochene Geländesprung entnehmen, es ergeben sich daraus aber keinerlei Anhaltspunkte für eine auch nur beantragte Neufestlegung des Geländes.
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Entgegen der Auffassung des Landratsamts ist das Vorhaben schließlich auch nicht deshalb abstandsflächenrechtlich als eigener Baukörper zu behandeln, weil es an einer inneren Verbindung (z.B. Treppenaufstieg) zwischen dem Garagentrakt im Erdgeschoss und dem geplanten Lager-/ Abstellraum fehlt. Denn das Vorhaben wird gerade nicht auf der natürlichen Geländeoberfläche, sondern auf dem bereits vorhandenen Gebäudebestand errichtet, sodass letzterer schon aus statischen Gründen nicht einfach hinweg gedacht werden kann, sondern zwingende Grundvoraussetzung für die Realisierung des Vorhabens in der beantragten Form ist (vgl. auch die Vorhabensbezeichnung: „Aufstockung der bestehenden Garage …“). Lediglich ergänzend wird angemerkt, dass durch die geplante versetzte Errichtung des Aufbaus im südlichen Bereich des Garagengebäudes zusätzlich ein durch Säulen abgestützter, überdachter Bereich von - mit dem Lineal gemessen - bis zu 2,8 m Breite entsteht, welcher von den Garagennutzern zusätzlich funktionell genutzt werden kann (vgl. dazu die Süd-Ansicht des Eingabeplans).
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Insgesamt erscheint die abstandsflächenrechtliche Gesamtsituation durch das Vorhaben damit in einem neuen Licht, sodass die Gewährung einer Abweichung erforderlich gewesen wäre. Eine solche wurde jedoch vorliegend weder beantragt noch erteilt. Durch den Verstoß gegen Art. 6 Abs. 5 Satz 1 BayBO (a.F. = n.F.) werden die subjektiv-öffentlichen Nachbarrechte der Klägerin verletzt.
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1.2 Die Klägerin kann sich auf diese Rechtsverletzung auch berufen. Ein Nachbar kann sich nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) gegenüber einer Baugenehmigung grundsätzlich nur dann nicht mit Erfolg auf die Verletzung einer nachbarschützenden Vorschrift berufen, wenn auch die Bebauung auf seinem Grundstück den Anforderungen dieser Vorschrift nicht entspricht und wenn die beidseitigen Abweichungen etwa gleichgewichtig sind und nicht zu - gemessen am Schutzzweck der Vorschrift - schlechthin untragbaren, als Missstand zu qualifizierenden Verhältnissen führen (vgl. etwa BayVGH, U.v. 4.2.2011 - 1 BV 08.131 - juris Rn. 37; BayVGH, B.v. 23.12.2013 - 15 CS 13.2479 - juris Rn. 13; VGH BW, B.v. 4.1.2007 - 8 S 1802/06 - juris Rn. 4; OVG NRW, U.v. 26.6.2014 - 7 A 2057/12 - juris Rn. 39). Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt, weil die grenzständig errichtete Scheune auf dem Grundstück der Klägerin nach den behördlichen Messungen (vgl. Kontrollbericht, Bl. 40 d.BA) lediglich 5,20 m lang ist. Die Wandhöhe der Scheune lässt sich den Akten zwar nicht entnehmen, dürfte nach dem Eindruck des von der Klägerseite vorgelegten Lichtbilds (Bl. 81 d.GA) aber eine mittlere Wandhöhe von 3 m wohl nicht überschreiten, sodass die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 9 Satz 1 Nr. 1 BayBO a.F. bzw. des Art. 6 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BayBO n.F. insoweit erfüllt sein dürften. Selbst wenn die Scheune eine mittlere Wandhöhe von 3 m geringfügig überschreiten sein sollte, lässt sich jedenfalls keine „Gleichwertigkeit“ in den beiderseitigen Abweichungen von den Anforderungen des Abstandsflächenrechts feststellen.
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2. Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. § 162 Abs. 3 VwGO stattzugeben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff ZPO.