Inhalt

VGH München, Beschluss v. 02.08.2021 – 10 CE 21.1427
Titel:

Erfolgreicher Antrag im einstweiligen Rechtsschutzverfahren auf Erteilung einer Duldung wegen tatsächlicher Unmöglichkeit der Abschiebung (fehlende Reisedokumente für die Türkei)

Normenketten:
VwGO § 123 Abs. 1, Abs. 3, § 146 Abs. 4 S. 6
ZPO § 920 Abs. 2
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, Abs. 6 S. 1 Nr. 2, § 60b
Leitsätze:
1. Von einer tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung eines Ausländers im Zusammenhang mit einem nicht zur Verfügung stehenden Pass ist auszugehen, wenn ein Abschiebungsversuch gescheitert oder eine Abschiebung ohne Pass oder Passersatz nach §§ 3 ff. AufenthV nicht möglich ist. (Rn. 17) (red. LS Andreas Decker)
2. Ein Vertretenmüssen der betroffenen Person in Bezug auf das Abschiebungshindernis, mithin ein Verschulden, ist bei der Prüfung der tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung wegen eines nicht verfügbaren Passes iRd § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG nicht zu berücksichtigen. (Rn. 26) (red. LS Andreas Decker)
3. Bei einer Verfügung gem. § 60b AufenthG handelt es sich um eine isoliert anfechtbare Nebenbestimmung. (Rn. 28) (red. LS Andreas Decker)
Schlagworte:
Beschwerde, Duldung, Türkei, Tatsächliche Unmöglichkeit, Passvorlagepflicht, Verstoß, maßgeblicher Zeitpunkt, fehlende Reisedokumente, Abschiebung, tatsächliche Unmöglichkeit, Vertretenmüssen, Verfahrensdauer
Vorinstanz:
VG Augsburg, Beschluss vom 19.04.2021 – Au 6 E 21.622
Fundstelle:
BeckRS 2021, 22484

Tenor

I. Unter Abänderung des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 19. April 2021 wird der Antragsgegner verpflichtet, die Abschiebung des Antragstellers einstweilen auszusetzen.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,-- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
1
Mit der Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen vor dem Verwaltungsgericht erfolglosen Eilantrag weiter, den Antragsgegner zu verpflichten, ihm einstweilen eine Duldung zu erteilen.
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Der am ... 1994 geborene Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger und stellte am 19. September 2017 im Bundesgebiet einen Asylantrag. Zur Durchführung des Asylverfahrens legte er einen Nüfus und einen Führerschein vor, die bei der zuständigen Ausländerbehörde verblieben. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 20. August 2019 lehnte das Bundesamt für ... den Asylantrag des Antragstellers ab. In der Folge forderte der Antragsgegner den Antragsteller vergeblich auf, einen türkischen Pass vorzulegen.
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Als der Antragsgegner den Antragsteller am 2. September 2020 erneut zur Vorlage eines türkischen Passes aufforderte, trug dieser vor, für den 26. November 2020 bei dem türkischen Generalkonsulat einen Termin zur Abholung des Passes vereinbart zu haben. Auf Bitte des Antragstellers händigte der Antragsgegner diesem daraufhin hierfür am 25. November 2020 den Nüfus und den Führerschein aus. In der Folge tauchte der Antragsteller jedoch unter, und der Antragsgegner ließ ihn zur Fahndung ausschreiben. Am 6. Januar 2021 stellte der Bevollmächtigte des Antragstellers bei der zuständigen Ausländerbehörde sodann mangels Passes einen Antrag auf Erteilung einer Duldung. Am 19. Januar 2021 erschien der Antragsteller wieder in der Gemeinschaftsunterkunft. Als der Antragsgegner ihn aufforderte, den türkischen Pass, den Nüfus und den Führerschein vorzulegen, verwies der Antragsteller darauf, dass er für die Abholung des Passes einen geregelten Aufenthalt, mindestens in Form einer Duldung, benötige. Erst dann könne er seinen Pass beantragen, und er werde auch erst nach Ausstellung einer Duldung bei dem türkischen Generalkonsulat zwecks Antragstellung vorsprechen.
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Am 16. März 2021 hat der Antragsteller bei dem Verwaltungsgericht beantragt, den Antragsgegner zu verpflichten, ihm einstweilen eine Duldung zu erteilen.
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Im Zuge des Eilverfahrens vor dem Verwaltungsgericht hat der Antragsgegner mit Schreiben vom 23. März 2021 angegeben, am selben Tag ein Passersatzpapierverfahren und die Abschiebung des Antragstellers eingeleitet zu haben. Die Bearbeitungsdauer für die Ausstellung des Passersatzpapiers für die Türkei betrage nach Auskunft des Bayerischen Landesamtes für Asyl und Rückführung sowie deren Länderinformationen mit der Vorlage eines Nüfus (auch in Kopie) in der Regel zwölf Wochen. Nach Vorlage des Heimreisedokuments sei eine Abschiebung in die Türkei innerhalb von vier bis sechs Wochen durchführbar.
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Mit angegriffenem Beschluss vom 19. April 2021 hat das Verwaltungsgericht den Eilantrag des Antragstellers abgelehnt. Zur Begründung führt es an, es seien keine Gründe ersichtlich, aus denen eine Abschiebung tatsächlich oder rechtlich im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG unmöglich sei. Nach Aktenlage sei ein Verfahren zur Ausstellung eines türkischen Passes eingeleitet worden, die Behauptung des Antragstellers, er werde erst - mit einer Duldung - einen Pass beantragen, sei widerlegt. Zur Abholung eines Passes bedürfe es keines deutschen Aufenthaltsdokuments, sondern eines türkischen Identitätsnachweises, z.B. einer Kimli Karti, eines Nüfus oder eines türkischen Führerscheins. Diese beiden letzten Dokumente habe der Antragsteller in seinem Besitz. Insgesamt spreche alles dafür, dass der Antragsteller den beantragten Pass nur noch nicht abgeholt oder ihn gar abgeholt habe, aber nicht vorlegen wolle. Die Kammer halte es für möglich, dass der Antragsteller den Pass im Besitz habe und dem Antragsgegner gegenüber bewusst unterdrücke.
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Mit Schriftsatz vom 1. Mai 2021 hat der Antragsteller hiergegen Beschwerde erhoben der Sache nach mit dem Antrag,
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unter Änderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts den Antragsgegner zu verpflichten, ihm einstweilen eine Duldung zu erteilen.
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Zur Begründung trägt er unter anderem vor, dass die Duldung auch dann zu erteilen sei, wenn der Betroffene seine Mitwirkungspflichten nicht erfülle. Im Übrigen seien die Mutmaßungen des Verwaltungsgerichts, dass der Pass abholbereit sei oder sich im Besitz des Antragstellers befinde und dass man zur Abholung eines Passes nur die Identitätskarte vorlegen müsse, nicht belegt. Außerdem gehe es nicht um die Abholung eines bereits bei dem Generalkonsulat liegenden Passes, sondern um die Beantragung eines neuen Passes. Dieser Antrag setze zwingend die Vorlage eines Aufenthaltsnachweises voraus, schon um die örtliche Zuständigkeit des Konsulats zu prüfen.
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Mit Schreiben vom 26. Mai 2021 und zuletzt vom 23. Juni 2021 hat der Antragsgegner beantragt,
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die Beschwerde zurückzuweisen.
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Zur Begründung trägt er unter anderem ergänzend vor, dass das türkische Generalkonsulat inzwischen bestätigt habe, dem Antragsteller bereits am 26. November 2020 einen Pass ausgestellt und ausgehändigt zu haben. Der Antragsgegner beabsichtige daher, ihn ein weiteres Mal vorzuladen, zu befragen und erneut ausdrücklich zur Vorlage des Passes aufzufordern. Sofern er nicht mehr im Besitz des Passes sei, müsse er eine Verlustanzeige abgeben. Mit einer Verlustanzeige oder dem Befragungsprotokoll könne auch ein Passersatzpapier beantragt werden. Nach Vorlage des Flugtermins dauere die Ausstellung dann etwa zwei Wochen. Nach Auskunft des Bayerischen Landesamtes für Asyl und Rückführungen seien auf der Grundlage der bisherigen Erfahrungen Abschiebungen in die Türkei mit einem Passersatzpapier innerhalb von circa vier bis acht Wochen (begleitet und unbegleitet) möglich.
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Im Übrigen wird wegen der weiteren Einzelheiten auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
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1. Die zulässige Beschwerde ist begründet.
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Das Vorbringen im Beschwerdeverfahren, auf dessen Überprüfung der Senat nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, rechtfertigt es, eine von dem Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 19. April 2021 abweichende Entscheidung zu treffen. Der Antragsteller hat den erforderlichen Anordnungsanspruch auf einstweilige Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG sowie einen Anordnungsgrund in einer den Anforderungen des § 123 Abs. 1 und 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO genügenden Weise glaubhaft gemacht.
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a) Der Antragsteller hat insbesondere die Tatsachen für die Annahme des geltend gemachten Anordnungsanspruchs dargelegt und glaubhaft gemacht. Er hat Umstände dargelegt und glaubhaft gemacht, die es nahelegen, dass die Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG tatsächlich unmöglich ist.
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aa) Von einer tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung eines Ausländers im Zusammenhang mit einem nicht zur Verfügung stehenden Pass ist auszugehen, wenn ein Abschiebungsversuch gescheitert ist oder eine Abschiebung ohne Pass oder Passersatz nach §§ 3 ff. AufenthV nicht möglich ist (vgl. BayVGH, B.v. 26.11.2018 - 19 CE 17.2453 - juris Rn. 23 m.w.N.). Gleiches gilt, wenn ungewiss ist, ob eine Abschiebung ohne derartige Papiere möglich sein wird. Umgekehrt ist die tatsächliche Unmöglichkeit zu verneinen, wenn eine Abschiebung nach den einschlägigen Erfahrungen der Ausländerbehörde auch ohne Pass oder Passersatz möglich ist. Die Ausländerbehörde hat diese Erfahrungen zu substantiieren und zu plausibilisieren (vgl. Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand: März 2021, § 60a Rn. 318 m.w.N.).
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Der für die Durchführung der Abschiebung notwendige Zeitraum macht diese nicht zeitweise unmöglich. Dies gilt indes nur für den üblicherweise erforderlichen Zeitraum. Der Gesetzgeber geht insofern von der zügigen Durchführung der Abschiebung aus (vgl. BVerwG, U.v. 25.9.1997 - 1 C 3.97 - juris Rn. 23). Lediglich kurzfristige, mithin geringfügige zeitliche Verzögerungen begründen demnach keine tatsächliche Unmöglichkeit (vgl. Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand: März 2021, § 60a Rn. 311 m.w.N.). Auch dies hat die Ausländerbehörde zu substantiieren und zu plausibilisieren. Ist absehbar, dass der üblicherweise erforderliche Zeitraum überschritten wird, kann die Ausländerbehörde die zu erteilende beziehungsweise zu verlängernde Duldung insbesondere mit einer kurzen Laufzeit versehen (vgl. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG: "solange"; ebenso: OVG MV, B.v. 29.10.2007 - 2 M 179/07 - juris Rn. 9). Im Übrigen wird die Duldung nach § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG widerrufen, wenn die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe entfallen.
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bb) Gemessen daran sind die Voraussetzungen für die Annahme einer tatsächlichen Unmöglichkeit im vorliegenden Fall erfüllt.
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Der Antragsgegner verfügt nach eigenem Vortrag sowie nach dem Vorbringen des Antragstellers derzeit nicht über einen Pass oder ein Passersatzpapier des Antragstellers, um diesen in den Zielstaat abzuschieben. Dass eine Abschiebung dorthin auch ohne diese Dokumente möglich ist, hat der Antragsgegner nicht vorgetragen. Der Antragsgegner, der sich der Sache nach auf eine lediglich kurzfristige Verzögerung im Zusammenhang mit dem (noch) durchzuführenden Passersatzbeschaffungsverfahren sowie den begleitenden organisatorischen Maßnahmen der Abschiebung beruft, hat nicht substantiiert dargelegt, dass der üblicherweise erforderliche Zeitraum der Abschiebung nicht überschritten wird.
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Maßgeblicher Zeitpunkt für diese Beurteilung ist die Entscheidung des Senats. Dabei ist zunächst festzustellen, dass, seitdem sich der Antragsgegner am 23. März 2021 erstmals auf das bereits eingeleitete Passersatzbeschaffungsverfahren berufen hat, mittlerweile über vier Monate verstrichen sind. Zudem ist wohl entgegen der ursprünglich von dem Antragsgegner getroffenen Aussage (vgl. VG Augsburg, Gerichtsakte, Bl. 11: "wurde am 23.03.2021 von Amts wegen das Passersatzpapierverfahren … eingeleitet") das Verfahren noch nicht in Gang gesetzt worden. Vielmehr beabsichtigt der Antragsgegner offensichtlich erst, geknüpft an eine Mitwirkung des Antragstellers, namentlich eine vorangehende Vorsprache beziehungsweise eine Verlustanzeige, ein solches Passersatzpapier zu beantragen (vgl. Senatsakte, Bl. 20 Rückseite: "ist beabsichtigt, ihn … zur Befragung … vorzuladen" u. "Mit der genannten Verlustanzeige oder dem Protokoll der genannten Befragung … kann dann auch ein Passersatzpapier beantragt werden").
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Zwar hat der Antragsgegner im Beschwerdeverfahren die einzelnen Zwischenschritte der Abschiebung und deren voraussichtliche Dauer benannt, jedoch die jeweils prognostizierte Dauer der einzelnen Zwischenschritte, darunter auch die Ausstellung von Passersatzpapieren durch eine ausländische Auslandsvertretung, auf die die Ausländerbehörde keinen Einfluss hat, nicht hinreichend plausibilisiert. Der bloße Verweis auf die bisherigen Erfahrungen des Landesamtes für Asyl und Rückführungen reicht hierfür im vorliegenden Fall nicht aus. Denn nach früheren Angaben des Antragsgegners ebenfalls unter Bezugnahme auf die genannte Landesbehörde beträgt allein die Bearbeitungsdauer für die Ausstellung eines Passersatzpapiers bis zu zwölf Wochen (vgl. VG Augsburg, Gerichtsakte, Bl. 11: "bis zu zwölf Wochen" u. Bl. 12: "dauert i. d. R. bis zu zwölf Wochen"), wobei nach Vorlage des Heimreisedokuments eine Abschiebung in der Regel nach vier bis sechs Wochen durchführbar sei (vgl. VG Augsburg, Gerichtsakte, Bl. 13). Dies bedeutet, dass der Antragsgegner zunächst noch mit einer Dauer von bis zu viereinhalb Monaten kalkuliert hat. Unter diesen Umständen muss der Antragsgegner im Einzelnen dartun und glaubhaft machen, wie er zu den zuletzt vorgetragenen kürzeren Erfahrungswerten gelangt ist, um diese hinreichend nachvollziehbar zu machen.
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Zudem hat der Vorsprachetermin, der die Grundlage für die folgenden Zwischenschritte der Abschiebung bilden soll, bislang augenscheinlich auch noch nicht stattgefunden.
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Damit summiert sich die Dauer der von dem Antragsgegner genannten Zwischenschritte der Abschiebung samt Vorlauf für die von ihm avisierte Vorladung auf drei Monate oder noch länger, mithin einen Zeitraum, für den üblicherweise Duldungen ausgestellt werden (vgl. BayVGH, B.v. 22.1.2019 - 10 CE 19.149 - juris Rn. 17).
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Nach alledem ist von dem Antragsgegner nach Auffassung des Senats nicht hinreichend dargetan, dass der für die Durchführung einer Abschiebung üblicherweise erforderliche Zeitraum nicht überschritten ist (vgl. zu d. Zeiträumen: OVG MV, B.v. 29.10.2007 - 2 M 179/07 - juris Rn. 7 f.; OVG Berlin-Bbg., B.v. 27.3.1998 - 3 S 2.98 - EzAR 045 Nr. 8, S. 2), mit der Folge, dass von einer tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung auszugehen ist.
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cc) Ein Vertretenmüssen der betroffenen Person in Bezug auf das Abschiebungshindernis, mithin ein Verschulden, ist bei der Prüfung der tatsächlichen Unmöglichkeit der Abschiebung wegen eines nicht verfügbaren Passes im Rahmen des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG nicht zu berücksichtigen.
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Einer Auslegung, welche ein Verschulden der betroffenen Person auf der Tatbestandsebene des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG bei der Prüfung einer tatsächlichen Unmöglichkeit berücksichtigt, steht der Wortlaut der Norm entgegen. Dieser bietet hierfür keine Grundlage, da er allein darauf abstellt, ob die Abschiebung tatsächlich unmöglich ist oder nicht. Ein diesbezüglicher Wille des historischen Gesetzgebers ist den einschlägigen Materialien ebenfalls nicht zu entnehmen (vgl. zu § 55 AuslG a.F.: BT-Drs. 11/6321 S. 76: "Absatz 2 faßt die Fälle zusammen, in denen eine Duldung erteilt werden muß"). Ferner sprechen systematische Erwägungen dagegen, ein Verschulden der betroffenen Person auf der Tatbestandsebene des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG bei der Prüfung einer tatsächlichen Unmöglichkeit zu berücksichtigen. Das System des Aufenthaltsgesetzes regelt einerseits die Erteilung und Verlängerung von Aufenthaltstiteln und andererseits die Ausreisepflicht und die Abschiebung vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer beziehungsweise die Aussetzung der Abschiebung und basiert damit auf der Annahme, dass ein ausreisepflichtiger Ausländer grundsätzlich entweder abgeschoben wird oder zumindest eine Duldung erhält, sodass kein ungeregelter Aufenthalt entsteht. Auch die Binnensystematik des § 60a AufenthG spricht gegen eine solche Auslegung. § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG versagt dem Inhaber einer Duldung die Ausübung einer Erwerbstätigkeit, wenn aufenthaltsbeendende Maßnahmen bei ihm aus Gründen, die er selbst zu vertreten hat, nicht vollzogen werden können. Wäre ein derartiges Verschulden bereits auf der Tatbestandsebene des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen, könnte die Person nicht Inhaber einer Duldung sein, und § 60a Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 AufenthG verbliebe faktisch kein Anwendungsbereich, d.h. die Norm wäre obsolet. Schließlich verbieten Sinn und Zweck der Duldung, namentlich deren Funktion als Vollstreckungshindernis in Bezug auf das besondere Zwangsvollstreckungsmittel der Abschiebung, ein Verschulden der betroffenen Person und damit wertende Elemente in den Tatbestand hineinzulesen (vgl. zu § 55 AuslG a.F.: BVerfG, B.v. 6.3.2003 - 1 BvR 397/02 - juris Rn. 37 f.; BVerwG, U.v. 21.3.2000 - 1 C 23.99 - juris Rn. 12 ff.; U.v. 25.9.1997 - 1 C 3.97 - juris Rn. 16, 19 u. 20; vgl. zu § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG: BayVGH, B.v. 9.6.2010 - 10 ZB 09.2843 - juris Rn. 13 u. OVG NW, B.v. 24.3.2010 - 18 B 84/10 juris Rn. 4 ff.).
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Im Übrigen ist darauf zu verweisen, dass der Gesetzgeber mit dem Zweiten Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15. August 2019 die Vorschrift des § 60b AufenthG eingeführt hat, der am 21. August 2019 in Kraft getreten ist (vgl. BGBl. I S. 1294 <1298 f. u. 1306>) und die konkreten Folgen eines Vertretenmüssens in Bezug auf die dort geregelten tatsächlichen Abschiebungshindernisse festlegt (vgl. speziell § 60b Abs. 1 Satz 1 u. Abs. 2 u. 3 AufenthG). Bei einer Verfügung gemäß § 60b AufenthG handelt es sich um eine isoliert anfechtbare Nebenbestimmung (vgl. NdsOVG, B.v. 9.6.2021 - 13 ME 587/20 - juris Rn.10 u. Rn. 12 m.w.N.; Wittmann/Röder in ZAR 2019, 362 <363>), deren Erlass die zuständige Ausländerbehörde grundsätzlich von sich aus zu prüfen hat. Die zuständige Ausländerbehörde erteilt die Duldung mit dem Zusatz "für Personen mit ungeklärter Identität" von Amts wegen, wenn die Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen (vgl. BT-Drs. 19/10047 S. 38). Nach dem zuletzt eingereichten Vorbringen des Antragsgegners im Beschwerdeverfahren dürfte allerdings ein Verstoß des Antragstellers gegen die Passvorlagepflicht näherliegen als gegen die dort geregelte Passbeschaffungspflicht.
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Zwar wird teilweise trotz der genannten Argumente und der aufgeführten Rechtsprechung sowie ungeachtet der Einführung des § 60b AufenthG vertreten, dass eine grobe Missachtung der Mitwirkungspflichten im Zusammenhang mit der Verfügbarkeit eines Passes weiterhin nicht in eine tatsächliche Unmöglichkeit mündet, weil sich der geltend gemachte Anspruch auf der Erteilung einer Duldung in einem solchen Fall als unzulässige Rechtsausübung beziehungsweise Rechtsmissbrauch darstellt (vgl. Hailbronner in Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: Februar 2020, § 60a Rn. 104 ff.; Kluth/Breidenbach in BeckOK Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 29. Aufl., Stand: 1.1.2021, § 60a Rn. 11 m.w.N.; a.A. inzwischen: Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand: März 2021, § 60a Rn. 321 m.w.N.). Dem folgt der Senat jedoch aus den genannten Erwägungen - nicht.
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b) Auch die für die Annahme eines Anordnungsgrundes erforderlichen Tatsachen sind von dem Antragsteller dargetan und glaubhaft gemacht.
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Der Antragsgegner ist dem Antrag des Antragstellers auf Erteilung einer Duldung bislang nicht nachgekommen, hat diesem zuletzt eine zweite Grenzübertrittsbescheinigung mit Gültigkeit bis zum 23. April 2021 ausgestellt und betreibt nach eigenem Vorbringen das Verfahren zur Abschiebung des Antragstellers weiter.
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c) Von der Verpflichtung zur Erteilung einer einstweiligen Duldung für eine bestimmte Dauer sieht der Senat nach § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 938 Abs. 1 ZPO - schon vor dem Hintergrund einer für ihn aktuell nur schwer zu prognostizierenden Dauer für die beabsichtigte Abschiebung sowie der Möglichkeit der zuständigen Ausländerbehörde, die Duldung nach pflichtgemäßem Ermessen mit Blick auf den voraussichtlichen Wegfall des Abschiebungshindernisses zu befristen (s.o.) ab (vgl. BayVGH, B.v. 11.1.2019 - 10 CE 19.149 - juris Rn. 17).
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2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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3. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG in Verbindung mit Nrn. 8.3 und 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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4. Dieser Beschluss ist nach § 152 Abs. 1 VwGO unanfechtbar.