Titel:
Keine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Verfolgung im Irak wegen Dolmetschertätigkeit des Vaters
Normenketten:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Schlagworte:
Asyl Irak, Provinz Hellip, Hellip Hellip, schiitische Turkmenen, nachgeborene Kinder, Dolmetschertätigkeit des Vaters für US-Amerikaner bis 2010, Gruppenverfolgung Schiiten, Gefahr wegen Stammesfehde (unglaubhaft), Irak, Dolmetschertätigkeit, US-Armee, Kinder, Schiiten, Turkmene, IS, Stammeskonflikt, allgemeine Versorgungslage
Fundstelle:
BeckRS 2021, 23802
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerinnen haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollsteckbar. Die Klägerinnen dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Die Klägerinnen begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bzw. hilfsweise eines subsidiären Schutzstatus und weiter hilfsweise die Feststellung von Abschiebungsverboten unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) vom 4. August 2017 und 1. Juli 2019.
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Nach eigenen Angaben reisten die Eltern der Klägerinnen mit den bereits in den Jahren 2009, 2010 und 2012 geborenen Geschwistern der Klägerinnen am … 2015 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Eltern und Geschwister der Klägerinnen sowie die Klägerinnen sind irakische Staatsangehörige, turkmenischer Volkszugehörigkeit und schiitischen Glaubens. Die Eltern und Geschwister der Klägerinnen stellten am … 2016 förmliche Asylanträge.
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Bei seiner Anhörung durch das Bundesamt am … 2016 gab der Vater der Klägerinnen an, den Irak am … … 2015 verlassen zu haben. Weitere Geschwister und die Großfamilie des Vaters der Klägerinnen lebten über den ganzen Irak verteilt. Der Vater der Klägerinnen habe ein Studium als Dolmetscher für Englisch und Arabisch absolviert. Von 2006 bis 2010 habe der Vater der Klägerinnen als Dolmetscher für das US-Militär gearbeitet. Er sei nach zwei Jahren Arbeitslosigkeit ab 2013 als Beamter an der Universität … tätig gewesen. Ein Jahr später hätten die Probleme mit dem IS angefangen. Am 14./15. Juni 2014 habe es nachts Explosionen und Raketenangriffe gegeben. Die Familie habe am … 2014 ihre Sachen gepackt und sei nach … gegangen. Dort sei das Leben sehr schlecht gewesen. Sie seien über … zuletzt nach … gegangen. Vor der Ausreise hätten die Eltern und Geschwister der Klägerinnen in der Stadt … bei Verwandten des Vaters der Klägerinnen gewohnt. Der Hauptgrund, weshalb der Vater der Klägerinnen den Irak verlassen habe, sei, dass es dort keine Sicherheit gebe. Es gebe ständig Explosionen und Milizen seien überall. Im Norden säßen der IS und im Süden die Milizen. Es sei auch bekannt gewesen, dass er als Dolmetscher für die US-Armee gearbeitet habe. Nur seine Stammesangehörigen hätten das gewusst und versucht, geheim zu halten, aber es sei trotzdem bekannt geworden. Nach dem Angriff des IS sei er verfolgt worden, weil er Dolmetscher für die US-Armee gewesen sei und in … sei er verfolgt worden, weil er Schiit sei. Die Schiiten seien aus … vertrieben worden. Er befürchte bei einer Rückkehr entweder von ISIS oder von den Milizen umgebracht zu werden. Für die Kinder würden die gleichen Gründe gelten. Der Vater der Klägerinnen legte zwei Empfehlungsschreiben der US-Armee, einen Dienstausweis der Firma … sowie ein Zeugnis als Dolmetscher vom Jahr 2005 vor.
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Bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt am … 2016 gab die Mutter der Klägerinnen im Wesentlichen an, dass ihre Eltern in … lebten und sie noch Geschwister und Großfamilie im Irak hätte. Sie habe vier Jahre die Grundschule besucht, sei jedoch Analphabetin und nach dem Schulbesuch Hausfrau gewesen. Die Familie habe den Irak wegen des Krieges verlassen. Der IS habe sie angegriffen; sie sei währenddessen schwanger gewesen, habe die Zwillinge jedoch verloren. Sie habe gleichzeitig auch Angst gehabt, weil ihr Mann vier Jahre als Dolmetscher bei den Amerikanern gewesen sei. Sie seien deshalb verfolgt worden. Der IS habe auch den Bruder des Ehemannes umgebracht, der ein hoher Soldat beim irakischen Militär gewesen sei. Bei einer Rückkehr in den Irak würde die ganze Familie umgebracht.
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Mit Bescheid vom 6. September 2016 lehnte das Bundesamt die Anträge der Eltern und der Geschwister der Klägerinnen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz nicht vorliegen (Nr. 4) und drohte der Familie mit einer Ausreisefrist von 30 Tagen die Abschiebung in den Irak an (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 5). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass sich für die Antragsteller keine drohende Verfolgung aufgrund eines in § 3b Abs. 1 AsylG genannten Merkmales wegen der Tätigkeit für die Amerikaner und der Angst vor dem Krieg ergäbe. Eine zielgerichtete Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 AsylG sei bereits nicht geschildert worden; es seien lediglich unsubstantiierte und oberflächliche Ausführungen hierzu erfolgt. Der Bombenangriff im Jahr 2014 sei nicht gezielt auf die Familie ausgeführt worden. Eine Verfolgung in …, wo sich die Familie ein Jahr vor der Ausreise aufgehalten habe, sei nicht vorgetragen worden. Eine Gruppenverfolgung schiitischer Muslime oder turkmenischer Volkszugehöriger im Irak sei nicht ersichtlich. Der Familie drohte bei Rückkehr in den Irak aufgrund der dortigen Situation keine erheblichen individuellen Gefahren aufgrund willkürlicher Gewalt. Eine interne Schutzalternative sei in den Provinzen Südiraks für die klägerische Familie, die Schiiten seien, arabisch sprächen und Verwandte im Irak haben, verfügbar. Ebenso lägen die Tatbestandsmerkmale von Abschiebungsverboten nicht vor. Auf die Begründung im Übrigen wird Bezug genommen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO.
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Gegen diesen Bescheid wurde am 19. September 2016 beim Bayerischen Verwaltungsgericht Klage erhoben (zunächst M 4 K 16.33071, später wegen gerichtsinterner Umverteilung: M 19 K 16.33071), die zusammengefasst dahingehend begründet wurde, dass dem Vater der Klägerinnen eine Verfolgung durch den IS wegen seiner schiitischen Religionszugehörigkeit und seiner früheren Tätigkeit als Dolmetscher für die US-Amerikaner drohe.
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Die Klägerin des Verfahrens M 4 K 17.46961 (im Folgenden: Klägerin zu 1)) wurde am … 2016 in der Bundesrepublik Deutschland geboren. Am … 2016 wurde für die Klägerin zu 1) ein Asylantrag nach § 14a Abs. 2 AsylG gestellt.
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In einer Stellungnahme der Eltern zum Asylantrag der Klägerin zu 1) vom … 2017 trugen diese vor, dass die Klägerin zu 1) von ihren Eltern naturgemäß betreut werden müsse und eine Klage gegen den ablehnenden Bescheid des Bundesamts vom 6. September 2016 erhoben worden sei. Den gleichen Antrag würden sie für die Tochter stellen.
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Mit Bescheid vom 4. August 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin zu 1) auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4) und drohte der Klägerin zu 1) mit einer Ausreisefrist von 30 Tagen nach Unanfechtbarkeit des Bescheids die Abschiebung in den Irak an (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Begründet wurde der Bescheid im Wesentlichen damit, dass eine konkret drohende individuelle und begründete Furcht vor Verfolgung für die Klägerin zu 1) nicht geltend gemacht worden sei. Die Klägerin zu 1) könne - wie ihre Eltern - auf die Möglichkeit internen Schutzes in die Provinzen Südiraks verwiesen werden, sodass kein Anspruch nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG bestehe. Auf die Begründung im Übrigen wird Bezug genommen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO. Der Bescheid wurde den gesetzlichen Vertretern am 8. August 2017 gegen Postzustellungsurkunde zugestellt.
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Die vormaligen Klägerbevollmächtigten erhoben mit Schriftsatz vom 16. August 2017, eingegangen am selben Tag, Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 4 K 17.46961) mit den Anträgen, den Bescheid des Bundesamts vom 4. August 2017 in den Ziffern 1 und 3 bis 6 aufzuheben, die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und hilfsweise festzustellen, dass ein nationales Abschiebungsverbot hinsichtlich des Iraks vorliegt.
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Das Bundesamt übersandte am 28. August 2017 die Behördenakte im Verfahren M 4 K 17.46961.
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Am 31. Januar 2018 erfolgte ein Wechsel des Bevollmächtigten in den Verfahren M 19 K 16.33071 und M 4 K 17.46961.
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Am 18. April 2019 wurde die Klägerin des Verfahrens M 4 K 19.32580 (im Folgenden Klägerin zu 2)) in … geboren. Am … 2019 wurde für diese ein Asylantrag nach § 14a Abs. 2 AsylG gestellt.
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Mit Schriftsatz vom 4. Juni 2019 bestellten sich die Klägerbevollmächtigten für die Eltern, Geschwister und Klägerinnen beim Bundesamt und zeigten die Mandatsübernahme an. Mit Schriftsatz vom 11. Juni 2019 bestellten sich die Klägerbevollmächtigten gegenüber dem Bayerischen Verwaltungsgericht München für die Eltern der Klägerinnen und die Klägerin zu 1) und zeigten die Mandatsübernahme an.
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Mit Bescheid vom 1. Juli 2019 lehnte das Bundesamt den Antrag der Klägerin zu 2) auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) sowie auf subsidiären Schutz (Nr. 3) ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4) und drohte der Klägerin zu 2) mit einer Ausreisefrist von 30 Tagen nach Unanfechtbarkeit des Bescheids die Abschiebung in den Irak an (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Begründet wurde der Bescheid wie bei der Klägerin zu 1). Auf die detaillierte Begründung wird Bezug genommen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO. Der Bescheid wurde am 8. Juli 2019 als Einschreiben zur Post gegeben.
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Die Klägerbevollmächtigten erhoben mit Schriftsatz vom 17. Juli 2019, eingegangen am selben Tag, Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 4 K 19.32580) mit den Anträgen, den Bescheid des Bundesamts vom 1. Juli 2019 in den Ziffern 1 und 3 bis 6 aufzuheben, die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin zu 2) die Flüchtlingseigenschaft und hilfsweise subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen und das Vorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
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Zur Begründung wurde vorgetragen, dass vollumfänglich auf den Sachvortrag im Verfahren der Eltern und Geschwister der Klägerin zu 2) (M 19 K 16.33071) Bezug genommen werde. Es wurden Fotos zur Akte gereicht, die nachwiesen, dass das ehemalige Wohnhaus der Eltern der Klägerin zu 2) in … … gezielt bombardiert und nunmehr völlig zerstört sei. Nach Kenntnis der klägerischen Familie sei das Wohnhaus nach der Abreise der klägerischen Familie vom IS als Vergeltungsakt des IS gegen den Vater der Klägerin zu 2), der als Dolmetscher für die US-Armee gearbeitet habe, bombardiert worden. Die Sicherheitslage in diesem Gebiet und im Irak allgemein sei sehr angespannt. Der Hass innerhalb der Bevölkerung gegen die Amerikaner und auch gegen ihre Übersetzer und Unterstützer sei massiv gewachsen. Die Bevölkerung, Milizen und IS-Unterstützer würden Unterstützer und Übersetzer der Amerikaner ächten, stigmatisieren und gezielt als „Landesverräter“ verfolgen. Eine Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtroute sei nicht möglich.
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Das Bundesamt übersandte am 26. Juli 2019 die Behördenakte im Verfahren M 4 K 19.32580.
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Die gegen den Bescheid vom 6. September 2016 gerichtete Klage der Eltern der Klägerinnen (M 19 K 16.33701) wurde vom Bayerischen Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 9. März 2020 abgewiesen. Zur mündlichen Verhandlung in diesem Verfahren am … … 2020 erschienen die Eltern der Kläger nicht. In der Urteilsbegründung wurde das Vorliegen einer Gruppenverfolgung von Schiiten im Irak unter Berücksichtigung der Erkenntnismittellage ebenso verneint wie eine Vorverfolgung der Eltern der Klägerinnen im Irak. Eine sog. anlassgeprägte Einzelverfolgung des Vaters der Klägerinnen wegen seiner Tätigkeit als Dolmetscher oder seiner Religionszugehörigkeit sei nicht substantiiert und glaubhaft vorgetragen worden. Die Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz … rechtfertige keinen subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Trotz der schwierigen humanitären Umstände sei davon auszugehen, dass der Vater der Klägerinnen für die Familie unter Berücksichtigung seiner früheren Berufstätigkeit und Ausbildung, seiner familiären Strukturen im Irak sowie der Möglichkeit von Rückkehrhilfen das Existenzminimum für die Familie verdienen könne. Auf die Begründung im Übrigen wird Bezug genommen, § 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO.
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Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof lehnte den Antrag auf Zulassung der Berufung im Verfahren der Eltern und der Geschwister der Klägerinnen mit Beschluss vom 12. Mai 2020 ab (Az. 5 ZB 20.31080).
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Die Übertragung der Verfahren der Klägerinnen auf die Einzelrichterin erfolgte jeweils mit Beschlüssen vom 16. Dezember 2020. Mit gerichtlichen Hinweisen vom 22. Dezember 2020 wurden die Gerichts- und Behördenakte des Verfahrens der Eltern und der Geschwister der Klägerinnen in beiden Verfahren beigezogen.
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Mit Schriftsatz vom 14. Januar 2021 beantragte die Beklagte im Verfahren M 4 K 19.32580, mit Schriftsatz vom 15. Januar 2021 beantragte die Beklagte im Verfahren M 4 K 17.46961 jeweils,
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Mit Schriftsatz vom 20. Januar 2021 teilten die Bevollmächtigten mit, die Klägerinnen nicht mehr zu vertreten.
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Die Hauptsachen wurden am 4. Mai 2021 mündlich verhandelt. Die Verfahren wurden zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Der Vater der Klägerinnen trug im Wesentlichen vor, dass er in … … geboren und aufgewachsen sei. Sie hätten in … einige Monate bei seiner Schwester gelebt; es sei dort aber sehr eng gewesen. In … … habe er keine Angst gehabt, dass seine Übersetzertätigkeit bekannt werde, da er dort im Schutz seiner Familienangehörigen gelebt habe. Als er dann vor dem IS geflohen sei, habe er in … Angst vor dem IS wegen seiner Dolmetschertätigkeit gehabt. Die Eltern des Vaters der Klägerinnen lebten derzeit in … … von einer Rente in einem bescheidenen Haus. Er habe zwei Brüder in … …, die als Polizisten arbeiten, selbst Familie mit Kindern hätten und je einen Onkel in der Türkei und in … Cousins und Cousinen habe er auch, wisse allerdings aktuell nicht, wo diese lebten. Die Mutter der Klägerinnen trug vor, dass sie auch aus … … stamme. Ihre gesamte Familie sei derzeit auf der Flucht, weil einer ihrer Cousins bei einem Angriff getötet worden sei. Ein weiterer Verwandter und die Tochter des Cousins seien bei dem Angriff, der von einem anderen Stamm namens … wegen unbezahlter Rechnungen ausgegangen sei, schwer verletzt worden. Es habe mehrere Drohbriefe des Stammes gegen den Stamm der Mutter der Klägerinnen gegeben, in denen stünde, dass alle des Stammes getötet würden. Es sei davon auszugehen, dass der Stamm … selbst nach Freilassung der polizeilich festgenommenen Mörder ihres Cousins Vergeltung suchen werde. Auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung wird im Übrigen Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die vorgelegten bzw. beigezogenen Behördensowie die Gerichtsakten in den Verfahren M 19 K 16.33071, M 4 K 17.46961 und M 4 K 19.32580 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässigen Klagen sind unbegründet.
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I. Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 4. Mai 2021 entschieden werden, obwohl die Beklagte nicht erschienen ist. In der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurde darauf hingewiesen, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne, § 102 Abs. 2 VwGO. Die Beklagte ist formgerecht geladen worden.
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II. Den Klägerinnen steht kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (1.) und des subsidiären Schutzstatus (2.) zu. Ebenfalls liegt kein Abschiebungsverbot hinsichtlich des Iraks nach § 60 Abs. 5 AufenthG vor (3.). Es bestehen keine Bedenken gegen die Abschiebungsandrohung und das angeordnete, befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot (4.). Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen die Klägerinnen nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
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Maßgeblicher Zeitpunkt für die Überprüfung ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG.
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Das Gericht folgt den Feststellungen und der Begründung der angefochtenen Bescheide und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, § 77 Abs. 2 AsylG.
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Lediglich ergänzend wird die Entscheidung wie folgt begründet:
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1. Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
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Die Klägerinnen haben das Gericht im Falle einer Rückkehr in den Irak vom Vorliegen von einer begründeten Furcht vor Verfolgungshandlungen nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3a AsylG nicht überzeugt.
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Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung der Klägerinnen bei Rückkehr in den Irak wegen der Dolmetschertätigkeit des Vaters ist nicht anzunehmen. Eine anlassgeprägte Einzelverfolgung des Vaters der Klägerinnen wegen seiner Tätigkeit wurde im Rahmen der mündlichen Verhandlung nicht substantiiert. Der Vater der Klägerinnen gab an, in … wegen des Schutzes seiner Familienangehörigen, die weiterhin dort leben, keine Angst vor einer Verfolgung wegen seiner früheren Tätigkeit zu haben. Die Angabe des vormaligen Bevollmächtigten, dass das Haus der klägerischen Familie nicht allgemein im Rahmen der Kämpfe gegen den IS im Jahr 2014, sondern gezielt wegen der ehemaligen Dolmetschertätigkeit des Klägers bei den Amerikanern erfolgt sei, ist daher unglaubhaft und angesichts der stark verbesserten Sicherheitslage wenig beachtlich. Seit dem Zeitpunkt der Flucht der Eltern der Klägerinnen aus … … im Juni 2014 hat sich die Sicherheitslage in der Provinz … ausweislich der Erkenntnismittel erheblich verbessert (vgl. Rn. 42).
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Ebenso ist eine Gruppenverfolgung von Schiiten in der Provinz … derzeit nicht ersichtlich. Auf die Ausführungen im Urteil vom 9. März 2020 im Verfahren der Eltern der Klägerinnen wird insoweit Bezug genommen. Eine Änderung der Sachlage ist seit dem Erlass dieses Urteils nicht ersichtlich.
36
Soweit in der mündlichen Verhandlung eine aktuelle Verfolgung der Klägerinnen durch den Stamm … geltend gemacht wird, ist eine Anknüpfung an einen Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG und ein Kausalzusammenhang nach § 3a Abs. 3 AsylG nicht ersichtlich: Die Eltern der Klägerinnen trugen vor, dass der Grund für die Drohungen des Stamm … in einem persönlichen Konflikt des Cousins der Mutter der Klägerinnen mit Geschäftspartnern des Stammes … besteht, weil der Cousin die Zahlung eines verkauften Autos verlangt habe und Angehörige des Stammes … nach der Tötung des Cousins inhaftiert wurden.
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2. Die Klägerinnen haben ebenfalls keinen Anspruch auf die Gewährung eines subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG.
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2.1. Die Gefahr der Verhängung einer Todesstrafe ist nicht ersichtlich und eine ernsthafte Gefahr, Folter oder eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung zu erleiden, ist nicht glaubhaft vorgetragen worden, § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 AsylG.
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Hinsichtlich der Ausführungen einer Gruppenverfolgung als Schiiten oder einer Gefahr durch den IS und Milizen wegen der Tätigkeit des Vaters der Klägerinnen für die Amerikaner wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Ausführungen unter 1. verwiesen.
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Ein substantiierter Vortrag einer Gefahr für die Familie der Klägerinnen wegen des Stammes … ist nicht ersichtlich. Das Gericht ist aufgrund des Eindrucks in der mündlichen Verhandlung überzeugt, dass eine konkrete Gefahr für die Familie der Klägerinnen bei einer Rückkehr durch den Stamm … nicht droht. Ein diesbezüglich gesteigerter Sachvortrag der Eltern der Klägerinnen war im Rahmen der mündlichen Verhandlung deutlich erkennbar.
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Zwar mag es zufällig zwei Wochen vor der mündlichen Verhandlung zu einem Konflikt des Cousins der Mutter der Klägerin mit dem Stamm … gekommen sein, der zu dessen Tötung führte; das Gericht hatte jedenfalls insoweit wegen der starken emotionalen Reaktion der Mutter der Klägerinnen in der mündlichen Verhandlung bei ihrem diesbezüglichen Vortrag den Eindruck eines glaubhaften Sachvortrags. Jedoch ist das Gericht nicht von einer deswegen drohenden Gefahr für die Familie der Klägerinnen bei einer Rückkehr in den Irak überzeugt. Die Mutter der Klägerinnen gab erst auf Nachfrage des Gerichts und dann zunächst nur an, dass die Familie des Cousins wegen des Vorfalls und des Stammeskonflikts auf der Flucht sei und dass die Drohbriefe sich gegen den Stamm der Mutter der Klägerinnen richteten. Erst auf Anmerkung des Gerichts, dass es nach den Erfahrungen des Gerichts in paternalistischen Gesellschaften wie dem Irak so sei, dass die Frauen nach der Heirat zur Familie und dem Stamm ihres Ehemannes gehörten und nicht mehr zu ihrem Stamm gerechnet würden, erklärten die Eltern der Klägerinnen plötzlich, dass der Ehemann zum gleichen Hauptstamm gehöre und die Drohbriefe sich gegen den Hauptstamm insgesamt und nicht nur gegen den Stamm der Mutter der Klägerinnen richten würden. Dass eine diesbezügliche Bedrohungslage für die Eltern und Geschwister des Vaters des Klägers vorliegt, erwähnte dieser in seiner zuvor erfolgten informatorischen Anhörung gerade nicht. Die Eltern der Klägerinnen führten anschließend weiter in gesteigerter Form zunächst aus, dass alle vom Hauptstamm sich aktuell nur noch drinnen aufhalten und aus Angst vor Vergeltungsschlägen nicht mehr das Haus verließen. Nur kurze Zeit später erklärten die Eltern der Klägerinnen dann, dass die Eltern, die Schwester und die Brüder der Mutter der Klägerinnen seit den Drohbriefen des Stammes … auf der Flucht seien, sich alle drei Tage woanders aufhielten und der Kontakt abgebrochen sei. Ein Widerspruch besteht offensichtlich darin, dass einerseits ein Kontaktabbruch zur Familie der Mutter der Klägerinnen wegen der Flucht bestehe, andererseits vorgetragen wurde, dass die Familienmitglieder alle drei Tage umzögen. Weiter ist eine deutliche Sachvortragssteigerung ersichtlich, die den Vortrag bezüglich der für die klägerische Familie angeblich bestehende Gefahr durch den Stamm … unglaubhaft macht.
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2.2. Ein Anspruch auf subsidiären Schutz aus § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG wegen willkürlicher Gewalt gegen Zivilisten im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts ist nicht gegeben. Nach Überzeugung des Gerichts ist unter umfassender Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls - insbesondere der die Situation des Herkunftslands des Antragstellers kennzeichnenden Umstände („qualitativen Merkmale“) und der im Irak herrschenden, sich überlagernden Konflikte (EUGH, U.v. 10.06.2021 - C-901/19 - Leitsatz 2) - nicht von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit im Sinne eines „real risk“ auszugehen, dass jede anwesende Person in der Provinz … aufgrund der innerstaatlichen Konflikte einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt ist (EASO, Country Guidance Iraq, Januar 2021, S. 35 ff., 125 ff., 147 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Januar 2021, S. 16 ff.; EASO, Irak Sicherheitslage; Oktober 2020, S. 15 ff., 33 ff., 43 ff., 53 ff.). Gefahrerhöhende Umstände sind nicht ersichtlich.
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3. Ein Abschiebungsverbot ist für die Klägerinnen nach den aktuellen Erkenntnismittel nicht festzustellen.
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3.1. Ein solches ergibt sich nicht aus § 60 Abs. 5 AufenthG.
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§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK steht einer Abschiebung entgegen, wenn der Klagepartei im gesamten Zielstaat der Abschiebung Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung droht (Heusch/Haderlein/Schönenbroich, Das neue Asylrecht, 1. Auflage 2016, Rnr. 119). Nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 31. Januar 2013 (Az. 10 C 15/12; NVwZ 2013, 1167, Leitsatz 3 m.w.N.) können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch die grundlegenden humanitären Verhältnisse im Herkunftsland Art. 3 EMRK verletzten. Nach Auffassung des EGMR wird die Schwelle des Art. 3 EMRK bei schlechten humanitären Lebensbedingungen jedoch nur in sehr seltenen Fällen erreicht werden, da die Intention der EMRK der Schutz von bürgerlichen und politischen Rechten sicherzustellen, nicht jedoch sozioökonomische und humanitäre Lebensbedingungen schützen soll (BVerwG, U.v. 31.01.2013, Az. 10 C 15/12, Rn. 25). Diese Rechtsprechung basiert auf den Einzelfall eines Ausländers, der sich im Endstadium einer tödlichen Aidserkrankung befand, und in sein Herkunftsland, einem Entwicklungsland, in dem er aufgrund fehlender sozialer Bindungen mit großer Sicherheit obdachlos geworden wäre, abgeschoben werden sollte (EGMR, Urteil vom 2.5.1997, Az. 146/1996/767/964; NVwZ 1998,161).
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Die allgemeine Versorgungslage stellt sich im Irak aktuell als schwierig dar. Trotz internationaler Hilfsgelder bleibt die Versorgungslage für ärmere Bevölkerungsschichten schwierig, was durch die grassierende Korruption zusätzlich verstärkt wird. Eine erhebliche Schwächung der irakischen Wirtschaft ist durch den Verfall des Ölpreises und der angeordneten Gegenmaßnahmen im Rahmen der COVID-19 Pandemie (EASO, COI Report Iraq: Key socio-economic indicators, September 2020 (im Folgenden: EASO COI KSE indicators) S. 33 f.) festzustellen, da die irakische Wirtschaft in hohem Maße von der Ölförderung und damit dem Ölpreis abhängig ist (EASO Informationsbericht Irak, Zentrale sozioökonomische Indikatoren, Februar 2019, S. 34.; EASO COI KSE indicators S. 36 f.). Eine dadurch befürchtete Erhöhung der Armut vor allem von vulnerablen Bevölkerungsgruppen (Tagelöhner, binnenvertriebene Familien mit vielen Kindern) ist bereits messbar (EASO COI KSE indicators, S. 14, 33 ff., 43 f.). Zwar leiden unter Berücksichtigung der bestehenden Hilfsprogramme aktuell nur wenige Personen unter akuter Lebensmittelunsicherheit (zwischen 1 und 5% der Männer und 1,5 bis 7,8% der Frauen im Irak), allerdings sind zwischen 50 und 60% der Iraker von Lebensmittelunsicherheiten bedroht. Trotz der COVID-19-Pandemie ist die Lebensmittelsicherheit aktuell aufgrund von Gegenmaßnahmen der Regierung sichergestellt, auch wenn angesichts der Staatsfinanzenabhängigkeit vom Ölpreis die dauerhafte Finanzierung der Ernährungssicherungs-Programme und - Maßnahmen nicht langfristig sichergestellt ist (EASO COI KSE indicators S. 46 ff.). Die Strom- und Wasserversorgung ist nur auf sehr niedrigem Niveau gewährleistet; tägliche Stromausfälle sind üblich, wobei große regionale Unterschiede bestehen (EASO COI KSE indicators, S. 48, 57 f.; UNHCR Erwägungen, S. 66 ff). Trotz starker Rückkehrbewegungen von Binnenvertriebenen nach dem Ende des militärischen Großeinsatzes gegen den IS Ende 2017 verbleiben weiterhin 1,4 Millionen Binnenvertriebene im Irak. Von den in ihre Ursprungsgebiete zurückgekehrten Binnenvertriebenen (circa 4,8 Millionen) benötigen im Mai 2020 aktuell 4,1 Millionen humanitäre Hilfe (EASO COI KSE indicators, S. 14 ff.). Aufgrund von Naturkatastrophen kam es im Jahr 2019 zu zusätzlichen Binnenvertriebenen im oberen fünfstelligen Bereich (EASO COI KSE indicators, S. 13). Die hohe Arbeitslosigkeit und der demografische Faktor (37% der Bevölkerung ist im Alter zwischen 0 und 14 Jahren; vgl. EASO COI KSE indicators S. 12, 21) führt vor allem im Süden Iraks und den ehemals vom IS besetzten Gebieten zu hoher relativer Armut (30 - 40%) und der Zugang zum Arbeitsmarkt ist aufgrund des verbreiteten Nepotismus und Korruption weiterhin schwierig (EASO COI KSE indicators S. 28 f., 36 f., 40 f., 43 f.). Die Regierung reagiert darauf mit angebotenen (Um) schulungsprogramme und Einstellungsoffensiven als staatliche Sicherheitskräfte (EASO COI KSE indicators S. 21 f.). Bereits ein Großteil der Beschäftigten arbeitet im staatlichen Sektor, was vor dem Hintergrund der nicht nachhaltigen Staatsfinanzierung über Erdölexport zu häufigen Aussetzungen und Verspätungen von Lohnzahlungen, wegen innenpolitischen Konflikten insbesondere in der Kurdischen Autonomieregion, führt (EASO COI KSE indicators S. 36 f., 40 f., 43 f.). Nationale und internationale Hilfsprogramme und Sicherheitssysteme (z.B. Food Ration Programm) sind in niedrigen Umfang für alle Bürger Iraks inklusive Rückkehrern, die in besonderen Schwierigkeiten sind und Papiere vorweisen können, verfügbar. Hierbei ist festzustellen, dass eine durchgängige Verfügbarkeit der Teilnahme nicht in allen Landesteilen sichergestellt ist. Die irakische Regierung plant die Einführung eines Programms zur finanziellen Unterstützung von Arbeitslosen und Personen, die weniger als ein US-Dollar pro Tag verdienen (EASO COI KSE indicators S. 29 f., 41 f., 43 f.). 2.375 Wiederaufbauprogramme in den ehemals vom IS besetzten Gebieten wurden erfolgreich abgeschlossen und ermöglichten die Rückkehr von einer erheblichen Anzahl an Binnenflüchtlingen (EASO COI KSE indicators S. 15). Aufgrund der Wiederaufbauprogramme leben fast alle Rückkehrer in angemessenen Behausungen. Die Wohnungssituation für verbliebene Binnenvertriebene stellt sich jedoch als weiterhin schwierig dar (EASO COI KSE indicators S. 17 ff., 57 f.). Zugang zu einer medizinischen Grundversorgung ist allen Bürgern Iraks mit ID-Karte gewährleistet, wobei die Grundversorgung aufgrund von zusätzlichen Kosten für nicht von der Basisversorgung umfassten Behandlungen, Personalknappheit und Lieferengpässen von Medikamenten trotz deutlicher Wiederaufbauanstrengungen in den letzten Jahren vor allem in ländlichen Gebieten, im Süden Iraks und in den Rückkehrgebieten nicht immer in ausreichendem Maß vorhanden ist. Eine große Lücke ist aufgrund des kriegsbedingt starken Anstiegs des Bedarfs vor allem bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen festzustellen (EASO COI KSE indicators S. 20 f., 50 ff.). Die COVID-19 Pandemie bringt wegen der hohen Ansteckungsrate von medizinischem Fachpersonal das intensivmedizinische System mit Auswirkungen für die Basisversorgung aktuell an seine Grenzen (EASO COI KSE indicators 33 f.). Im Rahmen des humanitären Kontexts ist festzustellen, dass über alle Bereiche insbesondere vulnerable Personen (alleinstehende Frauen, Haushalte mit Frauen als Haushaltsvorstände, Familien mit vielen Kindern ohne familiäre Unterstützung, behinderte Personen, etc.) überdurchschnittlich stark von den benannten Schwierigkeiten betroffen sind.
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Ein Anspruch auf Feststellung von Abschiebungsverbote steht den Klägerinnen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles nicht zu, da davon auszugehen ist, dass ihre Eltern ihr Existenzminimum zum aktuellen Zeitpunkt und unter Berücksichtigung der schwierigen humanitären Lage in der Provinz … erwirtschaften können werden. Die Klägerinnen gehören nicht zu der besonders vulnerablen Gruppe kinderreicher Familien ohne familiäre Hilfe, die wegen der durch die Sars-CoV2-Pandemie induzierten Wirtschaftskrise in Gefahr einer raschen und vollständigen Verelendung steht. Vorliegend handelt es sich zwar um eine siebenköpfige Familie mit fünf Kinder im Alter von zwei bis elf Jahren. Ohne zusätzliche Vulnerabilitäten ist aber in Anbetracht der wirtschaftlichen Lage nicht grundsätzlich davon auszugehen, dass siebenköpfigen Familien ein Abschiebungsverbot aus Art. 3 EMRK zu gewähren ist. Der Vater der Klägerinnen hat eine gute Ausbildung sowie Verwaltungserfahrung vorzuweisen, die derzeit im Irak wegen der Vielzahl an humanitären Wiederaufbauprojekten auch gefragt ist. Es ist davon auszugehen, dass der Vater der Klägerinnen - wie vor seiner Ausreise aus dem Irak - in seiner Heimatprovinz … mithilfe seiner sozialen und vor allem familiären Kontakte erneut eine Arbeit finden wird, mit der er das Existenzminimum seiner Familie sichern kann. Die Familie hat allein hinsichtlich der Familie des Klägers im Irak mehrere Anlaufpunkte für eine (vorübergehende) Niederlassung bis der Vater der Klägerinnen eine Arbeitsstelle gefunden hat. So leben die Großeltern väterlicherseits der Klägerinnen in einem eigenen, wenn auch bescheidenen Haus; die Familie lebte bereits einige Monate vorübergehend bei der Schwester in … und die beiden Brüder des Vaters der Klägerinnen stehen in Arbeit und einer verfügt sogar über eine Zweitwohnung. Weiter gibt es einen Onkel in … und Cousins, deren Aufenthaltsort über die Verwandtschaft sicher leicht ermittelt werden könnte. Es ist von daher davon auszugehen, dass die Klägerinnen zumindest vorübergehend ihr Existenzminimum mitsamt Unterkunft über familiäre Unterstützungsleistungen sichern können werden bis der Vater der Klägerinnen wieder Arbeit findet. Außerdem besteht für die Eltern der Klägerinnen - insbesondere im Fall der freiwilligen Ausreise - die Möglichkeit, in nicht unerheblichem Umfang Rückkehr- und Starthilfen im Rahmen des REAG/GARP- und des ERRIN-Programms sowie weitere Unterstützungsleistungen für Rückkehrer in Anspruch zu nehmen, die ihr die Rückkehr erheblich vereinfachen (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/programmes/erin; s. a. VG Hamburg, U.v. 23.7.2019 - UA S. 25 f.; VG Oldenburg, U.v. 21.5.2019 - juris Rn. 65).
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3.2. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG ist weder vorgetragen, noch ersichtlich. Soweit eine Gefahr wegen der Dolmetschertätigkeit des Vaters der Klägerinnen für die Amerikaner bis 2010, des Konflikts mit dem Stamm … oder einer Gruppenverfolgung als Schiiten vorgetragen wurde, verweist das Gericht auf die Ausführungen unter 1. und 2..
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4. Gegen die Abschiebungsandrohung sowie die Anordnung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots im Fall der Abschiebung auf 30 Monate bestehen keine Bedenken.
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II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
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III. Die Regelung der vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167 S. 1 VwGO i.V.m. § 708, 711 ZPO.