Titel:
Erfolglose Klage auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis
Normenketten:
VwGO § 115 Abs. 5, § 123
AufenthG § 25a Abs. 1 S. 1, § 36 Abs. 1, § 60a Abs. 2
GG Art. 6
Leitsätze:
1. Bei einer auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG gerichteten Verpflichtungsklage ist maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt im gerichtlichen Verfahren auch dann der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz, wenn dem Ausländer zu einem früheren Zeitpunkt eine Duldung rechtswidrig versagt wurde. (Rn. 19)
2. Es obliegt dem Ausländer, seine Rechte über einen Antrag nach § 123 VwGO vorläufig sichern zu lassen, wenn ihm eine Duldung rechtswidrig versagt wird. (Rn. 22)
Schlagworte:
Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG, Duldung rechtswidrig versagt, Unzulässige „faktische“ Duldung, Verfahrensduldungsanspruch (verneint), Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt im gerichtlichen Verfahren, Kein „Herstellungsanspruch“, Passersatzpapiere, keine Verfahrensduldung
Fundstelle:
BeckRS 2021, 23885
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
4. Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand
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Der Kläger begehrt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG.
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Der Kläger ist ein am … 2004 geborener aserbaidschanischer Staatsangehöriger und reiste eigenen Angaben zufolge mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder am 26.05.2014 in das Bundesgebiet ein. Sein am 15.09.2014 gestellter Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 17.11.2016 abgelehnt. Es wurde außerdem festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Dem Kläger wurde unter Gewährung einer Ausreisefrist von 30 Tagen nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens die Abschiebung nach Aserbaidschan angedroht. Die hiergegen gerichtete Klage zum Verwaltungsgericht Bayreuth (Az. zuletzt: B 1 K 19.31309) nahm der Kläger am 19.09.2019 zurück. Die nach Rücknahme dieser Klage weiterhin gerichtlich anhängigen Klagen der Eltern bzw. des Bruders des Klägers gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge wurden mit Urteilen des Verwaltungsgerichts Bayreuth vom 02.12.2019 (Az. B 1 K 18.31608 bzw. B 1 K 18.31609) abgewiesen. Die hiergegen gerichteten Anträge auf Zulassung der Berufung lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof jeweils mit Beschlüssen vom 30.01.2020 (Az. 2 ZB 20.30263 bzw. 2 ZB 20.30239) ab.
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Bereits mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 28.09.2019 beantragte der Kläger bei der …, … Ausländerbehörde, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG.
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Mit Schreiben vom 09.10.2019 sowie vom 29.10.2019 hörte der Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Ablehnung der beantragten Aufenthaltserlaubnis an und führte zuletzt aus, dass der Kläger allenfalls deshalb geduldet sei, weil die Asylverfahren seiner Eltern weiterhin gerichtlich anhängig seien. Es ergebe sich hieraus lediglich ein verfahrensbezogener Duldungsstatus, der jedoch für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG nicht ausreiche.
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Am 16.10.2019 legte der Kläger der Ausländerbehörde einen am 13.04.2019 ausgestellten Reisepass vor.
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Mit Schriftsatz an die … Ausländerbehörde vom 29.01.2020 beantragte der Klägerbevollmächtigte die Aussetzung der Abschiebung „in Hinblick auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25a Abs. 1 AufenthG“.
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Mit Bescheid vom 03.02.2020 lehnte der Beklagte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG ab. Zur Begründung wurde ausgeführt: Auch wenn die übrigen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG vorlägen, verfüge der Kläger nicht über den erforderlichen Duldungsstatus. Der Kläger habe nur deswegen einen Duldungsanspruch, weil die Asylverfahren seiner Eltern, zu welchen die familiären Bindungen gemäß Art. 6 GG und Artikel 8 EMRK rechtlich geschützt seien, noch nicht rechtskräftig abgeschlossen seien. Eine solche bloße Verfahrensduldung reiche jedoch bei § 25a AufenthG nicht aus. Der Kläger erfülle zwar nun die Passpflicht des § 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG, habe den ihm ausgestellten Pass jedoch erst mit einer Verzögerung von etwa sieben Monaten vorgelegt. Nach Angaben des Vaters des Klägers habe sich der Pass in dieser Zeit bei dem Prozessbevollmächtigten des Klägers befunden, dessen Verhalten sich der Kläger zurechnen lassen müsse.
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Hiergegen ließ der Kläger am 20.02.2020 Klage erheben und beantragen,
(I.) den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger die Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG zu erteilen, sowie
(II.) hilfsweise den Beklagten zu verpflichten, den Antrag des Klägers unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu verbescheiden.
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Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Streitig sei hier einzig und allein, ob der Kläger als geduldet im Sinne des § 25a Abs. 1 AufenthG anzusehen sei. Der Beklagte verkenne die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 25b AufenthG, wonach gerade auch eine verfahrensbezogene Duldung ausreiche. Der Kläger erfülle daher alle Erteilungsvoraussetzungen des § 25a AufenthG.
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Der Beklagte beantragt,
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Zur Begründung wurde ausgeführt: Das Verfahren zur Beschaffung von Passersatzpapieren beim Landesamt für Asyl und Rückführungen sei am 28.04.2020 erfolgreich abgeschlossen worden. Eine Aufenthaltsbeendigung sei hinsichtlich der gesamten Familie in absehbarer Zeit möglich. Der Klägerbevollmächtigte verkenne, dass im vorliegenden Fall - im Gegensatz zu dem vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Fall - dem Kläger gar keine Duldung erteilt worden sei. Es reiche zwar auch ein materieller Duldungsanspruch aus. Ein solcher stehe dem Kläger zum allein maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bzw. Entscheidung im Gerichtsverfahren jedoch nicht zu. Das Asylverfahren der Eltern des Klägers sei am 30.01.2020 rechtskräftig abgeschlossen worden. Die gesamte Familie sei daher seit 01.03.2020 vollziehbar ausreisepflichtig. Es könne daher dahinstehen, ob dem Kläger eine Verfahrensduldung aufgrund von Art. 6 GG zugestanden haben könnte. Denn jedenfalls sei zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung davon auszugehen, dass dem Kläger dann kein Duldungsanspruch mehr zustehe, zumal dann auch zuvor bestehende Einschränkungen des Luftverkehrs nach Aserbaidschan weggefallen sein dürften. Der Kläger habe auch losgelöst von seinen familiären Bindungen keinen Anspruch auf eine sogenannte Verfahrensduldung. Ein solcher könne sich aufgrund eines laufenden Gerichtsverfahrens allenfalls dann ergeben, wenn die Rechtsverfolgung hinreichende Erfolgsaussichten habe. Die Erfolgsaussichten der Klage hinsichtlich der beantragten Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG seien jedoch als gering anzusehen, weil es am zwingenden Tatbestandsmerkmal „geduldet“ fehle. Auch unabhängig vom Duldungsstatus habe der Kläger im Übrigen keinen Anspruch auf die beantragte Aufenthaltserlaubnis. Denn es liege hier ein atypischer Fall vor, welcher den Beklagten trotz des Regelermessens („soll“) zur Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis berechtige. Sofern man einen Duldungsstatus überhaupt bejahe - was der Beklagte ablehne -, so liege dieser allenfalls erst seit kurzer Zeit vor. Der vorliegende Sachverhalt weiche daher erheblich von den vom Gesetzgeber in den Blick genommenen Konstellationen langjährig geduldeter, gut integrierter Ausländer ab. Die Familie des Klägers habe vielmehr langjährig (versetzte) Asylverfahren betrieben. Der „Spurwechsel“ in eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis sei für solche Fälle nicht vorgesehen, weil sonst ein Anreiz zur Ausdehnung von Rechtsmitteln geschaffen werde. Erschwerend komme das eklatant rechtsmissbräuchliche Vorenthalten des Passes hinzu.
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Mit Schriftsätzen vom 07.01.2021 und vom 27.04.2021 hat der Beklagte ergänzend vorgetragen: Dem Kläger sei auch weiterhin keine Duldung erteilt worden. Eine Abschiebung nach Aserbaidschan sei im Jahr 2020 zuletzt am 27.02.2020 durchgeführt worden. Im Schriftsatz vom 27.04.2021 führte der Beklagte aus, dass Abschiebungen nach Aserbaidschan nunmehr wieder möglich seien. Selbst wenn der Bescheid vom 03.02.2020 (zwischenzeitlich) fehlerhaft gewesen sein sollte, weil der Kläger einen Duldungsanspruch gehabt hätte, sei dies nun unerheblich, weil ausschließlich der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts maßgeblich sei.
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Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten sowie auf die Niederschrift über die mündliche Verhandlung vom 23.06.2021 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage bleibt in der Sache ohne Erfolg, weil der Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weder einen Anspruch auf die begehrte Aufenthaltserlaubnis noch einen Anspruch auf erneute Verbescheidung hat, § 113 Abs. 5 VwGO.
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Der Kläger hat nicht den Status eines „geduldeten“ Ausländers i.S.d. § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Die Ausländerbehörde hat dem Kläger in der Vergangenheit zwar eine Duldung in rechtswidriger Weise vorenthalten (1.). Der zuvor bestehende Duldungsgrund ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz jedoch wieder entfallen, so dass die Verpflichtungsklage keinen Erfolg haben kann (2.). Ein Duldungsanspruch des Klägers ergibt sich auch nicht unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer sog. Verfahrensduldung (3.).
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1. Die Ausländerbehörde hat dem Kläger in der Vergangenheit rechtswidrig die Erteilung einer Duldung vorenthalten. Das Asylverfahren des Klägers ist bereits seit 19.09.2019 rechtskräftig abgeschlossen. Der Kläger hatte in der Folgezeit zunächst aufgrund von Art. 6 GG einen Duldungsanspruch wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung, weil sich andere Familienmitglieder noch im Asylverfahren befanden. Nachdem das Asylverfahren für alle Familienmitglieder rechtskräftig abgeschlossen war, war die Abschiebung des Klägers sodann über einen längeren Zeitraum hinweg tatsächlich unmöglich: Der Beklagte hat ausgeführt, dass die letzte Abschiebung nach Aserbaidschan im Jahr 2020 am 27.02.2020 durchgeführt wurde. Nach diesem Zeitpunkt wurde die Abschiebungstätigkeit nach Aserbaidschan erst im März 2021 (Sammelabschiebung am 31.03.2021) wieder aufgenommen. Dem Gericht ist aus anderen Verfahren bekannt, dass dies zutreffend ist. Somit wurde dem Kläger, obwohl er seit deutlich mehr als eineinhalb Jahren vollziehbar ausreisepflichtig ist, keine Duldung erteilt.
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Dies steht mit den rechtlichen Vorgaben nicht in Einklang. Ist eine zeitnahe Abschiebung nicht möglich, ist dem Ausländer - unabhängig vom Grund des Vollstreckungshindernisses - eine Duldung zu erteilen (BVerfG (Kammer), B.v. 06.03.2003 - 2 BvR 397/02 - NVwZ 2003, 1250/1251; BVerwG, U.v. 25.09.1997 - 1 C 3/97 - NVwZ 1998, 297/299). Selbst bei - auch unter Berücksichtigung der besonderen Herausforderungen der Corona-Pandemie - zugunsten des Beklagten großzügiger Betrachtungsweise bewegt sich der hier seit Eintritt der vollziehbaren Ausreisepflicht verstrichene Zeitraum ersichtlich nicht mehr innerhalb dessen, was aus verwaltungsorganisatorischen Gründen üblicherweise für die Vorbereitung der Abschiebung erforderlich ist (vgl. dazu etwa Dollinger in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 60a AufenthG Rn. 22). Für die Kammer spricht nach den Umständen des vorliegenden Falles vielmehr einiges dafür, dass die Ausländerbehörde die Erteilung einer förmlichen Duldung bewusst unterlassen hat, um nicht die Tatbestandsvoraussetzungen des § 25a Abs. 1 AufenthG bejahen „zu müssen“. Dies ist kein legitimer Grund für die Vorenthaltung einer Duldung. Der Verweis des Beklagten auf den für Verpflichtungsklagen auf Erteilung eines Aufenthaltstitels maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz (vgl. zu § 25b AufenthG: BVerwG, U.v. 18.12.2019 - 1 C 34/18 - NVwZ 2020, 1044/1045 Rn. 23) greift demgegenüber nicht durch. Die schriftlichen Äußerungen des Beklagten lesen sich zum Teil so, als sei auch für die rechtliche Prüfung der Ausländerbehörde der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht maßgeblich. Das ist indes nicht der Fall: Dieser für die gerichtliche Anspruchsprüfung maßgebliche Zeitpunkt entbindet die Behörde nicht von der ihr obliegenden, eigenständigen Pflicht zu rechtmäßigem Verwaltungshandeln. Ebenso wenig kann der Beklagte mit der in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten Argumentation durchdringen, Änderungen betreffend den Duldungsstatus müssten behördlicherseits nur im Zeitraum zwischen der Antragstellung bei der Behörde (§ 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) und der Behördenentscheidung berücksichtigt werden. Denn die Behörde hat ihre Entscheidung auch während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens aktuell zu halten, wenn maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt im gerichtlichen Verfahren nicht der Zeitpunkt der Behördenentscheidung, sondern der der mündlichen Verhandlung oder gerichtlichen Entscheidung ist.
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2. Der vorgenannte Rechtsverstoß führt jedoch nicht zum Erfolg der von dem Kläger erhobenen Verpflichtungsklage.
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Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für das Gericht ist der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vom 23.06.2021 (vgl. allgemein zur auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gerichteten Verpflichtungsklage: BVerwG, U.v. 17.12.2020 - 1 C 30.19 - BeckRS 2020, 42606 Rn. 10; U.v. 31.05.2012 - 10 C 8/12 - NVwZ-RR 821/822 Rn. 13; zu § 25b AufenthG: BVerwG, U.v. 18.12.2019 - 1 C 34/18 - NVwZ 2020, 1044/1045 Rn. 23). Für § 25a AufenthG gilt nichts anderes (BayVGH, B.v. 09.04.2021 - 19 CE 20.599 - BeckRS 2021, 8704 Rn. 8; B.v. 18.03.2021 - 19 CE 20.14 - BeckRS 2021, 6098 Rn. 5; Röcker in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 25a AufenthG Rn. 9). Zu diesem Zeitpunkt war der Kläger weder im Besitz einer förmlichen Duldung noch konnte er sich auf einen materiellen Duldungsgrund berufen. Das tatsächliche Abschiebungshindernis war mit Wiederaufnahme der Abschiebungstätigkeit nach Aserbaidschan spätestens im März 2021 entfallen.
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Die Kammer sieht - entgegen den Ausführungen des Klägerbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung - keine Veranlassung, den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt auf einen früheren Zeitpunkt vorzuverlegen. In der früheren Rechtsprechung wurde zum Teil der Zeitpunkt der Antragstellung bei der Behörde als ausschlaggebend erachtet (vgl. BayVGH, B.v. 26.11.2018 - 19 CE 17.2453 - BeckRS 2018, 32942 Rn. 19). Dem ist das Bundesverwaltungsgericht im Rahmen seiner Rechtsprechung zu § 25b AufenthG jedoch nicht gefolgt: Das Gesetz gebe keinen Anhaltspunkt, dass insofern von dem allgemein bei der Verpflichtungsklage auf Erteilung eines Aufenthaltstitels maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt abzuweichen sei (BVerwG, U.v. 18.12.2019 - 1 C 34/18 - NVwZ 2020, 1044/1045 Rn. 23). Nach Auffassung der erkennenden Kammer wäre im Übrigen völlig unklar, auf welchen Zeitpunkt abgestellt werden sollte, wenn man von dem vorgenannten Grundsatz abwiche. Der von dem Klägerbevollmächtigten befürwortete Zeitpunkt, in dem „die Anspruchsvoraussetzungen erstmals vorliegen“, hätte erhebliche Rechtsunsicherheiten zur Folge. Denn der Duldungsstatus als Tatbestandsmerkmal des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG lässt sich, wenn dem Ausländer keine förmliche Duldung erteilt wurde, nicht derart klar und trennscharf bestimmen wie etwa der Zeitpunkt der Antragstellung gem. § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG. Der Übergang von der Phase der organisatorischen Vorbereitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen zur „faktischen“ Duldung kann vielmehr fließend sein. Auch wenn man in bestimmten (Ausnahme-)Fällen stattdessen eine Vorverlagerung des maßgeblichen Beurteilungszeitpunkts auf den Zeitpunkt der Antragstellung oder Behördenentscheidung für angezeigt hielte, wäre unklar, unter welchen Umständen eine solche Ausnahme bejaht werden sollte. Dies wäre ebenfalls mit erheblichen Rechtsunsicherheiten verbunden.
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Eine andere Bewertung ist nach Überzeugung der Kammer hier auch nicht deshalb geboten, weil dem Kläger in der Vergangenheit eine Duldung rechtswidrig versagt wurde. Streitgegenstand der Verpflichtungsklage ist allein, ob zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz ein Anspruch auf den begehrten Verwaltungsakt besteht. Streitgegenstand ist hingegen nicht, ob die mit der Versagungsgegenklage angegriffene Behördenentscheidung oder auch das Verwaltungshandeln im Zeitraum zwischen der behördlichen Entscheidung und der mündlichen Verhandlung rechtmäßig war (BVerwG, U.v. 24.01.1992 - 7 C 24/91 - NVwZ 1992, 563; OVG NW, U.v. 23.04.1996 - 10 A 620/91 - NVwZ 1997, 598/600). Das bedeutet auch, dass die Verpflichtungsklage keinen Erfolg haben kann, wenn die Behörde den begehrten Verwaltungsakt zwar rechtswidrig versagt hat, der Kläger jedoch aufgrund einer danach eingetretenen Änderung der Sach- oder Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung die Anspruchsvoraussetzungen nicht mehr erfüllt (Wolff in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 113 Rn. 105; W.-R. Schenke/R.P. Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 113 Rn. 224, 227; Decker in BeckOK VwGO, Stand 01.04.2021, § 113 Rn. 69.1 f.). Ein „Herstellungsanspruch“, den Kläger so zu stellen, wie er bei korrektem Behördenhandeln stünde, ist im Aufenthaltsrecht nicht anerkannt (OVG NW, B.v. 07.01.2021 - 18 B 1059/20 - BeckRS 2021, 141; VG Bayreuth, B.v. 18.02.2019 - B 6 S 18.957 - BeckRS 2019, 43692 Rn. 40; vgl. auch W.-R. Schenke/R.P. Schenke, a.a.O., Rn. 227).
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Der Ausländer ist bei rechtswidriger Vorenthaltung einer Duldung indes nicht schutzlos. Er kann seine Rechte mit einem Antrag nach § 123 VwGO sichern lassen. Dass dies das probate Mittel ist, um einem drohenden Wegfall der zunächst gegebenen Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels zu begegnen, hat das Bundesverwaltungsgericht in anderen Konstellationen ausdrücklich anerkannt. So verweist die höchstrichterliche Rechtsprechung etwa den Ausländer, der befürchtet, durch behördliche Verfahrensverzögerung seinen Anspruch auf Elternnachzug gem. § 36 Abs. 1 AufenthG wegen der baldigen Volljährigkeit seines Kindes zu verlieren, auf § 123 VwGO (BVerwG, U.v. 18.04.2013 - 10 C 9/12 - NVwZ 2013, 1344/1046 Rn. 22). Auch in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 25b AufenthG wird ausdrücklich auf die Möglichkeit der Rechtssicherung über eine einstweilige Anordnung Bezug genommen (U.v. 18.12.2019 - 1 C 34/18 - NVwZ 2020, 1044/1046 Rn. 30). Von dieser Möglichkeit hat der Kläger während des (durchaus langen) Zeitraums, als seine Abschiebung zunächst aus rechtlichen, sodann aus tatsächlichen Gründen nicht möglich war, keinen Gebrauch gemacht. Er hat zwar mit Schreiben vom 29.01.2020 ausdrücklich die Erteilung einer Duldung bei der Ausländerbehörde beantragt, hat dieses Begehren in der Folgezeit jedoch nicht mit einem Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz weiterverfolgt. Sofern der Klägerbevollmächtigte dem in der mündlichen Verhandlung entgegengehalten hat, zu einem solchen Antrag habe kein Anlass bestanden, weil der Beklagte den Eindruck erweckt habe, dass eine Abschiebung des Klägers ohnehin nicht anstehe, überzeugt dies nicht. Denn der Beklagte hat sich wiederholt - wenn auch aus Sicht der Kammer in der Sache nicht zutreffend (siehe oben 1.) - darauf berufen, dass eine Abschiebung des Klägers rechtlich und tatsächlich möglich sei und deswegen keine Duldung erteilt werde.
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3. Das Tatbestandsmerkmal „geduldet“ i.S.d. § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann auch nicht unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer sog. Verfahrensduldung bejaht werden.
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Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist die Verfahrensduldung keine eigenständige, im Gesetz nicht vorgesehene Duldungskategorie, sondern muss ihre Grundlage in den Regelungen des § 60a Abs. 2 Satz 1 bis 3 AufenthG finden (U.v. 18.12.2019 - 1 C 34/18 - NVwZ 2020, 1044/1046 Rn. 29). Dass für die Dauer eines Verwaltungs- oder gerichtlichen Verfahrens nicht stets eine solche Verfahrensduldung zu erteilen ist, folgt im Umkehrschluss aus der in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG getroffenen, begrenzten Regelung. Sie kann aber zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG erteilt werden, wenn eine Aussetzung der Abschiebung notwendig ist, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Verfahrens aufrechtzuerhalten und so sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zugutekommen kann. Je besser insoweit die Erfolgsaussichten sind, desto eher werden die Voraussetzungen für eine Verfahrensduldung nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (effektiver Rechtsschutz als rechtliches Abschiebungshindernis) oder zumindest nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG (Ermessensduldung) erfüllt sein (BVerwG, U.v. 18.12.2019 - 1 C 34/18 - NVwZ 2020, 1044/1046 Rn. 30).
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Nach Auffassung der Kammer ist dies nicht so zu verstehen, dass ein im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung offensichtlich nicht mehr bestehender Duldungsgrund nunmehr durch einen vom Gericht im Hauptsacheverfahren zuzusprechenden Anspruch auf Verfahrensduldung „ersetzt“ wird, sofern der Ausländer nur die weiteren Voraussetzungen des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 AufenthG erfüllt. Das Bundesverwaltungsgericht führt in dem vorstehend zitierten Urteil aus, die Verfahrensduldung diene dazu, die „tatsächlich gegebenen“ tatbestandlichen Voraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis für die Dauer des Verfahrens „aufrechtzuerhalten“ (Rn. 30). Der Ausländer wird für den Fall, dass ihm die Behörde eine aus seiner Sicht zu erteilende Verfahrensduldung versagt, auf den Antrag nach § 123 VwGO verwiesen (Rn. 30 a.E.). Für das erkennende Gericht bedeutet dies, dass es Sache des Ausländers ist, seine Rechte im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes zu sichern, solange er sich auf einen materiellen Duldungsgrund wegen tatsächlicher oder rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung berufen kann. Dem Ausländer ist es mit anderen Worten zuzumuten, mit einem Antrag nach § 123 VwGO im Hinblick auf ein etwaiges späteres Wegfallen des Duldungsgrunds während des verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahrens Sorge zu tragen. Es bedeutet hingegen nicht, dass dem Ausländer zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - im Sinne eines Bestandsschutzes - immer dann ein Verfahrensduldungsanspruch zuzuerkennen ist, wenn er die Anspruchsvoraussetzungen des § 25a Abs. 1 AufenthG (irgendwann einmal) in der Vergangenheit erfüllt hatte, auch wenn diese nun entfallen sind (vgl. insoweit ähnlich: BayVGH, B.v. 12.02.2021 - 19 CE 21.6 - BeckRS 2021, 2705 Rn. 8 f. u. 13).
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4. Die Berufung war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache (§§ 124a Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) zuzulassen. Die im vorliegenden Verfahren entscheidungserheblichen Rechtsfragen zum Zeitpunkt für das Vorliegen des Duldungsstatus im Zusammenwirken mit einem etwaigen Anspruch auf Verfahrensduldung sind nach Auffassung des erkennenden Gerichts über den hier zu entscheidenden Fall hinaus von Bedeutung und bedürfen einer weiteren obergerichtlichen und ggf. höchstrichterlichen Klärung. Verfahren betreffend § 25a AufenthG machen mittlerweile einen beträchtlichen Teil der insgesamt bei der Kammer anhängigen Streitverfahren aus, wobei häufig allein um das Tatbestandsmerkmal „geduldet“ gestritten wird.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 und Abs. 2 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.