Inhalt

VG Regensburg, Urteil v. 25.05.2021 – RN 4 K 20.242
Titel:

Keine Untätigkeit des zuständigen örtlichen Jugendhilfeträgers bei ablehnender Sachentscheidung

Normenkette:
SGB VIII § 86d, § 89c Abs. 1 S. 2, § 89d
Leitsatz:
§ 86d SGB VIII ist nicht in der Variante der "Untätigkeit" erfüllt, wenn der örtlich zuständige Jugendhilfeträger seine Zuständigkeit bereits bejaht und eine Entscheidung in der Sache getroffen hat, die auch in der Ablehnung einer begehrten Leistung bestehen kann. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Begriff der Untätigkeit des zuständigen örtlichen Trägers, Keine Untätigkeit bei ablehnender Sachentscheidung, Jugendhilfe, Kostenerstattung, Untätigkeit, örtliche Zuständigkeit
Fundstelle:
BeckRS 2021, 24520

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Kläger trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt. Das Urteil ist im Kostenpunkt vorläufig vollstreckbar.
III. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet

Tatbestand

1
Der Kläger begehrt vom Beklagten Kostenerstattung für erbrachte Jugendhilfeleistungen.
2
Am 23.8.2015 reiste A. als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling illegal nach Deutschland ein. Zunächst wurde er in der Notunterkunft … im Landkreis Deggendorf untergebracht. Bei der Erstbefragung durch Mitarbeiter des Beklagten revidierte er seine erste, gegenüber der Polizeiinspektion Deggendorf erfolgte Aussage, dass er am …1999 geboren sei dahingehend, dass er am …1998 geboren sei. Hierzu legte er ein syrisches Ausweisdokument (Auszug aus dem Zivilregister) vor. Das Geburtsdatum von A. wurde daraufhin auf den …1998 festgelegt.
3
Mit Bescheid vom 27.10.2015 gewährte das Landratsamt D. für A. Hilfe zur Erziehung in Form von Kostenübernahme für die Unterbringung im Heim … ab dem 1.10.2015. In der Folgezeit war A. in verschiedenen vollstationären Jugendhilfeeinrichtungen im Landkreis Deggendorf untergebracht (…, …).
4
Mit Bescheid vom 23.2.2016 stellte das Landratsamt D. die A. gewährte Hilfe zur Erziehung in Form der Heimerziehung zum 2.2.2016 ein und entschied, dass der Jugendliche zum 2.2.2016 in Obhut genommen werde.
5
Mit Bescheid vom 16.2.2016 wies die Regierung A. in Vollzug des Asylverfahrensgesetzes dem Landkreis Regen zu, wobei ihm zum 1.3.2016 als künftiger Wohnsitz die Gemeinschaftsunterkunft … zugewiesen wurde. Vom 1.3.2016 bis 31.1.2017 hatte A. seinen Aufenthalt im Landkreis Regen.
6
Mit Bescheid vom 10.10.2016 stellte das Landratsamt D. die für A. im Bescheid vom 23.3.2016 gewährte Hilfe für junge Volljährige in Form von Kostenübernahme für die Betreuung durch eine Erziehungsbeistandschaft ein. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass die Hilfe nicht gewährt werde, weil sie aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen gemäß Hilfeplan derzeit nicht notwendig erscheine. Auf den Einspruch von A. erließ das Landratsamt D. am 28.10.2016 einen Bescheid, mit dem ihm Hilfe für junge Volljährige in Form von Kostenübernahme für die Betreuung durch eine Erziehungsbeistandschaft durch den Träger Familien-Interventions-Team ab dem 13.10.2016 gewährt wurde.
7
Im Rahmen der Hilfeplanfortschreibung kamen die Teilnehmer des Hilfeplangesprächs im Landratsamt D. am 7.2.2017 zum Ergebnis, dass aus pädagogischer Sicht die Hilfe für junge Volljährige zum 28.2.2017 zu beenden sei. Es sei mitgeteilt worden, dass A. Anfang Februar eine Wohnung in … beziehen könne. Bei dem jungen Erwachsenen seien im Berichtszeitraum nur geringe Fortschritte in jeglicher Hinsicht, beispielsweise in der Sprachentwicklung oder im Bereich der häuslichen Fertigkeiten erkennbar geworden, eine Weiterentwicklung der Persönlichkeit und ein weiterer Ausbau der Selbständigkeit sei kaum sichtbar. Dem jungen Volljährigen solle bis Ende Februar 2017 weiterhin Hilfe für junge Volljährige gewährt werden, um ihn bei seinem bevorstehenden Umzug in eine eigene Wohnung zu unterstützen.
8
Mit Bescheid vom 13.2.2017 wurde die für A. im Bescheid vom 28.10.2016 gewährte Hilfe für junge Volljährige in Form von Kostenübernahme für die Betreuung durch eine Erziehungsbeistandschaft mit Ablauf des 28.2.2017 eingestellt.
9
Mit Schreiben vom 5.4.2017 wandte sich A. an den Kläger und beantragte Hilfe für junge Volljährige, weil er Hilfe beim Lernen brauche und weil er so viele Sorgen habe. Diesen Antrag übersandte der Kläger am 19.4.2017 an den Beklagten. Gemäß § 86 a Abs. 4 Satz 3 SGB VIII sei der Beklagte für eine weitere Hilfegewährung weiterhin zuständig.
10
In seinem Antwortschreiben verwies der Beklagte auf das Hilfeplangespräch vom 19.1.2017. Diesem zufolge seien keine wesentlichen Fortschritte erkennbar. Es ergebe sich kein besonderer jugendhilferechtlicher Bedarf. Hinsichtlich des immer wieder auftretenden selbstverletzenden Verhaltens sei bereits im Hilfeplan vom 5.9.2016 sowie im Hilfeplan vom 19.1.2017 angeregt worden, dass A. regelmäßig eine Psychologin bzw. Psychotherapeutin aufsuchen solle, um traumatische Erlebnisse der Vergangenheit oder aktuelle Belastungen aufarbeiten zu können. Im Übrigen wurde auf unterschiedliche Vereine in der Stadt Straubing verwiesen, welche sich um Jugendliche bzw. junge Erwachsene bemühten.
11
In einer sozialpädagogischen Stellungnahme vom 22.5.2017 kam der Beklagte zum Ergebnis, dass davon ausgegangen werden könne, dass eine Weiterführung der ambulanten Maßnahme künftig keine Änderung herbeiführen werde. Durch die Unterstützung der Betreuerin von A., Frau B., welche sich u.a. um die Gesundheitsfürsorge, den Umgang mit Behörden, Versicherungen und anderen Institutionen kümmere, erhalte er aus Sicht des Beklagten ausreichend Unterstützung, so dass eine ambulante Nachbetreuung oder sonstige Unterstützungsmaßnahmen aus Sicht des Jugendamts als nicht notwendig erachtet würden. Nach Auffassung des Beklagten sei A. ein erwachsener junger Mann, welcher durchaus in der Lage sei, sein Leben eigenständig zu bestreiten. Eine Jugendhilfeleistung werde als nicht notwendig und vor allem nicht geeignet und sinnvoll angesehen.
12
Mit Schreiben vom 17.7.2017 teilte der Kläger dem Beklagten mit, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im folgenden Bundesamt) mitgeteilt habe, dass der vorgelegte Auszug aus dem Personenstandsregister nicht als Identitätsnachweis geeignet sei. Er sei vom Bundesamt einbehalten worden. Daher habe der Kläger das Geburtsdatum von A., wie im Familienbuch angegeben, auf den …1999 abgeändert.
13
Mit Schreiben vom 20.7.2017 erwiderte der Beklagte der Klägerin, das A. im September 2016 ein Dokument der UNHCR vorgelegt habe, in welchem sein Geburtsdatum auf den …1999 datiert werde. Dazu habe er sein Familienbuch erhalten und übersetzen lassen. Auch in diesem sei der …1999 als Geburtsdatum angegeben. Die Altersangabe der Schwester (.2010) im UNHCR-Dokument widerspreche jedoch den Angaben des jungen Menschen im Rahmen der Altersfeststellung, da er gesagt habe, seine Schwester sei 10 Jahre alt. Aufgrund dieses Widerspruchs sei das Dokument nicht anerkannt worden. Im Hinblick auf die widersprüchlichen Aussagen bezüglich des Geburtsdatums und aufgrund des Entwicklungsstands des jungen Menschen, seiner Verhaltensweisen und der Einschätzung des Amts für Jugend und Familie Deggendorf sei eine Minderjährigkeit auszuschließen. Eine Altersänderung werde somit nicht in Betracht gezogen. Eine Altersfeststellung bzw. das Feststellen einer Minderjährigkeit obliege ausschließlich dem Jugendamt. Aufgrund der bestehenden Zweifel werde der junge Mensch innerhalb des Amts des Beklagten weiterhin mit dem festgelegten Geburtsdatum …1998 geführt. Der Beklagte forderte die Klägerin auf, ggf. eine festgesetzte Minderjährigkeit zu revidieren.
14
Am 27.4.2017 wurde Rechtsanwältin C. durch das Amtsgericht Straubing zur vorläufigen Betreuerin von A. bestellt.
15
Mit Schreiben vom 5.12.2016 teilte A. dem Bundesamt mit, dass er auf seiner Flucht ein gefälschtes Dokument bei sich gehabt habe, um in die Türkei einreisen zu können. Bei der Polizei in Deggendorf habe er sein richtiges Geburtsdatum (.1999) angegeben, der Dolmetscher habe allerdings auf dem gefälschten Datum bestanden. Er bitte um baldige Änderung seines Geburtsdatums.
16
Mit Beschluss vom 20.7.2017 stellte das Amtsgericht Straubing fest, dass die elterliche Sorge der Eltern bezüglich des Kindes A., geb. am …1999 ruhe, da beide Elternteilte auf längere Zeit die elterliche Sorge tatsächlich nicht ausüben könnten.
17
Mit Beschluss vom 21.7.2017 wurde durch das Amtsgericht Straubing für A. Vormundschaft angeordnet und Frau Rechtsanwältin C. ausgewählt.
18
Am 16.8.2017 fand im Landratsamt Straubing-Bogen ein Hilfeplangespräch statt. Dabei kam der allgemeine Sozialdienst zur Einschätzung, dass A. zu einer eigenständigen Lebensführung weitere Unterstützung durch Fachpersonen benötige. Der Jugendliche sei noch nicht selbständig genug, um für sich alleine zu sorgen. Er benötige vor allem hinsichtlich einer klaren Tagesstruktur, bei Behörden- und Ämtergängen und seiner emotionalen Stabilisierung bzw. Anbindung an einen Psychologen Hilfe. Es wurde vorgeschlagen, ab dem 16.8.2017 Erziehungsbeistandschaft im Rahmen von vier Wochenstunden und ab dem 1.9.2017 Hilfe für junge Volljährige in Ausgestaltung einer Erziehungsbeistandschaft im Rahmen von vier Wochenstunden zu gewähren.
19
Mit Bescheid vom 27.9.2017 bewilligte der Kläger für A. für den Zeitraum vom 16.8.2017 bis 31.8.2018 Hilfe zur Erziehung in Form der Erziehungsbeistandschaft nach § 30 SGB VIII und beauftragte mit der Betreuung das …-Team, … Ziel der Erziehungsbeistandschaft sei es, die Eigenverantwortung, Selbständigkeit, soziale Integration, Sozialkompetenz und lebenspraktische Fähigkeiten zu fördern und eine schulische bzw. berufliche Perspektive zu entwickeln.
20
Ab dem 1.9.2017 wurde eine Hilfe für junge Volljährige in Form der Erziehungsbeistandschaft nach § 30 SGB VIII bewilligt.
21
Mit Schreiben vom 27.9.2017 (Blatt 156 der Akten) beantragte der Kläger beim Beklagten Kostenerstattung gem. § 89 d Abs. 1 Satz 2 SGB VIII und Fallübernahme der laufenden Hilfe für junge Volljährige. Zur Begründung stützte er sich darauf, dass der Beklagte auf Grundlage von § 86 a Abs. 4 Satz 3 SGB VIII zuständig gewesen wäre, weil die Hilfe innerhalb der gesetzten Frist von drei Monaten herangetragen worden sei. Aufgrund der Änderung des Geburtsdatums habe sich auch die jugendhilferechtliche Zuständigkeit für die zu gewährende Jugendhilfemaßnahme geändert.
22
Nachdem der Beklagte Kostenerstattung und Fallübernahme mit Schreiben vom 27.10.2017 abgelehnt hatte, beantragte der Kläger mit Schreiben vom 13.6.2018 erneut Kostenerstattung und Fallübernahme und stützte sich hierfür auf ein Gutachten des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e.V.. Dieses vertrete die Auffassung, dass der junge Mann am …1999 geboren sei und das Landratsamt D. auf Grundlage von § 89 c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII zur Kostenerstattung verpflichtet sei.
23
Am 22.6.2018 lehnte der Beklagte erneut den Anspruch auf Kostenerstattung ab. Er stützte sich darauf, dass eine auf materiell-rechtlichen Gesichtspunkten beruhende ablehnende Entscheidung keine Untätigkeit im Sinne des § 86 d SGB VIII sei. Es habe keinerlei Bedarf für ein Tätigwerden des Klägers gegeben, was aber Voraussetzung für einen Kostenerstattungsanspruch sei. Die innerhalb der drei Monate gestellten Anträge seien durch den Beklagten bearbeitet und abgelehnt worden. Über die herangetragenen Bedarfe habe dieser in eigener Zuständigkeit entscheiden können.
24
Nachdem A. am 29.6.2018 in eine Schlägerei verwickelt war, bei der ein Mann schwer verletzt wurde, dessen Ableben zunächst nicht ausgeschlossen werden konnte, wurde gegen ihn ein Strafverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung und Verdacht auf ein versuchtes Tötungsdelikt eingeleitet. A. wurde vorläufig festgenommen und anschließend in der Justizvollzugsanstalt untergebracht.
25
Da aufgrund der vorläufigen Inhaftierung eine Hilfe für junge Volljährige in Form der Erziehungsbeistandschaft nicht mehr durchführbar sei und darüber hinaus nicht klar gewesen sei, ob eine solche Jugendhilfemaßnahme überhaupt noch geeignet sei, den Bedarf von A. zu decken, stellte der Kläger mit Bescheid vom 24.7.2018 die mit Bescheid vom 27.9.2017 bewilligte Hilfe für junge Volljährige mit Ablauf des 30.6.2018 rückwirkend ein.
26
Am 14.2.2020 hat der Kläger Klage beim Verwaltungsgericht erhoben.
27
Er trägt vor, dass der Beklagte auf Grundlage von § 86 a Abs. 4 Satz 3 SGB VIII für die ursprünglich beantragte Hilfe für junge Volljährige zuständig gewesen sei, weil diese innerhalb der gesetzten Frist von drei Monaten herangetragen worden sei. Auf eine tatsächliche Hilfeleistung komme es nicht mehr an. Für die Bearbeitung des Antrags bzw. der konkreten Prüfung des Hilfebedarfs mit einer abschließend förmlichen Bewilligung oder Ablehnung sei der Beklagte zuständig gewesen. Zwar gehe aus dem Schreiben des Beklagten vom 22.6.2018 hervor, dass die gestellten Hilfeanträge mehrmals abgelehnt worden seien. Diese Ablehnungen lägen aber dem Kläger nicht vor. Eine Hilfe für junge Volljährige sei durch den Beklagten letztendlich nicht mehr bewilligt worden. Nachdem der Kläger von der Problematik um die Altersfeststellung des jungen Mannes erfahren habe, sei das Geburtsdatum vom …1998 auf den …1999 geändert worden. Auch der Beklagte hätte im September 2016 die Altersfeststellung nach § 42 f SGB VIII vollziehen müssen. Hiernach sei das Alter bzw. die Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen. Nur wenn keine Ausweispapiere vorhanden seien, sei das Alter hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen und festzustellen. Der Argumentation des Beklagten, dass für das Festhalten am "alten" Geburtsdatum die widersprüchlichen Aussagen bezüglich des Geburtsdatums, sein Entwicklungsstand, seine Verhaltensweisen und die Einschätzung der Mitarbeiter aufgeführt würden, könne der Kläger nicht folgen. Wie sich aus der Systematik des § 42 f SGB VIII ergebe, sei immer zuerst das jeweils mitgeführte Ausweisdokument ausschlaggebend, bevor auf andere Möglichkeiten ausgewichen werde. Der Beklagte habe sich anfangs richtigerweise an den damals vorliegenden Auszug aus dem Zivilregister orientiert. Nachdem sich dieses jedoch als Fälschung herausgestellt habe, und gleichzeitig das Familienbuch überprüft und für echt befunden worden sei, aus dem als Geburtsdatum der …1999 hervorgehe, und der Jugendliche bei seiner Einreise auch gegenüber der Polizeiinspektion Deggendorf und später immer wieder dieses Datum als richtiges Geburtsdatum angegeben habe, hätte eine Änderung von Seiten des Beklagten erfolgen müssen. Das Deutsche Institut für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. bestätige in seinem Gutachten vom 30.1.2018 die Auffassung des Klägers bezüglich der Änderung des Geburtsdatums. Es erscheine nicht sachgerecht, wenn mit den widersprüchlichen Aussagen bezüglich des Geburtsdatums seiner Schwester, dem Entwicklungsstand des jungen Menschen und seinen Verhaltensweisen die Wahrheit eines echten Ausweisdokuments angezweifelt werde, insbesondere wenn es nur um einen Altersunterschied von 1,5 Jahren gehe. Unter der Voraussetzung, dass der Kläger vom …1999 als Geburtsdatum ausgegangen sei, sei die Jugendhilfe unter Berücksichtigung der Voraussetzungen der Hilfe zur Erziehung geprüft worden. Unter Zugrundelegung dieses Alters und des klar bestehenden Jugendhilfebedarfs habe aus Sicht des Klägers die Verpflichtung zur Bewilligung einer entsprechenden Hilfe auf Grundlage von § 86 d SGB VIII bestanden. Demzufolge stehe dem Kläger gegenüber dem Beklagten ein Kostenerstattungsanspruch bezüglich der aufgewendeten Kosten für die Leistungen der Jugendhilfe für den Zeitraum vom 16.8.2017 bis 30.6.2018 zu. Soweit der Beklagte angegeben habe, er sei nicht untätig geblieben, sondern habe mehrmals ablehnende Entscheidungen zu den gestellten Hilfeanträgen getroffen, müsse berücksichtigt werden, dass der Beklagte eine Hilfe für junge Volljährige geprüft habe und somit von falschen Gegebenheiten ausgegangen sei.
28
Der Kläger beantragt,
den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger die im Zeitraum vom 16.8.2017 bis 30.6.2018 aufgewendeten Kosten für Leistungen der Jugendhilfe in Höhe von insgesamt 9.691,76 ? gem. § 89 c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII zu erstatten und den zu erstattenden Betrag mit 5%-Punkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit der Klage zu verzinsen.
29
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
30
Er meint, die Voraussetzungen des § 89 c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII seien nicht erfüllt. Der Kläger sei für alle bis Ende Mai 2017 gestellten Anträge von bzw. für den jungen Menschen nicht gem. § 86 d SGB VIII zum vorläufigen Tätigwerden verpflichtet gewesen. Der Beklagte habe bis Ende Mai 2017 seine Zuständigkeit gem. § 86 a Abs. 4 SGB VIII unstrittig anerkannt. Bis dahin sei die Gewährung von Leistungen an den jungen Menschen nicht mehr als drei Monate unterbrochen gewesen. Nach einvernehmlicher Beendigung der Leistungsgewährung durch den Beklagten zum 28.2.2017 habe der junge Mensch erstmals wieder im Zuge der Vorsprache beim Kläger am 5.4.2017 Antrag auf Leistungen gestellt. Diesen Antrag habe der Kläger am 19.4.2017 zuständigkeitshalber an den Beklagten weitergeleitet, der Beklagte habe mit Schreiben und Stellungnahme vom 4.5.2017 den Antrag gegenüber dem jungen Menschen abgelehnt. Die von der Betreuerin mit Schreiben vom 16.5.2017 erfolgte Bitte um Überprüfung der Entscheidung sei mit Schreiben vom 22.5.2017 erneut dargelegt worden, warum keine Leistungen gewährt werden könnten. Mit Schreiben vom 27.5.2017 habe sich die Betreuerin nochmals an den Beklagten gewandt, worauf mit Telefonat vom 26.6.2017 und mit Schreiben vom 18.7.2017 die Gründe für die Ablehnung nochmals dargelegt worden seien. Für das Vorliegen eines wirksamen Verwaltungsakts sei weder die Bezeichnung "Bescheid" noch das Anfügen einer Rechtsbehelfsbelehrung:nach § 31 SGB X erforderlich. Mit Schreiben vom 26.7.2017 habe die zwischenzeitlich bestellte Vormundin Hilfe zur Erziehung in Form einer Erziehungsbeistandschaft beim Kläger beantragt. Ergänzend habe der junge Mensch am 16.8.2017 Hilfe für junge Volljährige für die Zeit ab 1.9.2017 beantragt. Der Kläger habe daraufhin vom 16.8.2017 bis 31.8.2017 Hilfe zur Erziehung und ab 1.8.2017 Hilfe für junge Volljährige bewilligt bekommen, ohne dass eine vorherige Abstimmung der Zuständigkeit für diesen Leistungsantrag mit dem Beklagten erfolgt sei. Der Beklagte sei erst mit dem Antrag des Klägers auf Kostenerstattung und Fallübernahme über die Gewährung von Leistungen informiert worden. Der Beklagte sei nicht örtlich zuständiger Träger gewesen. Die Zuständigkeit richte sich nach § 86 a Abs. 1 SGB VIII. Ein Fortsetzungszusammenhang mit den seit dem Jahr 2015 gewährten Leistungen des Beklagten habe nicht mehr bestanden. Selbst wenn man aufgrund des im April 2017 wieder an den Beklagten herangetragenen Jugendhilfebedarfs nicht von einer Einstellung, sondern lediglich von einer Unterbrechung ausgehe, sei diese zuständigkeitsrechtlich aufgrund ihrer Dauer und den Umständen des Falles erheblich gewesen. Ein Fortsetzungszusammenhang sei nach § 86 a Abs. 4 Satz 2 SGB VIII nur bei einer Unterbrechung von bis zu drei Monaten gegeben. Ein Bedarf auf eine Erziehungsbeistandschaft habe nicht mehr bestanden, weil diese Hilfe nicht mehr geeignet gewesen sei. Eine später vom Kläger vorgenommene anderslautende fachliche Einschätzung im Rahmen eigener Zuständigkeit könne nicht die fachlichen Einschätzungen des Beklagten im Rahmen seiner Zuständigkeit ersetzen.
31
Auch wenn man von einem Geburtsdatum des jungen Menschen am …1999 ausgehen wolle, führe dies zu keinem anderen Ergebnis. In diesem Fall wäre der Beklagte ab dem 1.3.2016 nach den §§ 86, 86 a oder 86 b SGB VIII örtlich nicht mehr zuständig gewesen. Da der junge Mensch vor dem 1.11.2015 in die Bundesrepublik eingereist sei, richte sich die Zuständigkeit nicht nach dem zum 1.11.2015 neu eingefügten § 88 a SGB VIII, sondern unstrittig nach § 86 Abs. 7 SGB VIII. Wäre der junge Mensch nicht am …2016 volljährig geworden, wäre ab …2016 gem. § 86 Abs. 7 Satz 2 SGB VIII der Landkreis Regen für die Gewährung von Leistungen nach § 86 Abs. 7 Satz 2 SGB VIII zuständig geworden, weil der junge Mensch ab …2016 dem Landkreis Regen zugewiesen gewesen sei. In der Folgezeit habe der junge Mensch weder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet des Beklagten begründet, noch sei er dem Beklagten zugewiesen worden.
32
Mit Beschluss vom 9.11.2020 hat das Gericht den Landkreis Regen zum Verfahren beigeladen.
33
Der Beigeladene stellt keinen eigenen Antrag. Er führt aus, dass, sofern von einer Volljährigkeit ab …2016 ausgegangen werde, der Beklagte für die Hilfegewährung ab diesem Zeitpunkt zuständig gewesen wäre. Ein evtl. Zuständigkeitswechsel bezüglich der erneuten Hilfegewährung ab 16.8.2017 berühre den Beigeladenen nicht, da sich A. zu diesem Zeitpunkt bereits im Landkreis Straubing-Bogen aufgehalten habe. Gehe man von einer Minderjährigkeit bis …2017 aus, richte sich die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 7 SGB VIII. Zwar sei A. ab …2016 einer Gemeinschaftsunterkunft im Landkreis zugewiesen worden, jedoch sei diese Zuweisung rein ausländerrechtlicher Natur und betreffe nicht die jugendhilferechtliche Zuständigkeit. Insoweit werde auf ein Schreiben der Regierung von Niederbayern vom 9.1.2017 verwiesen.
34
Der Beklagte hat am 23.11.2020, der Kläger am 24.11.2020 und der Beigeladene am 2.12.2020 auf mündliche Verhandlung verzichtet.
35
Für den Sachverhalt und das Vorbringen der Beteiligten im Übrigen wird Bezug genommen auf die Behördenakten und die Gerichtsakte sowie die wechselseitigen Schriftsätze.

Entscheidungsgründe

36
Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entschieden werden, da die Beteiligten ihr Einverständnis dazu erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).
37
I. Die Klage ist zulässig aber nicht begründet. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch gegen den Beklagten nicht zu. Er kann sich nicht auf § 89 c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII stützen, wonach Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86 d SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten sind, dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach §§ 86, 86 a und 86 b SGB VIII begründet wird.
38
§ 86 d SGB VIII verpflichtet den örtlichen Träger, in dessen Bereich sich das Kind, der Jugendliche oder der junge Volljährige tatsächlich aufhält, für den Fall vorläufig zum Tätigwerden, dass entweder die örtliche Zuständigkeit nicht feststeht oder der zuständige örtliche Träger nicht tätig wird. Zweck der Regelung dieser Norm ist es, Verzögerungen von Jugendhilfeleistungen aufgrund von Zuständigkeitsunklarheiten oder -streitigkeiten zu verhindern (Eschelbach in Münder/Meysen/Trencz, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 8. Aufl. 2019, § 86 d, Rn. 1.) und auszuschließen, dass allein durch das Verweisen der einen auf die andere Behörde und umgekehrt, eine materielle Entscheidung über die Hilfegewährung nicht ergeht (VG Düsseldorf, U.v. 16.7.2007, 19 K 5276/04 - juris Rn. 28).
39
Diese der ratio legis zugrundeliegende Konstellation ist vorliegend nicht gegeben, weil zum Zeitpunkt der Entscheidung des Klägers, A. Jugendhilfeleistungen zu gewähren, also am 27.9.2017, die Zuständigkeit zwischen Kläger und Beklagtem gerade nicht streitig war. Vielmehr gingen damals beide übereinstimmend davon aus, dass der Beklagte zuständiger Jugendhilfeträger war.
40
Ein Tätigwerden des Klägers kann nach der Überzeugung des Gerichts insbesondere auch nicht auf die zweite Alternative des § 86 d SGB VIII, also auf ein "Nicht tätig werden" des zuständigen örtlichen Trägers gestützt werden. Zwar spielt es keine Rolle, ob der zuständige Träger pflichtwidrig untätig bleibt oder aus vertretbaren Gründen nicht tätig wird (Kunkel/Kepert in Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, 7. Aufl. 2018, § 86 d, Rn. 6), eine Untätigkeit liegt aber jedenfalls dann nicht vor, wenn der örtlich zuständige Träger seine Zuständigkeit bereits bejaht und eine Entscheidung in der Sache getroffen hat, denn § 86 d SGB VIII stellt keine Rechtsgrundlage dar, um die Entscheidung des zuständigen Jugendamts, die auch in der Ablehnung einer begehrten Leistung bestehen kann, zu unterlaufen (vgl. Eschelbach in Münder/Meysen/Trencz, a.a.O.).
41
Vorliegend hat der Beklagte bereits in seiner Antwort auf die Anfrage des Klägers vom 19.4.2017 darauf verwiesen, dass nach dem Ergebnis des Hilfeplangesprächs vom 19.1.2017 keine wesentlichen Fortschritte bei A. erkennbar seien. Er hat somit nicht ansatzweise seine Zuständigkeit bestritten, sondern lediglich eine andere Sachentscheidung getroffen. Dasselbe folgt aus der sozialpädagogischen Stellungnahme des Beklagten vom 22.5.2017, in welcher ausgeführt wird, dass A. in der Lage sei, sein Leben eigenständig zu bestreiten und eine (weitere) Jugendhilfeleistung als nicht notwendig und vor allem als nicht geeignet und nicht sinnvoll angesehen wird.
42
Unerheblich ist aus Sicht des Gerichts in diesem Zusammenhang, ob und in welcher Form der Beklagte seine ablehnende Entscheidung A. mitgeteilt hat. Denn § 86 d SGB VIII ist eine Norm, die das Verhältnis zwischen verschiedenen Jugendhilfeträgern zum Gegenstand hat. In diesem Verhältnis hat der Beklagte seine (eine weitere Leistung ablehnende) Sachentscheidung unmissverständlich und klar zum Ausdruck gebracht. In derartigen Fällen, in denen - wie hier dem Kläger - die materiellen Ablehnungsgründe dem Jugendhilfeträger, in dessen Bereich sich der Betroffene tatsächlich aufhält, bekannt sind, wäre der Betroffene darauf hinzuweisen gewesen, die möglichen Rechtsmittel geltend zu machen (ebenso VG Düsseldorf, U.v. 16.7.2007, a.a.O.). In Kenntnis der inhaltlich abweichenden Entscheidung des zuständigen Trägers dem Kläger Jugendhilfeleistungen zu gewähren und diese dann vom Beklagten wieder einzufordern, würde vor diesem Hintergrund in letzter Konsequenz dazu führen, dass jede ablehnende inhaltliche Entscheidung eines zuständigen Jugendhilfeträgers von einem anderen Träger im Nachhinein auf dessen Kosten ausgehebelt werden könnte.
43
Ein anderes Ergebnis folgt auch nicht daraus, dass zwischen den Beteiligten streitig war, ob das Geburtsdatum von A. auf den …1998 oder auf den …1999 zu datieren war. Denn zum einen betrifft auch die Alterseinschätzung die inhaltliche Sachbehandlung und allenfalls mittelbar die Zuständigkeit, so dass eine andere Auffassung einen anderen Jugendhilfeträger nicht berechtigt, die Sachentscheidung des zuständigen Trägers zu unterlaufen. Zum anderen spielt die Alterseinschätzung auch deshalb im Ergebnis keine Rolle, weil zum Zeitpunkt der Bewilligungsentscheidung am 27.9.2017 auch nach dem vom Kläger zugrunde gelegten Geburtsdatum A. volljährig war, so dass in der Folge ab dem 1.9.2017 die Leistungen als Hilfe für junge Volljährige gewährt wurden. Für einen Rückgriff auf den Beklagten verbleibt daher in der vorliegenden Konstellation kein Raum.
44
II. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2, 2. Halbs. VwGO. Es entsprach nicht der Billigkeit, dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen aufzuerlegen, da dieser keinen Antrag gestellt und sich somit keinem Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat (§§ 162 Abs. 3, 154 Abs. 3 VwGO).
45
III. Der Ausspruch über die sofortige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.