Titel:
Erfolglose Asylklage einer türkischen Staatsangehörigen
Normenketten:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, § 60a Abs. 2c S. 2, S. 3
EMRK Art. 3
Leitsatz:
In der Türkei bestehen hinreichende Behandlungsmöglichkeiten im Hinblick auf psychische Erkrankungen. (Rn. 46 – 47) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Asyl, Herkunftsland Türkei, Abschiebungsverbote (verneint), Demenz und Depressionen, Abschiebungsverbot, Türkei, Rückkehrprognose, Familienverband, volljährige Kinder, wirtschaftliches Existenzminimum, psychische Erkrankung
Fundstelle:
BeckRS 2021, 25812
Tenor
I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Die Klägerin ist türkische Staatsangehörige und begehrt mit ihrer Klage die Feststellung von Abschiebungsverboten. Sie steht unter Betreuung. Zum Betreuer wurde der Sohn der Klägerin bestellt.
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Die Klägerin, am … in …, Türkei, geboren, ist türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Ihren Familienstand gab sie mit getrennt lebend an. Am 8. Februar 2017 stellte die Klägerin einen Asylantrag. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) führte am selben Tag eine Anhörung durch. Dabei gab die Klägerin an, sie sei am 25. November 2015 aus der Türkei ausgereist und unter anderem über Bulgarien am 11. Dezember 2015 in Deutschland eingereist.
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Die Asylklagen der volljährigen, ebenfalls ausgereisten Tochter der Klägerin und deren Kind trägt das Az. M 1 K 17.40855, das des volljährigen Sohns Az. M 1 K 17.40851. Die Klagen dieser Familienmitglieder sind mit Urteilen vom 30. April 2021 abgewiesen worden.
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In einer weiteren Anhörung am 22. Februar 2017 erklärte die Klägerin, sie sei kurdische Jesidin und geboren in … Bis zum Tag ihrer Ausreise hätte sie sich im Stadtviertel …, … aufgehalten. Dort hätten sie 10 Jahre lang gelebt. Sie habe dort mit ihrem Sohn, ihrer Tochter, einem anderen Sohn und dessen Familie in einer Eigentumswohnung gewohnt. Die Wohnung hätten sie verkauft. Mit dem Geld seien sie nach Deutschland gereist. Sie habe Anfang August 2015 die Türkei verlassen und sei am 22. August 2015 in Deutschland eingereist. Sie wisse nur, dass sie über Bulgarien eingereist sein, die anderen Länder kenne sie nicht. In … seien sie angekommen, dort lebe ihre Schwester. Sie hätten ihr Haus für 60.000 TRY verkauft, dem Schleuser hätten sie 20.000 EUR bezahlt. Mit ihren zwei verheirateten Töchtern, die in der Türkei seien, telefoniere sie ab und zu. Zu dem Vater ihrer Kinder habe sie seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr. Sie sei nie zur Schule gegangen, als Saisonarbeiterin gearbeitet und ansonsten Hausfrau gewesen. Ihre Kinder hätten gearbeitet und sie dadurch unterstützt.
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Zu ihren Fluchtgründen befragt, gab die Klägerin in der Anhörung an, ihr Sohn sei entführt und gefoltert worden. Sie habe Angst um ihre Kinder gehabt, deshalb seien sie zusammen ausgereist. In der Türkei habe sie niemanden, der sie sonst unterstütze. Die Entführung ihres Sohnes habe sich ein Jahr vor ihrer Ausreise eines Nachts ereignet. Immer wieder seien irgendwelche Leute gekommen, die nach ihrem Sohn gefragt hätten. Dann hätten sie ihre Wohnung verkaufen müssen, was nicht so schnell gegangen sei. Auch woanders in der Türkei würde sie als Kurden diskriminiert. Sie lebe für und wegen ihrer Kinder.
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Mit Bescheid vom 12. Mai 2017 entschied die Beklagte, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft nicht zuzuerkennen, ihren Antrag auf Asylanerkennung und auf Gewährung subsidiären Schutzes abzulehnen, und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthaltsG nicht vorliegen (Nrn. 1 bis 4). Neben der Abschiebungsandrohung in die Türkei (Nr. 5) wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate befristet (Nr. 6). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, eine konkrete Bedrohung oder Verfolgung habe die Klägerin weder individuell noch ausreichend vorgetragen, ebenso wenig, dass ihr bei Rückkehr ein ernsthafter Schaden drohe. Dass die Klägerin vortrage, Probleme mit der Lunge zu haben, begründe keine Abschiebeverbote. Der Bescheid wurde der Klägerin am 17. Mai 2017 zugestellt.
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Die Klägerin hat am … Mai 2017 durch ihren damaligen Bevollmächtigten Klage erhoben und beantragt zuletzt,
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1. Der Bescheid der Beklagten wird in Ziffer 4 bis 6 aufgehoben.
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2. Die Beklagte wird verpflichtet, ein Abschiebungsverbot hinsichtlich der Türkei in Bezug auf die Klägerin festzustellen.
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Mit Schriftsatz vom … Oktober 2018 wird dies damit begründet, dass die Klägerin inzwischen zweimal versucht habe, sich das Leben zu nehmen. Bei einer Abschiebung in die Türkei bestünde aufgrund der diagnostizierten Erkrankungen eine erhebliche Gefahr für Leib und Leben. Die Klägerin sei psychisch schwerwiegend erkrankt und beginnend dement. In der Türkei könne sie unabhängig von grundsätzlich bestehenden Behandlungsmöglichkeiten die erforderliche Behandlung nicht erlangen, da sie keine Krankheitseinsicht habe. Die Krankheit sei aufgrund der psychotischen Symptome lebensbedrohlich. Besonders gefährlich seien die imperativen Stimmen, die die Klägerin zum Suizid aufforderten, ferner sei sie zeitweise orientierungslos und verwirrt und benötige die Betreuung durch nahe Angehörige, die sie in der Türkei jedoch nicht habe. Unter dem … September 2019 wird mitgeteilt, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin sehr verschlechtert habe. Die Klägerin benötige eine umfassende Hilfe in allen Bereichen des Lebens. Entgegen der Annahme im streitgegenständlichen Bescheid sei die Erwerbsfähigkeit zweifelsfrei nicht mehr gegeben. Die Klägerin wäre in der Türkei völlig hilflos und nicht selbständig überlebensfähig. Die Bezugspersonen der Klägerin lebten in Deutschland; eins der Kinder müsse ständig bei ihr sein.
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Es werden folgende Bescheinigungen vorgelegt, auf deren Inhalt Bezug genommen wird:
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- Atteste der Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. Cl. vom 20. Februar 2018 (Diagnose: schwere depressive Episode sowie Verdacht auf Demenz) und vom 17. Oktober 2018 (Diagnose: rezidivierende depressive Störung, Demenz, Analphabetentum, gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen);
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- Arztbericht und ärztliches Attest vom Zentrum für Altersmedizin und Entwicklungsstörungen des kbo, I.-A.-Klinikum …, jeweils vom 13. Juli 2018 sowie Arztbericht vom 23. August 2018 zu stationärem Aufenthalt (Diagnosen: schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen bei rezidivierender depressiver Störung, Differenzialdiagnose schizoaffektive Störung, Anamn. posttraumatische Belastungsstörung, mittlere motorische Funktionseinschränkung, Hypercholesterinämie, arterielle Hypertonie);
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- Gutachten von Dr. med. St. vom 27. Oktober 2018 zu den medizinischen Voraussetzungen der Anordnung einer Betreuung für das Amtsgericht …;
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- Arztbericht von Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Dr. S., kbo, I.-A.-Klinikum … vom 5. August 2019;
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- Ärztliche Atteste von Dr. med. C.-H., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie vom 9. Dezember 2020 und vom 1. März 2021;
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- Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit der Klägerin nach SGB XII der Landeshauptstadt München vom 17. Oktober 2019 (Ergebnis: Pflegegrad 3 seit 9. September 2019);
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- Schwerbehindertenausweis der Klägerin vom 4. April 2019 (GdB 100).
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Die Beklagte beantragt,
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Keines der Atteste erfülle die gesetzlichen Anforderungen. In den Attesten bzw. Gutachten seien unterschiedliche Diagnosen aufgeführt, daher wären weitere Ausführungen zu den Untersuchungsbefunden und einzelnen Testergebnissen zu erwarten gewesen. Es sei nicht ersichtlich, aufgrund welcher Testverfahren sich die Diagnosen gründen und von verwandten Krankheitsbildern abgegrenzt wurden. Ebenso wenig legten die Schriftstücke dar, wie die Verfasser zur Einschätzung des Grades der depressiven Episode gelangten. Die tatsächlichen Umstände, auf deren Basis eine fachliche Beurteilung erfolgt sei, sei nicht dargelegt. Es scheine, als hätten die Ärzte die Angaben der Klägerin ungeprüft übernommen. Es sei nicht erkennbar, warum die Klägerin erst nach über eineinhalb Jahren, aber eineinhalb Monate nach Klageerhebung den Arzt aufgesucht habe. Zur teilweise diagnostizierten PTBS sei nicht einmal dargelegt, welches Traumaerlebnis dieser Krankheit zugrunde liegen solle. Die medizinische Versorgung in der Türkei habe sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert. Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert. Die Klägerin habe außerdem Anspruch auf Unterstützungsleistungen für bedürftige Staatsangehörige. Die gesamte Familie könne gemeinsam ausreisen; es lebten auch noch zwei verheiratete Töchter der Klägerin, mit denen sie in Kontakt stehe.
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Mit Beschluss vom 23. November 2020 hat die Kammer den Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der Behördenakten, auch in den Verfahren der anderen Familienmitglieder (Az. M 1 K 17.40851 und M 1 K 17.40855), Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19. April 2021 entschieden werden, obwohl für die Beklagte niemand erschienen ist. Die Beklagte wurde ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 26. Februar 2021 ordnungsgemäß geladen. Die Beteiligten wurden mit der Ladung gemäß § 102 Abs. 2 VwGO auf die Möglichkeit hingewiesen, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.
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1. Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
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2. Im Übrigen ist die Klage zulässig, jedoch unbegründet.
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Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bezüglich der Türkei. Der streitgegenständliche Bescheid ist in seinen Ziffer 4 bis 6 zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nach § 77 Abs. 1 AsylG rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
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a) Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Insoweit sind die Verhältnisse im Abschiebungszielstaat landesweit in den Blick zu nehmen (BVerwG, U.v. 31.1.2013 - 10 C 15/12 - juris Rn. 26) und die vorhersehbaren Folgen einer Rückkehr unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Lage im Zielstaat als auch der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen (vgl. EGMR, U.v. 20.7.2010 - 23505/09, N./Schweden - HUDOC Rn. 54; v. 28.6.2011 - 8319.07 und 11449.07, Sufi und Elmi/Großbritannien - HUDOC Rn. 216; v. 29.1.2013 - 60367.10, S.H.K/Großbritannien - HUDOC Rn. 72; v. 6.6.2013 - 2283.12, Mohammed/Österreich - HUDOC Rn. 95; v. 5.9.2013 - 61204.09, 1./Schweden - HUDOC Rn. 56).
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Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei „nichtstaatlichen“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein „verfolgungsmächtiger Akteur“ (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ sind mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung. Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus (BVerwG, B.v. 13.2.2019 - 1 B 2/19 - juris Rn. 10). Es kann erreicht sein, wenn der Betroffene seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (BVerwG, U.v. 4. Juli 2019 - 1 C 45/18 - juris Rn.12). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (U.v. 19.3.2019 - C-297/17 u.a., Ibrahim - Rn. 89 ff. und C-163/17, Jawo - Rn. 90ff.) ist darauf abzustellen, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
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Für die Prognose der bei einer Rückkehr drohenden Gefahren ist bei realitätsnaher Betrachtung der Rückkehrsituation regelmäßig davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet tatsächlich zusammenlebende Familie im Familienverband zurückkehrt (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 - 1 C 45.18 - juris Rn. 17 ff.; BayVGH, Urt. v. 21.11.2018 - Az. 13a B 18.30632 - juris Rn. 17 ff.). Auch die volljährigen Kinder sind mit ihren Eltern als „Familie“ im Sinne des Schutzbereichs des Art. 6 Abs. 1 GG zu verstehen (vgl. BVerfG, B.v. 18.4.1989 - 2 BvR 1169/84 - juris Rn. 32; B.v. 21.7.2005 - 1 BvR 817/05 - juris Rn. 14).
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Im Falle der Klägerin liegen keine ernsthaften und stichhaltigen Gründe dafür vor, dass sie tatsächlich Gefahr läuft, bei Rückkehr in die Türkei einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Die allgemeine Versorgungslage in der Türkei stellt weder für sich genommen noch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin eine derartige Behandlung dar. Insbesondere ist davon auszugehen, dass die Klägerin mit der Hilfe ihrer Familie und unter Zuhilfenahme staatlicher Unterstützung ihr Existenzminimum in der Türkei wird sichern können und die erforderliche medizinische Betreuung erhält, wenngleich sie selbst aufgrund ihrer Erkrankungen nicht mehr erwerbsfähig ist.
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Abzustellen ist auf die hypothetische Rückkehr der Klägerin zusammen mit ihren volljährigen Kindern und ihres Enkelkinds. Denn sie leben auch gegenwärtig als Familie zusammenleben, überdies kümmern sich die Kinder in pflegerischer Hinsicht um die Klägerin (vgl. Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach SGB XII vom 17. Oktober 2019, Seite 5); der Sohn ist auch ihr Betreuer. Die Asylklagen ihrer Kinder und der Enkelin wurden ebenfalls abgewiesen, sodass vorbehaltlich der Rechtskraft diese Urteile kein Bleiberecht besteht. Darüber hinaus könnte die Klägerin auf die in der Türkei verbliebene Familie, namentlich ihre zwei Töchter mit deren jeweiligen Familien zurückgreifen und von dort Unterstützung erlangen. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass derzeit kein Kontakt zu den Töchtern bestehen mag; jedenfalls zum Zeitpunkt der Anhörung beim Bundesamt hatten sie an und zu miteinander telefoniert (vgl. Anhörungsprotokoll, S. 3), sodass bei Rückkehr die Möglichkeit besteht, den Familienverbund wiederzubeleben. Ferner ist davon auszugehen, dass - wie auch vor der Ausreise - die Klägerin von ihren Kindern unterstützt wurde, die ihrerseits gearbeitet haben (vgl. Anhörungsprotokoll des Bundesamtes, S. 4); ihre beiden ebenfalls in Deutschland befindlichen Kinder, mit denen sie ausgereist ist, arbeiten den Angaben in dem Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach SGB XII vom 17. Oktober 2019 (dort Seite 5) auch in Deutschland.
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Ergänzend hierzu ist die staatliche Unterstützung in der Türkei in den Blick zu nehmen. In der Türkei existiert zwar keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden aber auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294 über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263 (Gesetz über Organisation und Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität) gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardimlasma ve Dayanisma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (vgl. S. 25 des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 24. August 2020 - im Folgenden: Lagebericht; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Türkei v. 27.1.2021 - im Folgenden: BfA - S. 108 f.; VG Aachen, U.v. 2.8.2019 - 6 K 2167/18.A - juris Rn. 59; VG Augsburg, U.v. 30.4.2019 - Au 6 K 17.33876 - juris Rn. 79; VG München, U.v. 22.2.2021 - M 1 K 17.41644 - Rn. 34; v. 22.2.2021 - M 1 K 17.41103 - Rn. 41, jeweils n.v.).
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Ferner gibt es auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik 43 Sozialprogramme (2019) wie zum Beispiel Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet; Wohnprogramme. Gerade im Hinblick auf die Situation der Klägerin ist hervorzuheben, dass dies auch Einkommen für behinderte und altersschwache Menschen zwischen 567 und 854 TL je nach Grad der Behinderung beinhaltet; zudem existiert eine Unterstützung in Höhe von 1544 TL für Personen, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern. Voraussetzung hierfür ist ein Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie der Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag (vgl. BfA, S. 108).
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In Anbetracht dieser Auskunftslage ist das Gericht der Überzeugung, dass die Klägerin jedenfalls unter Zuhilfenahme staatlicher Unterstützung ihr wirtschaftliches Existenzminimum ohne Verstoß gegen Art. 3 EMRK sichern wird können. Für den Leistungsbezug können die Kinder der Klägerin den notwendigen Behördenkontakt übernehmen.
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Soweit die Klägerin einer engmaschigen Pflege und Hilfe im Alltag bedarf, ist davon auszugehen, dass ihre Familienmitglieder dies übernehmen können (vgl. hierzu sogleich unter b))
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b) Auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor.
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Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
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Grundsätzlich stellt eine schlechtere wirtschaftliche Situation in der Türkei keine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dar. Die Bevölkerung ist dem allgemein ausgesetzt, ein genereller Abschiebestopp nach § 60 Abs. 7 Satz 5 i.V.m. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG wurde nicht erlassen. Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die einen Ausländer im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die Versorgungslage, kann ein Ausländer nur dann Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre, gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen, also mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod, ausgeliefert wäre (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 - 1 C 5.01 - juris Rn. 16).
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Eine solche Lage wird die Klägerin bei Rückkehr in die Türkei nicht vorfinden, weil von einer Sicherung ihres Existenzminimums ausgegangen werden kann (s. unter a).
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Auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitsbedingten Gründen ist nicht anzunehmen. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur vor bei lebensbedrohlichen Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist, § 60 Abs. 7 S. 4 AufenthG. Dabei erfasst die Regelung nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solche ergeben, von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Eine „erhebliche konkrete Gefahr“ im Falle einer zielstaatsbezogenen Verschlimmerung einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung ist daher gegeben, wenn die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr in das Heimatland eintreten würde. Gründe hierfür können nicht nur fehlende Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat sein, sondern auch die tatsächliche Nichterlangbarkeit einer an sich vorhandenen Behandlungsmöglichkeit aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen (BVerwG, U.v. 17.10.2006 - 1 C 18/05 - juris). Im Falle der medizinisch erforderlichen Betreuung muss unterschieden werden: Folgt die Gefahr der Verschlimmerung der Krankheit aus dem Wegfall der Betreuung durch eine bestimmte, nicht ersetzbare Bezugsperson im Bundesgebiet und damit aus dem Vorgang der Abschiebung als solcher, handelt es sich um ein von der Ausländerbehörde zu prüfendes inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis. Ergibt sie sich hingegen aus dem Fehlen der Überwachung einer notwendigen medikamentösen oder ärztlichen Behandlung durch eine - austauschbare - Betreuungsperson oder Betreuungseinrichtung im Herkunftsstaat, so gehört dieser Umstand zu den Verhältnissen im Zielstaat, die im Asylverfahren zu prüfen sind. Ist eine ständige Betreuung Voraussetzung für den tatsächlichen Zugang des Ausländers zu der notwendigen medizinischen Behandlung, kann das Fehlen der Betreuung durchaus zu einer zielstaatsbezogenen Gefahr und damit zu einem Abschiebungshindernis im Sinne des § 60 Abs. 7 AufenhG führen (BVerwG, U.v. 29.10.2002 - 1 C 1/02 - juris Rn. 9 f.).
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Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Nach § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG, welche gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entsprechend gelten, muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
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In Bezug auf die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung erfordert diese nicht nur eine spezifische Symptomatik, sondern auch ein traumatisches Lebensereignis als Auslöser für die Symptomatik (BayVGH, B.v.13.12.2018 - 13a ZB 13.33056 - juris Rn. 9 ff.; B.v. 23.5.2017 - 9 ZB 13.30236 - juris Rn. 8). Die Glaubwürdigkeit des Betroffenen bei Schilderung der Umstände eines eventuell traumatisierenden Ereignisses ist hierbei von entscheidender Bedeutung. Eine posttraumatische Belastungsstörung entsteht als „verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“ (vgl. ICD-10: F.43.1, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme). Die Störung ist also stets die direkte Folge der akuten schweren Belastung; ihr Beginn folgt dem Trauma (vgl. ICD-10: F.43 Info und 11.43.1). Auch geklärt ist insoweit, dass der Nachweis des Ereignisses, „das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“, nicht Gegenstand der gutachtlichen (fachärztlichen) Untersuchung einer posttraumatischen Belastungsstörung ist (vgl. BayVGH, B.v. 17.10.2012 - 9 ZB 10-30390 - juris Rn. 8 m.w.N). Mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln kann ohnehin nicht sicher geschlossen werden, ob tatsächlich in der Vorgeschichte ein Ereignis vorlag und wie dieses geartet war (vgl. Ebert/Kindt, Die posttraumatische Belastungsstörung im Rahmen von Asylverfahren, VBlBW 2004, S. 41 ff.). Nach medizinisch-fachlichen Stellungnahmen wäre es überdies fatal, „einem Patienten mit einer PTBS nicht zu glauben bzw. Zweifel dahingehend entgegen zu bringen, dass seine geschilderten Erlebnisse sich so nicht zugetragen haben“; daher stelle „die Überprüfung der vorgebrachten Inhalte eine juristische Fragestellung“ dar, im Zusammenhang mit fachärztlicher Beratung würden das Leiden und die Bedürftigkeit des Patienten grundsätzlich nicht in Frage gestellt (vgl. zum Ganzen: BayVGH, B.v. 8.10.2019 - 7 B 19.31952, juris Rn. 17; v. 23.5.2017 - 9 ZB 13.30236 - juris Rn. 8 f.; v. 15.2.2017 - 9 ZB 14.30433 - juris Rn. 12).
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Dementsprechend ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs auch geklärt, dass es ausschließlich Sache des Tatrichters ist, sich selbst die nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO notwendige Überzeugungsgewissheit von der Wahrheit des Parteivortrags zu verschaffen (BVerwG, B.v. 22.2.2005 - 1 B 10.05 - juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 17.1.2018 - 10 ZB 17.30723 - juris Rn. 5). Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers gehört - auch in schwierigen Fällen - zum Wesen der richterlichen Rechtsfindung, vor allem der freien Beweiswürdigung (BVerwG, B.v. 18.7.2001 - 1 B 118.01 - juris Rn. 3). Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung umfasst dabei sowohl die Würdigung des Vorbringens der Partei im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren einschließlich der Beweisdurchführung als auch die Wertung und Bewertung vorliegender ärztlicher Atteste sowie die Überprüfung der darin getroffenen Feststellungen und Schlussfolgerungen auf ihre Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit. Der Sachverständige begutachtet demgegenüber lediglich als „Gehilfe“ des Richters einen grundsätzlich vom Gericht festzustellenden (Mindest-)Sachverhalt aufgrund seiner besonderen Sachkunde auf einem Fachgebiet (vgl. BVerwG, U.v. 6.2.1985 - 8 C 15.84 - juris Rn. 16). Die Feststellung der Wahrheit von Angaben des Asylbewerbers oder der Glaubhaftigkeit einzelner Tatsachenbehauptungen unterliegt als solche nicht dem Sachverständigenbeweis (BVerwG, B.v. 22.2.2005 - 1 B 10.05 - juris; zum Ganzen: BayVGH, B.v. 8.10.2019 - 7 B 19.31952, juris Rn. 18; v. 17.1.2018 - 10 ZB 17.30723 - juris Rn. 5).
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Bei der Klägerin werden im Arztbrief vom 13. Juli 2018 eine schwere depressive Episode mit psychotischen Symptomen bei rezidivierender depressive Störung diagnostiziert, eine Differenzialdiagnose auf eine schizoaffektive Störung gestellt sowie anamnestisch eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS). Das Attest vom 23. August 2018 schließt sich dem an und stellt einen Suizidversuch durch versuchte Strangulation am 9. August 2018 fest, desgleichen ein Attest vom 5. August 2019, das einen weiteren Suizidversuch feststellt. Ein Attest vom 17. Oktober 2018 bestätigt die rezidivierende depressive Störung und stellt eine gegenwärtig schwere Episode mit psychotischen Symptomen fest, diagnostiziert jedoch keine PTBS. Das Gutachten vom 27. Oktober 2018 geht ebenfalls von einer rezidivierenden depressiven Störung aus; eine etwaige PTBS wird nicht erwähnt. Im Hinblick auf die Klägerin wurde der Pflegegrad der Stufe 3 seit 9. September 2019 festgestellt sowie ein Grad der Behinderung von 100. Attesten vom 9. Dezember 2020 und 1. März 2021 zufolge leidet die Klägerin überdies an einer Demenz bei Alzheimer-Krankheit mit frühem Beginn (Typ 2).
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aa) In der Türkei bestehen hinreichende Behandlungsmöglichkeiten, auch im Hinblick auf psychische Erkrankungen.
47
In der Türkei sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet (vgl. Lagebericht, S. 25). Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde eine universelle Gesundheitsversicherung eingeführt. Zum 1. Januar 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt. Der grundsätzlichen Krankenversicherungspflicht unterliegen alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei (vgl. Lagebericht, S. 26). Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90% der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens. Überdies sind u.a. Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Seit 2017 wird das Gesundheitsversorgungswesen der Türkei neu organisiert, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden. Es handelt sich dabei zum Teil um riesige Komplexe, die über eine Belegkapazität von tausenden von Betten verfügen sollen und zum Teil auch schon verfügen. Im Rahmen der Reorganisation sollen insgesamt 31 Stadtkrankenhäuser mit mindestens 43.500 Betten entstehen. Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und postoperationelle Versorgung dagegen oft mangelhaft, nicht zuletzt aufgrund der mangelhaften sanitären Zustände und Hygienestandards in den staatlichen Spitälern, vor allem in ländlichen Gebieten und kleinen Provinzstädten. Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert, vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite - vor allem in ländlichen Provinzen - bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz, Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit. Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 28 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums sowie 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren (vgl. zum Vorstehenden: BfA, S. 112 f.).
48
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu - SGK) anmelden. Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (vgl. BfA, S. 113).
49
Es ist daher von einer grundsätzlichen Behandelbarkeit der Erkrankungen der Klägerin in der Türkei auszugehen.
50
bb) Bei den vorgelegten Unterlagen im Hinblick auf die diagnostizierten psychischen Erkrankungen handelt es nicht um qualifizierte ärztliche Bescheinigungen, die im Sinne von § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenhG den Anforderungen an die Glaubhaftmachung genügen. Es fehlt insbesondere an der Darlegung der tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage die fachlichen Beurteilungen erfolgt sind. Auch die Methode der Tatsachenerhebung bleibt unklar.
51
cc) Das Gericht vermag sich auch keine Überzeugung vom Vorliegen einer PTBS, wie sie in einigen Attesten diagnostiziert wurde, bilden. Es wird schon nicht erkennbar, welches traumatisches Ereignis dies hervorgerufen haben soll. Ferner wird in den medizinischen Bescheinigungen weder dargelegt, noch ist es anderweitig ersichtlich, dass es bei einer Rückkehr in die Türkei zu einer Retraumatisierung kommen könnte.
52
dd) Im Hinblick auf die anderen diagnostizierten Erkrankungen ist nicht davon auszugehen, dass sich diese durch die Abschiebung in die Türkei bis hin zur Lebensbedrohlichkeit wesentlich verschlechtern würden.
53
Soweit darauf verwiesen wird, dass die Klägerin keine Einsichtsfähigkeit in ihre Krankheit hat und ihre engmaschige Betreuung erforderlich ist, führt dies hier nicht dazu, dass dies - im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung - der fehlenden Behandlungsmöglichkeit gleichzusetzen wäre. Die in den Attesten vom 1. März 2021 und vom 9. Dezember 2020 gegen eine Rückkehr geäußerten Bedenken gegen eine Rückkehr lauten dahingehend, dass die Klägerin engmaschige psychiatrische und neurologische Betreuung und Unterstützung brauche. Eine Rückkehr in ihrer Heimat hätte negative gesundheitliche Auswirkungen. Sie sei nicht in der Lage, ihren Alltag allein zu bewältigen, da sie zwingend auf Hilfe angewiesen sei. Sie müsse bei ihrer Familie leben und können auf keinen Fall in ihrer Heimat alleine überleben und müsse die Möglichkeit bekommen, hier bei ihrer Familie zu bleiben. Alle anderen Maßnahmen wären absolut verantwortungslos, die Klägerin müsse weiterhin regelmäßig bei der attestierenden Ärztin behandelt werden.
54
Diesen ärztlichen Bedenken gegen eine Rückkehr werden dadurch begegnet, dass nicht damit zu rechnen ist, dass die Klägerin bei Rückkehr auf sich allein gestellt sein wird. Tatsächlich ist davon auszugehen, dass weiterhin Familienangehörige wie etwa ihre derzeit mit ihr in Deutschland befindlichen Kinder um sie sein werden, die - wie bisher auch - etwaige erforderliche medizinische Behandlungen veranlassen und die tägliche Betreuung übernehmen werden. Wie sich aus dem Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach SGB XII vom 17. Oktober 2019 ergibt (dort S. 5), kümmern sich beide derzeit in Deutschland befindlichen Kinder an sieben Tagen in der Woche um die Klägerin, wobei die Tochter hierfür 21 Stunden, der Sohn 14 Stunden wöchentlich an Pflegeaufwand angibt.
55
Soweit bei der Klägerin von motorischen Funktionseinschränkungen, einer Hypercholesterinämie und einer arteriellen Hypertonie auszugehen ist (vgl. etwa Attest vom 13. Juli 2018), ist desgleichen auf die Behandlungsmöglichkeiten in der Türkei zu verweisen.
56
Es bleibt nach alledem bei der gesetzlichen Vermutung, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen (vgl. § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthaltsG).
57
c) Gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung auf der Grundlage von § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthaltG bestehen keine Zweifel. Ebenso wenig zu beanstanden sind das Einreise- und Aufenthaltsverbot und dessen Befristung in Nummer 6 des angefochtenen Bescheids. Die Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 1, § 75 Nr. 12 AufenthG ist ermessensgerecht erfolgt.
58
II. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 155 Abs. 2, 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.