Inhalt

LG Nürnberg-Fürth, Endurteil v. 19.03.2021 – 8 O 5003/20
Titel:

Bedeutung der ärztlichen Invaliditätsfeststellung in der privaten Unfallversicherung

Normenkette:
AUB 2007 Nr. 1.1, Nr. 2.1.1.1, Nr. 2.1.2.2.4, Nr. 3
Leitsätze:
1. Die nach den AUB erforderliche ärztliche Invaliditätsfeststellung ist eine echte Anspruchsvoraussetzung, deren Fehlen nicht entschuldigt werden kann (Anschluss an BGH BeckRS 2006, 1402). (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Unfallversicherer kann zur Prüfung eines Invaliditätsanspruchs nur einem Dauerschaden nachgehen, zu dessen Ursache und Auswirkungen sich die ärztliche Bescheinigung verhält (Anschluss an BGH BeckRS 2007, 6584). (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Unfallversicherung, ärztliche Invaliditätsfeststellung, Anspruchsvoraussetzung, Dauerschaden, Invaliditätsleistung
Rechtsmittelinstanz:
OLG Nürnberg, Endurteil vom 19.08.2021 – 8 U 1139/21
Fundstelle:
BeckRS 2021, 22637

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % vorläufig vollstreckbar.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 31.500,00 EUR festgesetzt.

Tatbestand

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Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Unfallversicherungsvertrag.
2
Der Kläger schloss im Jahr 2011 einen Unfallversicherungsvertrag mit der Beklagten ab (Versicherungsschein: Anlage B1). Dem Vertragsverhältnis liegen die mit Anlage B2 vorliegenden AUB 2007 zugrunde. Ab einem Invaliditätsgrad von mindestens 50 % besteht aus dem Vertrag ein Anspruch auf Zahlung einer lebenslangen Unfallrente von 750,00 EUR.
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Am 20.10.2016 erlitt der Kläger einen häuslichen Unfall, der zu einem Oberschenkelhalsbruch führte. Nach einem längeren Krankenhausaufenthalt vom 20.10.2016 bis 03.11.2016 wurde der zum Unfallzeitpunkt 68-jährige Kläger zunächst für 14 Tage in ein Pflegeheim aufgenommen, damit seine Wohnung umgebaut werden konnte. Vom 14.11.2016 bis 16.12.2016 musste er erneut stationär im Krankenhaus aufgenommen werden, weil er erhebliche Schmerzen hatte. Bis zum 15.01.2017 war der Kläger dann auf Reha. Es wurde Ansprüche bei der Beklagten angemeldet. Die Beklagte ließ ein orthopädisches Gutachten des Herrn Dr. med. … einholen (Anlage K1). In der Folge wurde ein weiteres Gutachten des Herrn Prof. Dr. med. … eingeholt (Anlage K2).
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Mit Schreiben vom 10.10.2019 (Anlage K3) lehnte die Beklagte ihre Einstandspflicht au dem Unfallversicherungsvertrag ab, weil unfallbedingt allenfalls ein Invaliditätsgrad von 21 % verbleibe, der Vertrag aber erst ab einem Invaliditätsgrad von 50 % Leistungen vorsehe. Mit Schreiben vom 19.12.2019 (Anlage K4) zeigten sich daraufhin die Klägervertreter bei der Beklagten für den Kläger an und baten um Überprüfung und Bestätigung der vollen Haftung. Dies wurde seitens der Beklagten mit Schreiben vom 07.01.2020 (Anlage K5) erneut abgelehnt.
5
Einige Jahre vor dem hier streitgegenständlichen Unfall erlitt der Kläger einen Apoplex (Schlaganfall, 2013) und einen Kniegelenksersatz links. Er hatte bereits in den 70er-Jahren einen Meniskusschaden am linken Knie erlitten.
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Der Kläger trägt vor:
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Aufgrund des Unfalls sei eine Funktionsbeeinträchtigung des Beins in Höhe des Invaliditätsgrades von mindestens 50 % verblieben (Beweis: Sachverständigengutachten). Die Gutachten der Sachverständigen Dr. … und Dr. … griffen zu kurz, berücksichtigten vor allem zu Unrecht eine Vorinvalidität, die sich so tatsächlich nicht darstelle. Außerdem sei zu berücksichtigen, dass der Kläger seit dem Unfall schwer inkontinent sei (Beweis: Sachverständigengutachten). Dies habe die Beklagte bei ihrer Entscheidung gar nicht berücksichtigt.
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Der Kläger beantragt:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger eine monatliche Rente in Höhe von 750,00 EUR seit dem 20.10.2016 dauerhaft zu bezahlen bis zu dem Monat, in dem der Kläger verstirbt.
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Die Beklagte beantragt:
Die Klage wird abgewiesen.
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Die Beklagte trägt vor:
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Dem Kläger verbleibe unfallbedingt kein Invaliditätsgrad von mindestens 50 %, sodass die Beklagte auch nicht zur Leistung verpflichtet sei. Das Unfallereignis sei zwar zunächst ordnungsgemäß angemeldet worden, wobei mit Attest vom 12.04.2017 als betroffener Körperteil das linke Bein ab Hüfte und das Knie angegeben wurden (Anlage B5). Soweit der Kläger nun behaupte, er sei unfallbedingt inkontinent geworden, was ausdrücklich zu bestreiten sei, komme es darauf aber auch nicht an, weil es diesbezüglich nie zu einer entsprechenden ärztlichen Feststellung gekommen sei. Soweit es um eine Funktionsbeeinträchtigung des linken Beins gehe, verbleibe dem Kläger allerdings nur - was Dr. … und Dr. … jeweils zutreffend festgestellt hätten - ein Invaliditätsgrad von 21 %. Selbst dann, wenn man die dort berücksichtigte Vorinvalidität außer Acht lasse, bestehe immer noch allenfalls ein unfallbedingter Invaliditätsgrad von 42 %. Tatsächlich sei aber eine Vorinvalidität des Klägers am linken Bein zu berücksichtigen.
12
Die Parteien habe eine Entscheidung im schriftlichen Verfahren ohne mündliche Verhandlung gemäß § 128 Abs. 2 zugestimmt. Der Zeitpunkt, der dem Schluss der mündlichen Verhandlung entsprach, war der 19.02.2021. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die wechselseitigen Schriftsätze der Parteien nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
A. Zulässigkeit
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Die Klage ist zulässig. Die Zuständigkeit des angerufenen Landgerichts Nürnberg-Fürth resultiert aus §§ 71, 23 Nr. 1 GVG i.V.m. § 215 VVG.
B. Begründetheit
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Die Klage ist allerdings nicht begründet.
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Dem Kläger steht gegen die Beklagte kein Anspruch aus dem streitgegenständlichen Unfallversicherungsvertrag auf Bezug einer lebenslangen Rente auf Grundlage des Unfallereignisses vom 20.10.2016 zu. Denn der Kläger hat durch den streitgegenständlichen Unfall keine Invalidität von mindestens 50 % erlitten.
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Gemäß dem zwischen den Parteien vereinbarten Versicherungsvertrag bietet die Beklagte Versicherungsschutz bei Unfällen, die der versicherten Person während der Wirksamkeit des Vertrages zustoßen (Ziffer 1.1 AUB 2007). Voraussetzung für die Leistung ist, dass die körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit der versicherten Person unfallbedingt dauerhaft beeinträchtigt ist (Invalidität). Die Beeinträchtigung ist dauerhaft, wenn sie voraussichtlich länger als drei Jahre bestehen wird und eine Änderung des Zustandes nicht erwartet werden kann. Die Invalidität muss innerhalb von 18 Monaten nach dem Unfall eingetreten und innerhalb von 24 Monaten nach dem Unfall von einem Arzt schriftlich festgestellt und bei der Beklagten geltend gemacht worden sein (Ziffer 2.1.1.1 AUB 2007). Gemäß den besonderen Bedingungen für die Versicherung einer Unfallrente bei einem Invaliditätsgrad ab 50 % wird ergänzend zu Ziffer 2 der AUB 2007 eine Unfallrente entsprechend folgenden Bedingungen gezahlt: Die Voraussetzungen für eine Invaliditätsleistung sind nach Ziffer 2.1.1.1 der AUB 2007 der Continentale gegeben. Kein Anspruch auf Unfallrente besteht, wenn die versicherte Person unfallbedingt innerhalb eines Jahres nach dem Unfall stirbt. Der Unfall hat zu einem nach Ziffer 2.1.2.2.1 bis Ziffer 2.1.2.2.4 und Ziffer 3. der AUB 2007 der Continentale ermittelten Invaliditätsgrad von mindestens 50 % geführt. Stirbt die versicherte Person ist der Invaliditätsgrad maßgeblich, mit dem aufgrund der ärztlichen Befunde zu rechnen gewesen wäre. Gemäß Ziffer 2.1.2.2.1 gilt bei Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit des Beins über der Mitte des Oberschenkels ausschließlich ein Invaliditätsgrad von 70 %. Bei Teilverlust oder teilweiser Funktionsbeeinträchtigung der genannten Körperteile und Sinnesorgane gilt der entsprechende Teil des jeweiligen Prozentsatzes. Für andere Körperteile und Sinnesorgane bemisst sich dagegen Ziffer 2.1.2.2 der AUB 2007 der Invaliditätsgrad danach, inwieweit die normale körperliche oder geistige Leistungsfähigkeit insgesamt beeinträchtigt ist, wobei ausschließlich medizinische Gesichtspunkte zu berücksichtigen sind. Waren betroffene Körperteile oder Sinnesorgane oder deren Funktion bereits vor dem Unfall dauerhaft beeinträchtigt, wird der Invaliditätsgrad um die Vorinvalidität gemindert. Diese ist nach Ziffer 2.1.2.2.1 und 2.1.2.2.2 zu bemessen (vgl. Ziffer 2.1.2.2.3 AUB 2007).
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Zunächst ist festzuhalten, dass soweit der Kläger Leistungen aus der Unfallversicherung geltend macht, es ausschließlich auf die Verletzung seines Beines, nicht aber darauf ankommt, ob der Kläger unfallbedingt möglicherweise inkontinent geworden ist. Denn insofern hat zu keinem Zeitpunkt eine ärztliche Invaliditätsfeststellung stattgefunden, die der Beklagten als Versicherung angezeigt worden wäre. Das Erfordernis fristgerechter ärztlicher Feststellung der Invalidität ist eine echte Anspruchsvoraussetzung, deren Vorliegen nicht entschuldigt werden kann (BGH, Urteil vom 30.11.2005, Az.: IV ZR 154/04). Ohne fristgerechte Feststellung dieser behaupteten Unfallfolge - wie hier nicht - ist eine Berücksichtigung demnach nicht möglich und auch keine diesbezügliche Beweiserhebung veranlasst. Denn die Invaliditätsfeststellung muss die ärztlicherseits dafür angenommene Ursache und die Art ihrer Auswirkungen enthalten, damit der Versicherer die Gelegenheit erhält, seine Leistungspflicht aufgrund der ärztlichen Feststellung zu prüfen. Zugleich soll sie damit eine Ausgrenzung von Spätschäden ermöglichen. Erforderlich ist daher die Angabe eines konkreten Dauerschadens. Denn nur einem Dauerschaden, zu dessen Ursache und Auswirkungen sich die Bescheinigung bereits verhält, kann der Versicherer in der Prüfung auch nachgehen (BGH, Urteil vom 07.03.2007, Az.: IV ZR 137/06).
19
Soweit das Bein des Klägers unfallbedingt betroffen worden ist, gilt folgendes:
20
Der Kläger hat in Folge des im Kern unstreitigen Unfalls vom 20.10.2016 einen Oberschenkelhalsbruch erlitten. Er wurde operiert und es wurde eine Platte eingesetzt. Aufgrund einer Schraubenlockerung erfolgte eine Nachoperation mit Hüftgelenksersatz. Anschließend befand sich der Kläger in stationärer Rehabilitation in Bayreuth. Die Therapie wurde circa Ende 2016 abgeschlossen. Wie bereits dargelegt, gilt ein Invaliditätsgrad von 70 % bei Verlust oder völliger Funktionsunfähigkeit des Beins über der Mitte des Oberschenkels. Das heißt, der Fall ist grundsätzlich nach der Gliedertaxe der Ziffer 2.1.2.2.1 AUB 2007 zu beurteilen. Es lässt sich schon ohne weitere Beweiserhebung und nur auf Basis der Privatgutachten Dr. … und Dr. …, die dem Gericht vorliegen, entscheiden, dass jedenfalls keine Invalidität von 50 % eingetreten ist (BGH, Urteil vom 11.05.1993, Az.: VI ZR 243/92). Denn soweit der Kläger die bisherigen Begutachtungsergebnisse im Wesentlichen mit dem Argument angreift, es sei fälschlicherweise eine Vorinvalidität berücksichtigt worden, die so tatsächlich nicht bestehe oder bestanden habe, kommt es darauf nicht entscheidungserheblich an. Denn selbst dann, wenn man die von den Gutachtern jeweils festgestellte und berücksichtigte Vorinvalidität vollständig streichen wollte, so bliebe doch keine 50 %-ige Invalidität geben.
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Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. … ist davon auszugehen, dass am betroffenen Körperteil (linkes Bein) eine im Begutachtungszeitpunkt und voraussichtlich auf Dauer bestehende Invalidität von 12/20 Beinwert besteht, eine Vorinvalidität von 6/20 Beinwert und eine unfallbedingte Invalidität von 3/10 Beinwert. Soweit auf Seite 22 des Gutachtens ausgeführt wird, es verbleibe ein dauerhafter Beinwert von „12/10“, handelt es sich offenkundig um einen Schreibfehler, da als Dauerfolge 3/10 und als Vorinvalidität 6/20 angesetzt wurden. 3/10 + 6/20 ergibt aber nicht 12/10, sondern 12/20 bzw. 6/10. Selbst wenn man bei Ansatz dieser Werte die Vorinvalidität unberücksichtigt lässt, d.h. einen dauerhaften Invaliditätsgrad von 12/20 bzw. 6/10 unterstellt, ergibt sich bei Übertragung auf die Gliedertaxe ein Maximalwert von 70 % + 0,6 = 42 %, d.h. von unter 50 %. Auch das Gutachten Prof. Dr. … bescheinigt für das betroffene Körperteil „linkes Bein“ eine Gesamtinvalidität von 6/10 und eine gegebenenfalls vor dem Unfall bestehende Invalidität von 3/10. Ungeachtet der Frage, ob man nun hier 6/10 oder 3/10 ansetzt, kommt man auch nach dieser Berechnung günstigstenfalls zu einer Invalidität von 42 %.
22
Soweit der Kläger mit Schriftsatz vom 15.01.2021 hat vortragen lassen, die Privatgutachten der Beklagten seien auch insoweit zu bemängeln, als dort von „falsche Angaben“ enthalten seien (s. dort Bl. 42 d.A. oben), ist dies insofern unbehelflich, als damit erkennbar wieder nur die Frage nach der Berücksichtigung von - nach den obigen Ausführungen bereits ausgeklammerten - Vorbeeinträchtigungen betroffen ist. Nachvollziehbare Anhaltspunkte dafür, dass die von beiden Gutachtern übereinstimmend festgestellte Gesamtbeeinträchtigung auf Dauer falsch ist, liefert der Kläger (auch dort) nicht.
23
Die Klage war darum insgesamt ohne weitere Beweiserhebung abzuweisen.
C. Prozessuale Nebenentscheidungen
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Die prozessualen Nebenentscheidungen basieren auf §§ 91, 709 Satz 2 ZPO.