Inhalt

FG Nürnberg, Urteil v. 28.07.2021 – 3 K 1589/20
Titel:

rückwirkende Auszahlung von Kindergeld für EU- Bürger

Normenketten:
EStG § 1 Abs. 3, § 67 S. 1,§ 70 Abs. 1 S. 2
AEUV Art. 21, Art. 45
FGO § 74, 135 Abs. 1
Leitsätze:
1. Der Wortlaut der neuen Vorschrift des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG weist mit der Verwendung des Begriffs  „Auszahlung“ auf das Erhebungsverfahren hin. (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)
2. Der Gesetzgeber ordnet den Begriff „gezahlt“ teilweise dem Erhebungs- und teilweise dem Festsetzungsverfahren zu, verwendet er üblicherweise die Begriffe „ausgezahlt“ oder „Auszahlung“, wenn er den dem Erhebungsverfahren zuzuordnenden Auszahlungsvorgang beschreiben will, so etwa in § 70 Abs. 1 Satz 1, § 72 Abs. 1 Satz 1, § 74 Abs. 1 Sätze 1, 2 und 4 EStG  (Rn. 52) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Kindergeldauszahlung, Familienkasse, Nachzahlung, Kindergeldgewährung, EU-Bürger, 6 Monatsfrist, Diskriminierung
Rechtsmittelinstanz:
BFH München, Urteil vom 14.07.2022 – III R 28/21
Weiterführende Hinweise:
Revision zugelassen
Fundstelle:
BeckRS 2021, 22124

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
3. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1
Streitig ist das Kindergeld für A (geb.: 04.11.2007), den Sohn des Klägers, für die Monate März und April 2019.
2
Der Kläger ist rumänischer Gastarbeiter, der von 18.03.2019 bis 31.05.2019 in Deutschland als Arbeitnehmer beschäftigt war und anlässlich der Aufnahme dieser Beschäftigung nach Deutschland eingereist war.
3
Die Prozessbevollmächtigten beantragten mit formlosen Schriftsatz vom 22.11.2019 (eigegangen bei der Familienkasse am 25.11.2019) die Festsetzung von Kindergeld für A. Diesem Antrag waren weder ein Steuerbescheid, noch sonstige Unterlagen beigefügt. Bei Antragstellung erfolgte keine Angabe der Monate, für welche Kindergeld beansprucht werde, sondern der Antrag sollte „sämtliche Anspruchszeiträume bis zur Erstellung des Kindergeldbescheids“ umfassen.
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Mit Schriftsatz vom 09.09.2020 legten die Prozessbevollmächtigten eine Geburtsurkunde des Kindes, eine Heiratsurkunde der Eltern (beides in rumänischer Sprache), das teils ausgefüllte Formblatt E 411, eine Familienstandsbescheinigung in rumänischer und deutscher Sprache vom 08.11.2019 (Kind und beide Eltern wohnen in 1, Rumänien), einen Ausdruck der deutschen elektronischen Lohnsteuerbescheinigung für 2019 mit der Angabe eines Beschäftigungszeitraums vom 18.03 bis 31.05., einen förmlichen Antrag auf deutsches Kindergeld und einen Einkommensteuerbescheid des Finanzamts 2 für 2019 vom 31.08.2020 vor, bei dem in den Erläuterungen ausgeführt wird, dass eine Veranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG durchgeführt wurde.
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Mit Bescheid vom 05.11.2020 setzte die Familienkasse Kindergeld für März bis Mai 2019 in Höhe eines Unterschiedsbetrages zwischen dem gesetzlichen Kindergeld und der rumänischen Familienleistung zu Gunsten des Klägers für dessen Sohn A fest. Im selben Bescheid verfügte die Familienkasse unter der Überschrift „Berechnung des zustehenden Unterschiedsbetrages an Kindergeld“, dass sich hieraus eine Nachzahlung des Kindergeldes für den Zeitraum Mai 2019 in Höhe von 163,22 € ergebe. Eine Berechnung der Festsetzung für März und April 2019 wurde nicht vorgenommen.
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Die Entscheidung wurde damit begründet, dass eine Auszahlung nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nur 6 Monate rückwirkend vor Antragstellung möglich sei. Der Anspruch auf Kindergeld nach § 62 bleibe von dieser Auszahlungsbeschränkung unberührt.
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Den Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 08.12.2020 als unbegründet zurück.
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Die Prozessbevollmächtigten haben Klage erhoben.
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Mit geändertem Kindergeldbescheid vom 14.07.2021 setzte die Familienkasse wiederum für März bis April 2019 Kindergeld in Höhe eines Unterschiedsbetrages zwischen dem gesetzlichen Kindergeld und der rumänischen Familienleistung zu Gunsten des Klägers für dessen Sohn A fest. Sie änderte jedoch die Anlage „Berechnung des zustehenden Unterschiedsbetrages an Kindergeld“ dahin, dass, unter Anrechnung von 84 RON (17,08 €) für März 2019 und 150 RON (30,49 €) für April 2019, Kindergeld in Höhe von 176,92 € für März 2019 und 163,51 € für April 2019 berechnet wurde. Die Auszahlung von Kindergeld für die Monate März bis April 2019 wurde abgelehnt.
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Die Prozessbevollmächtigten haben zur Begründung der Klage im Wesentlichen vorgetragen:
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§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG verstoße gegen Art. 3 GG. Außerdem schränke die Vorschrift das Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) unzulässig ein und verletze das Diskriminierungsverbot nach Art. 18 AEUV. Damit verstoße die Norm gegen Verfassungsrecht sowie zwingendes europäisches Recht.
12
Der fristwahrende, formlose Erstantrag des Klägers sei am 22.11.2019 für die Zukunft bis zur Erstellung des Kindergeldbescheids gestellt worden. Die für eine Kindergeldgewährung erforderlichen Unterlagen könnten bei Gastarbeitern jedoch erst nach Beendigung des Jahres, in dem die Gastarbeit stattgefunden habe, vorgelegt und der Anspruch geltend gemacht werden. Der Grund liege darin, dass die nötigen Dokumente für den Kindergeldanspruch erst im Folgejahr vorlägen. So werde die Lohnsteuerbescheinigung durch die Arbeitgeber erst am Ende des Beschäftigungsjahres ausgestellt, auch wenn die Beschäftigung unterjährig begonnen und beendet worden sei, was mit den Lohnmeldeverfahren bei den Finanzämtern zusammenhänge. Daneben sei für den Kindergeldanspruch nach dem EStG ein Antrag auf unbeschränkte Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG nötig, der auch erst im Folgejahr gestellt werden könne. Dasselbe gelte für die Formulare E 401 und E 411.
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§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG verstoße damit gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 GG. Durch die Norm würden wesentlich gleiche Personengruppen ungleich behandelt.
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Die Antragstellung sei für einen Arbeitnehmer aus einem EU-Mitgliedsstaat deutlich schwieriger als für einen inländischen Arbeitnehmer und ohne Rechtsvertretung fast unmöglich. Inländische Eltern würden einen einmaligen Antrag auf Kindergeld nach der Geburt des Kindes stellen. Hier bestehe einmalig das Risiko, den Antrag verfristet zu stellen, und nicht für sämtliche Monate ab der Geburt. Danach gelte der Antrag bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes fort, eine erneute Antragstellung sei nicht nötig. Nach Vollendung des 18. Lebensjahres sei kein weiterer Antrag erforderlich, sondern nur die Ausbildungsnachweise vorzulegen. Hinzu komme, dass der inländische Berechtigte auf diesen Umstand seitens der zuständigen Familienkasse frühzeitig per entsprechendem Anforderungsschreiben hingewiesen werde.
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Eltern mit Kindern aus anderen EU Staaten müssten jedoch seit Einführung des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG zur Sicherung ihres Anspruchs auf Kindergeld nach jeder Beschäftigung - aber mindestens 2 Mal pro Jahr - einen Antrag bei der Familienkasse einreichen. Dies könne einen Umfang von 36 Kindergeldanträgen (plus zugehöriger Nachweise) ausmachen, bis ein Kind 18 Jahre alt sei. Ein einmal gestellter Kindergeldantrag umfasse hierbei nicht automatisch alle weiteren Beschäftigungszeiten, d.h. er gelte nicht automatisch für die Zukunft. Im Gegenteil, die Beklagte lege Kindergeldanträge so aus, dass sie sich nur auf den Zeitraum bezögen, für den Unterlagen eingereicht würden, und weise hierauf nicht ausdrücklich hin. Hinzu kämen sprachliche Hürden bei dem Ausfüllen der meist nur deutschsprachigen Formulare und dem Zugang zu den online Dokumenten der Familienkasse.
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Hierin sei die direkte Ungleichbehandlung zu sehen, da die betroffene Norm bzw. deren Umsetzung in ihrer direkten Umsetzung zu einer faktischen Rechtseinschränkung europäischer Arbeitnehmer führe. Zumindest müsse von einer mittelbaren Ungleichbehandlung ausgegangen werden.
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Diese Einschränkung sei nicht verhältnismäßig. § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG und dessen Umsetzung durch die Beklagte stellten kein geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel zu der als Gesetzesbegründung vorgetragenen Einschränkung von Sozialmissbrauch oder von Fehlzahlungen dar. Ansprüche von europäischen Arbeitnehmern würden durch die Komplexität des Verfahrens verhindert und somit sei lediglich eine Verhinderungsverwaltung geschaffen worden. Der gleichberechtigte Zugang zu Kindergeld werde verhindert.
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Außerdem schränke § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG das Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) unzulässig ein und verstoße gegen das Diskriminierungsverbot nach Art. 18 AEUV. Für einen Unionsbürger sei der Zugang zum steuer- oder sozialrechtlichen Kindergeldanspruch und damit auch der Zugang zum Arbeits- und Wirtschaftsmarkt in Deutschland deutlich erschwert. Der EuGH habe in bereits bestehender Rechtsprechung regelmäßig darauf hingewiesen, dass der Zweck der Art. 47 und 48 AEUV verfehlt würde, wenn der Wanderarbeiter bei der Gewährung sozialer Leistungen Nachteile erleide, da so das Recht auf Freizügigkeit eingeschränkt werde. Ein Wanderarbeiter dürfe nicht schlechter gestellt werden als eine Person, die ihr ganzes Leben nur in einem Mitgliedstaat tätig sei.
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Damit verstoße die Norm gegen Verfassungsrecht sowie zwingendes europäisches Recht.
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Hilfsweise wird vorgetragen, dass die Beklagte § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG in verfassungswidriger Form umsetze, indem eine Vielzahl von immer neuen Anträgen von ausländischen Arbeitnehmern gefordert werde.
21
Die Prozessbevollmächtigten des Klägers beantragen, das vorliegende Klageverfahren auszusetzen und eine Vorabentscheidung des EuGH zu den folgenden Vorlagefragen einzuholen:
22
Sind Art. 18 AEUV, Art. 21 AEUV und Art. 45 AEUV dahingehend auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach jeder Anspruchsberechtigte nur für 6 Monate rückwirkend Familienausgleichsleistungen ausgezahlt erhält? Ist diese Frage jedenfalls dann zu bejahen, wenn dies in der Praxis bedeutet, dass ein inländischer Anspruchsberechtigter bei Geburt eines Kindes einen einmaligen und fort-wirkenden Antrag auf Familienausgleichsleistungen stellen kann, während ein in einem anderen Mitgliedstaat ansässiger Wanderarbeitnehmer für jedes Beschäftigungsverhältnis erneute und rückwirkende Anträge stellen muss, um für seine Beschäftigungszeiten Familienausgleichsleistungen zu erhalten und damit mit jedem Antrag das Risiko des Verlustes von Antragszeiten und Leistungsansprüchen trägt?
23
Ist, falls diese Fragen bejaht werden, die Sechsmonatsfrist durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt, und zwar durch die Notwendigkeit, Sozialleistungsmissbrauch einzudämmen?
24
Die Prozessbevollmächtigten beantragen weiter,
unter Aufhebung des (ablehnenden Teils des) Kindergeldbescheids vom 05.11.2020 in Form der Einspruchsentscheidung vom 08.12.2020 und des Änderungsbescheids vom 14.07.2021 die Familienkasse zu verpflichten, an den Kläger Kindergeld für den Zeitraum März bis April 2019 in Höhe von 194 € monatlich abzüglich der rumänischen Familienleistung in Höhe von 84 RON (17,08 €) für März 2019 und 150 RON (30,49 €) für April 2019 und damit in Höhe von 176,92 € für März 2019 und 163,51 € für April 2019 für das Kind A, geb. 04.11.2007, auszuzahlen.
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Die Familienkasse beantragt
Klageabweisung.
26
Zur Begründung wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Auszahlung für den Klagezeitraum zutreffend nicht vorgenommen worden sei. Nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG in der Fassung vom 18.07.2019 könnten Anträge, die nach dem 18.07.2019 eingingen, rückwirkend nur noch zu einer Nachzahlung für die letzten sechs Kalendermonate vor dem Eingang des Antrags bei der Familienkasse führen. Der Kläger habe am 25.11.2019 die Festsetzung des Kindergeldes beantragt. Damit bestehe für den Kläger kein Auszahlungsanspruch für die Monate März und April 2019.
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Zur Wahrung der Sechsmonatsfrist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG, sei allein ein „schriftlicher“ Antrag i. S. d. § 67 Satz 1 EStG notwendig. Für den Kläger habe die Möglichkeit bestanden, einen fristwahrenden, zeitlich unbestimmten Antrag, so wie er ihn im November 2019 tatsächlich auch gestellt habe, bereits während oder vor der Aufnahme seiner Beschäftigung zu stellen. Hingegen seien weitere Unterlagen, die die Prozessbevollmächtigten benannt hätten, im Rahmen der wirksamen Antragstellung für die Wahrung der 6-Monatsfrist nicht notwendig. Diese könnten im Verwaltungsverfahren nachgereicht werden.
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§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG sei nicht rechtswidrig. Auch liege kein Verstoß gegen Art. 3 GG vor. Es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen die Obliegenheit auferlege, Kindergeld innerhalb von sechs Monaten nach Entstehen des Anspruchs zu beantragen (BFH-Urteil vom 09.09.2020 - III R 37/19). Ob eine kürzere oder längere Frist zweckmäßiger wäre, sei dabei aufgrund des dem Gesetzgeber zustehenden Ermessens weder von der Finanzverwaltung, noch von den Finanzgerichten zu entscheiden.
29
Vom Bundesfinanzhof geäußerte Bedenken an der Verfassungsmäßigkeit hätten sich allein auf § 31 EStG a.F. bezogen, wonach aufgrund von § 66 Abs. 3 EStG nicht festgesetztes bzw. ausgezahltes Kindergeld dennoch in die Günstigerprüfung des § 31 EStG einbezogen worden sei. Dem sei der Gesetzgeber im Rahmen der Schaffung von § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG allerdings mit § 31 Satz 5 EStG entgegengetreten, wonach festgesetztes aber nicht ausgezahltes Kindergeld bei der Günstigerprüfung nicht berücksichtigt werde. Etwaige Bedenken gegen eine Verfassungsmäßigkeit seien dadurch ausgeräumt.
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Es liege auch keine Verletzung von Europarecht vor. § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG finde gleichermaßen für alle Kindergeldberechtigten, sowohl solche mit Wohnsitz im Inland, als auch solche mit Wohnsitz in anderen EU-Mitgliedsstaaten Anwendung. Eine Diskriminierung von Personen mit Wohnsitz im EU-Ausland sei daher weder unmittelbar, noch mittelbar feststellbar. Der Kläger sei durch seinen Wohnsitz im EU-Ausland nicht daran gehindert gewesen, diese Frist einzuhalten.
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Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen, die Niederschrift sowie die von der Familienkasse vorgelegte elektronisch geführte Kindergeldakte mit der Nr. … verwiesen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage hat keinen Erfolg.
33
Der Bescheid der Familienkasse vom 05.11.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 08.12.2020 und des Änderungsbescheids vom 14.07.2021 ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
34
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Auszahlung von Kindergeld für den Klagezeitraum.
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1. Der Kindergeldbescheid vom 14.07.2021 ändert die zuvor ergangene Entscheidung vom 05.11.2020 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 08.12.2020. Dieser Verwaltungsakt wird nach § 68 Abs. 1 Satz 1 FGO Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens.
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2. Der Senat sieht keine Veranlassung, das Verfahren gemäß § 74 FGO i.V.m. Art. 267 AEUV zwecks Vorlage an den EuGH im Hinblick auf die von den Klägern gerügte Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der vorstehend beschriebenen deutschen Rechtslage auszusetzen.
37
Als Instanzgericht ist das FG, insbesondere bei Zulassung der Revision, wenn weder ein offensichtlicher Europarechtsverstoß noch eine offensichtlich europarechtskonforme Rechtslage besteht, gemäß Art. 267 Abs. 2 und 3 AEUV zur Vorlage an den EuGH berechtigt, aber nicht verpflichtet (vgl. BVerfG-Beschluss vom 02.12.2014 - 2 BvR 655/14, WM 2015, 122, Rn. 18). Eine Vorlageverpflichtung besteht nur für einzelstaatliche Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit innerstaatlichen Rechtsmitteln angefochten werden können.
38
Im Streitfall wurde die Revision jedoch zugelassen. Eine Vorlage an den EuGH ist zudem im Hinblick auf die Überzeugung des Senats, dass die vorliegend maßgebliche deutsche Rechtslage europarechtskonform ist, auch nicht geboten. Einen Verstoß der im Streitjahr geltenden §§ 70 Abs. 1 Satz 2, 31 EStG gegen die europarechtlich garantierten Grundfreiheiten oder eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit vermag das Gericht nicht zu erkennen (vgl. Ziffer 6).
39
3. Der vom Kläger angefochtene Bescheid vom 05.11.2020 stellt jedenfalls in der Gestalt, die er durch die Einspruchsentscheidung vom 08.12.2020 und den Änderungsbescheid vom 14.07.2021 gefunden hat, einen Abrechnungsbescheid i.S. des § 218 Abs. 2 AO dar.
40
Im laufenden Kalenderjahr wird Kindergeld nach § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung monatlich gezahlt. Grundlage für die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37) sind die Steuerbescheide, die Steuervergütungsbescheide, die Haftungsbescheide und die Verwaltungsakte, durch die steuerliche Nebenleistungen festgesetzt werden (§ 218 Abs. 1 Satz 1 AO). Über Streitigkeiten, die die Verwirklichung der Ansprüche im Sinne des Absatzes 1 betreffen, entscheidet die Finanzbehörde nach § 218 Abs. 2 Satz 1 AO durch Abrechnungsbescheid.
41
Die Familienkasse regelte mit der Verfügung vom 05.11.2020 gegenüber dem Kläger den Zeitraum, für den nach ihrer Auffassung ein Auszahlungsanspruch bestand. Durch den dagegen gerichteten Einspruch entstand auch eine Streitigkeit zwischen der Familienkasse und dem Kläger, über welche die Familienkasse durch die Einspruchsentscheidung vom 08.12.2020 und den Änderungsbescheid vom 14.07.2021 entschied. Unerheblich ist dabei, dass die Familienkasse ihre Entscheidung nicht ausdrücklich als Abrechnungsbescheid oder als Bescheid nach § 218 Abs. 2 AO bezeichnete (BFH-Urteile vom 19.02.2020 III R 66/18, BStBl. II 2020, 704; III R 70/18, BStBl. II 2020, 707 und III R 38/19, BFH/NV 2020, 1065 m.w.N.).
42
Denn aus der Begründung der Einspruchsentscheidung ergibt sich, dass die Familienkasse nicht über die Festsetzung, sondern über den Auszahlungsanspruch entschieden hat, wenn es dort heißt: „Mit der angefochtenen Entscheidung wurde Kindergeld für das Kind A von März 2019 bis Mai 2019 in Höhe der Unterschiedsbeträge zu den rumänischen Familienleistungen festgesetzt, die Auszahlung des Kindergeldes jedoch auf den Monat Mai 2019 beschränkt“. Dies wird durch den Änderungsbescheid vom 14.07.2021 bestätigt. Dort heißt es: „Die Auszahlung des Kindergeldes wird somit für die Monate März 2019 bis April 2019 abgelehnt.“
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4. Zwar liegen die materiellen Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld für A für den Zeitraum März 2019 bis April 2019 vor.
44
a) Für Kinder i.S.d. § 63 EStG hat gemäß § 62 Abs. 1 Satz 1 EStG Anspruch auf Kindergeld nach diesem Gesetz, wer im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird.
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b) Als Nachweis für eine Behandlung als unbeschränkt steuerpflichtig nach § 1 Abs. 3 EStG sind nur Beweismittel geeignet, aus denen sich ergibt, dass für den betreffenden Anspruchszeitraum bereits eine entsprechende steuerliche Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG durch das zuständige Finanzamt vorgenommen wurde (BFH-Urteil vom 22.02.2018 III R 10/17, BStBl. II 2018, 717).
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c) Das Finanzamt 2 hat mit Einkommensteuerbescheid für 2019 vom 31.08.2020 eine Veranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG für den Kläger durchgeführt. Der Kläger war nach dem Ausdruck der deutschen elektronischen Lohnsteuerbescheinigung für 2019 im Zeitraum vom 18.03 bis 31.05. bei B beschäftigt.
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5. Jedoch hat der Kläger keinen Anspruch auf Auszahlung von Kindergeld für den Klagezeitraum März 2019 bis April 2019, da nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG eine rückwirkende Auszahlung nur noch für 6 Monate vor dem Monat der Antragstellung möglich ist.
48
Nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG (eingeführt durch Art. 9 Nr. 9 des Gesetzes vom 11.07.2019; BGBl. I 2019, 1066 mit Wirkung vom 18.07.2019) erfolgt die Auszahlung von festgesetztem Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Der Anspruch auf Kindergeld nach § 62 bleibt von dieser Auszahlungsbeschränkung unberührt (§ 70 Abs. 1 Satz 3 EStG). Satz 2 ist erstmals auf Kindergeldanträge anzuwenden, die nach dem 18.07.2019 eingehen (§ 52 Abs. 50 Satz 1 EStG).
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a) Der Kläger hat keinen Anspruch auf Auszahlung des festgesetzten Kindergelds für den Klagezeitraum, da § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG das Erhebungsverfahren betrifft und damit eine Auszahlung ausschließt.
50
b) Die Geltendmachung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis erfolgt grundsätzlich in zwei Stufen: Der abstrakte, durch Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestands entstehende Anspruch wird auf einer ersten Stufe durch Verwaltungsakt festgesetzt, während seine Erfüllung auf der zweiten Stufe Gegenstand des Erhebungsverfahrens ist (BFH-Urteil vom 12.08.1999 VII R 92/98, BStBl. II 1999, 751; Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 218 AO Rn. 1, 2). Die Trennung von Festsetzungs- und Erhebungsverfahren ist für jede Steuerart verbindlich, soweit ein Einzelsteuergesetz nicht ausdrücklich anderes regelt (BFH-Urteile vom 14.11.1986 VI R 214/83, BStBl. II 1987, 198; vom 14.11.1986 VI R 226/83, BFH/NV 1987, 287). Unbeschadet der Befugnis der Familienkasse, verschiedene Verwaltungsakte äußerlich zusammenzufassen, ist auch für das Kindergeldrecht nach den §§ 62 ff EStG zwischen den Regelungen im Festsetzungsverfahren und im Erhebungsverfahren zu unterscheiden (BFH-Beschlüsse vom 24.10.2000 VI B 144/99, BFH/NV 2001, 423; und vom 11.12.2013 XI B 33/13, BFH/NV 2014, 714 m.w.N.). Im Festsetzungsverfahren wird grundsätzlich abschließend darüber entschieden, ob und in welcher Höhe ein Steuer- oder Erstattungsanspruch im Sinne des § 37 Abs. 1 AO - und damit auch ein Kindergeldanspruch - besteht.
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c) Eine Auslegung der Norm des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG unter Berücksichtigung ihrer Stellung im Gesetz führt dazu, die Regelung dem Erhebungsverfahren zuzuordnen. Bereits die Vorschrift des § 66 Abs. 3 EStG a.F., die bis zum 18.07.2019 galt, sah eine Begrenzung für die Auszahlung des Kindergeldes auf die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats vor, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Nach § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Gesetzes zur Bekämpfung der Steuerumgehung und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz -StUmgBG-) vom 23.06.2017 (BGBl. I 2017, 1682) wird das Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Diese Vorschrift des § 66 Abs. 3 EStG a.F. betraf jedoch nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht das Erhebungs-, sondern das Festsetzungsverfahren (BFH-Urteile vom 09.09.2020 III R 37/19, BFH/NV 2021, 449 und vom 19.02.2020 III R 66/18, BStBl. II 2020, 704 m.w.N.).
52
d) Der Wortlaut der neuen Vorschrift des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG mit der Verwendung des Begriffs „Auszahlung“ weist auf das Erhebungsverfahren hin. Während der Gesetzgeber den Begriff „gezahlt“ teilweise dem Erhebungs- und teilweise dem Festsetzungsverfahren zuordnet, verwendet er üblicherweise die Begriffe „ausgezahlt“ oder „Auszahlung“, wenn er den dem Erhebungsverfahren zuzuordnenden Auszahlungsvorgang beschreiben will, so etwa in § 70 Abs. 1 Satz 1, § 72 Abs. 1 Satz 1, § 74 Abs. 1 Sätze 1, 2 und 4 EStG (BFH-Urteil vom 19.02.2020 III R 70/18, BStBl. II 2020, 707 m.w.N.; so auch Finanzgericht Münster, Urteile vom 21.05.2021 4 K 3164/20 AO und 4 K 3198/20 Kg).
53
e) Für die Zuordnung zum Erhebungsverfahren sprechen auch die Entstehungsgeschichte und die Gesetzesbegründung. Die Änderung erfolgte nach der Entwurfsbegründung (Bundestags-Drucksache 19/8691, 65ff), weil in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und im steuerrechtlichen Schrifttum die Auffassung vertreten wurde, dass § 66 Abs. 3 a.F. im Festsetzungsverfahren zu berücksichtigen sei. Durch den neuen Standort und den veränderten Wortlaut sollte deutlich gemacht werden, dass die Vorschrift nicht dem Festsetzungssondern dem Erhebungsverfahren zuzuordnen ist (Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 303. Lieferung 04.2021, § 70 EStG, Rn. 7; Avvento in: Kirchhof/Seer, EStG 20. Aufl. 2021, § 70 EStG, Rn. 2; Schmidt/Weber-Grellet, EStG 40. Auflage, § 70 Rz. 3; so auch Finanzgericht Münster, Urteile vom 21.05.2021 4 K 3164/20 AO und 4 K 3198/20 Kg). Für eine Zuordnung zum Erhebungsverfahren spricht damit der in der Gesetzesbegründung zum Ausdruck gebrachte Wille des Gesetzgebers. Danach betrifft die Auszahlungsbeschränkung in Satz 2 das Erhebungsverfahren (BT-Drucks. 19/8691, 65 zu § 66 Abs. 3 a.F. und 19/8691, 67 zu § 70). Dies wird durch § 70 Abs. 1 Satz 3 EStG noch verdeutlicht, denn danach bleibt der Anspruch auf Kindergeld nach § 62 EStG von dieser Auszahlungsbeschränkung unberührt. Auch das Bundeszentralamt für Steuern -BZStführt im Schreiben vom 15.08.2019 (Az.: St II 2-S. 2280-PB/19/00016; BStBl. I 2019, 846) aus, dass die Änderung mit Aufnahme der 6 Monatsfrist in § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG der Klarstellung diene, dass die Regelung das Erhebungsverfahren betreffe. Für eine Zuordnung zum Erhebungsverfahren spricht zudem die systematische Verortung der Regelung in § 70 EStG. Die Norm trägt die Überschrift „Festsetzung und Zahlung des Kindergeldes.“ Die Vorschriften der §§ 62 bis 69 EStG befassen sich mit den materiellen Voraussetzungen des Kindergeldanspruchs und Fragen der Festsetzung desselben. In den §§ 70 und 72 EStG erfolgt der Übergang vom Festsetzungsin das Erhebungsverfahren, während die §§ 74 bis 76 EStG ausschließlich Fragen der Erhebung betreffen.
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6. Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Norm oder deren Vereinbarkeit mit Europarecht bestehen nach der Überzeugung des Senats nicht.
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a) Verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab ist der aus Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG sich ergebende Grundsatz, dass der Staat dem Steuerpflichtigen sein Einkommen insoweit steuerfrei belassen muss, als es zur Schaffung der Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein benötigt wird. Der existenznotwendige Bedarf bildet von Verfassungs wegen die Untergrenze für den Zugriff durch die Einkommensteuer. Art. 6 Abs. 1 GG gebietet darüber hinaus, dass bei der Besteuerung einer Familie das Existenzminimum sämtlicher Familienmitglieder steuerfrei bleiben muss (BVerfG-Beschluss vom 10.11.1998 2 BvL 42/93, BStBl. II 1999, 174). Nach geltendem Recht wird nach § 31 Satz 1 EStG das Existenzminimum von Kindern durch den Kinderfreibetrag (§ 32 EStG) oder das Kindergeld (§§ 62 ff. EStG) von der Einkommensteuer freigestellt. Bei der näheren Ausgestaltung dieser Ansprüche bleibt es dem Gesetzgeber unbenommen, ihre Realisierung an die Beachtung von Fristen, auch von materiell-rechtlichen Ausschlussfristen, zu knüpfen. Schon im Interesse einer verlässlichen Haushaltsplanung muss es dem Gesetzgeber erlaubt sein, das Erlöschen von Ansprüchen innerhalb angemessener Frist vorzusehen (BFH-Urteil vom 14.05.2002 VIII R 68/00, BFH/NV 2002, 1293). So ist es nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen die Obliegenheit auferlegt, Kindergeld innerhalb von sechs Monaten nach Entstehung des Anspruchs zu beantragen (BFH-Urteil vom 09.09.2020 III R 37/19, BFH/NV 2021, 449 Tz. 13 zu § 66 Abs. 3 EStG a.F. und zur Festsetzung). Diese verfassungsrechtliche Beurteilung hängt nach dem Dafürhalten des Senats nicht davon ab, ob die Frist dem Festsetzungs- oder dem Erhebungsverfahren zuzuordnen ist.
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b) Bei der Günstigerprüfung nach § 31 Satz 1 EStG bleibt für den Klagezeitraum gemäß § 31 Satz 5 EStG bei der Prüfung der Steuerfreistellung und der Hinzurechnung nach § 31 Satz 4 EStG der Anspruch auf Kindergeld für Kalendermonate unberücksichtigt, in denen durch Bescheid der Familienkasse Kindergeld festgesetzt, aber wegen § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht ausgezahlt wurde.
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c) Bei Anlegung dieses verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabes im Streitfall ist die steuerliche Verschonung des Existenzminimums im laufenden Jahr durch das antragsgemäße Kindergeld erfolgt. Dies spricht aber nicht gegen eine Möglichkeit für den Gesetzgeber, für die rückwirkende Gewährung von Kindergeld eine Ausschlussfrist vorzusehen. Ob eine längere Antragsfrist zweckmäßiger gewesen wäre, hat der Senat nicht zu entscheiden.
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d) Der Senat kann auch nicht erkennen, dass die Norm zu einer mittelbaren Diskriminierung von Angehörigen anderer EU-Mitgliedsstaaten führt. Die Norm gilt für alle Kindergeldberechtigten, also solche mit Wohnsitz im Inland oder auch in anderen EU-Mitgliedsstaaten (so auch FG Nürnberg, Urteil vom 08.05.2019 III K 193/19 zur Sechsmonatsfrist des § 66 Abs. 3 EStG a.F.). Zwar mag es so sein, dass ein inländischer Elternteil bereits bei Geburt des Kindes einen Kindergeldantrag stellt und somit nur einmalig ein Risiko des Auszahlungshindernisses nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG besteht, wenn sich an den Voraussetzungen für den Kindergeldbezug bis zum 18. Geburtstag des Kindes nichts ändert. Die 6-Monatsfrist gilt aber für jeden möglichen Kindergeldberechtigten. Dies gilt auch für den anderen Elternteil bei späterer Antragstellung (z.B. Haushaltswechsel des Kindes bei getrennt lebenden Eltern, Tod des bisher Kindergeld erhaltenden Elternteils) und für alle anderen möglichen Kindergeldberechtigten des § 63 EStG wie zum Beispiel Pflegeeltern oder Großeltern. Auch bei über 18 Jahre alten Kindern, die nach vorübergehender Nichterfüllung eines Kindergeldtatbestandes nach § 32 Abs. 4 EStG dann doch wieder zum Beispiel eine Ausbildung aufnehmen, ist bei der Antragstellung der Zahlungsausschluss nach § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG zu beachten. So betreffen auch die vom Bundesfinanzhof zur inhaltsgleichen Vorgängervorschrift des § 66 Abs. 3 EStG erlassenen maßgeblichen Entscheidungen vom 19.02.2020 (III R 70/18, BStBl. II 2020, 707 und III R 66/18, BStBl. II 2020, 704; III R 18/19, BFH/NV 2020, 1060; III R 38/19, BFH/NV 2020, 1065) Personen mit einem inländischen Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthalt. Auch die beiden Entscheidungen des Finanzgerichts Münster, die ein Auszahlungsbegehren für ein über 18 Jahre altes Kind wegen § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG abweisen, betreffen Sachverhalte von Inländern (Finanzgericht Münster, Urteile vom 21.05.2021 4 K 3164/20 AO und 4 K 3198/20 Kg).
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Zudem wird durch die Vorschrift keine „Verhinderungsverwaltung“ geschaffen, denn es ist zwischen der Antragstellung und der Vorlage der für eine Kindergeldgewährung erforderlichen Unterlagen zu unterscheiden. Zur Wahrung der 6-Monatsfrist des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ist allein ein „schriftlicher“ Antrag i. S. d. § 67 Satz 1 EStG erforderlich. Weitere Unterlagen sind im Rahmen der wirksamen Antragstellung für die Wahrung der Frist nicht notwendig und können dann im Verwaltungsverfahren nachgereicht werden. Für den Kläger hat, wie die Familienkasse zutreffend ausführt, die Möglichkeit bestanden, einen fristwahrenden, zeitlich unbestimmten Antrag bereits während oder vor der Aufnahme seiner Beschäftigung zu stellen. Dieser zeitlich unbestimmte Antrag wurde dann vom Kläger ja auch im November 2019 tatsächlich gestellt. Damit ist für den Zeitraum zumindest bis zur Verbescheidung des Antrags im November 2020 ein wirksamer Antrag gestellt. Ob für weitere Monate ab Dezember 2020 ein wirksamer Antrag vorliegt, war für das Klageverfahren nicht zu entscheiden. Ein Antrag für jedes Beschäftigungsverhältnis ist nicht erforderlich. Durch die Norm des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG wird also keineswegs eine Verhinderungsverwaltung begründet. Die Formulare für die Kindergeldbeantragung oder den Nachweis sind in allen EU-Sprachen und damit auch in rumänischer Sprache aufgelegt und können so verwendet werden (z.B. E 401, E 411).
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7. Da der Kindergeldantrag bei der Familienkasse am 25.11.2019 einging, hat diese zutreffend keine Kindergeldauszahlung für den Klagezeitraum vorgenommen, denn § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ist anzuwenden. Nach § 52 Abs. 50 Satz 1 EStG ist die Vorschrift auf Anträge anzuwenden, die nach dem 18.07.2019 eingehen.
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a) Der Kindergeldantrag des Klägers ist bei der nach § 67 EStG sachlich und örtlich zuständigen beklagten Familienkasse erst am 25.11.2019 eingegangen. Dies ergibt sich aus dem auf dem Antragschreiben angebrachten Eingangsstempel (Wendl in Hermann/Heuer/Raupach, EStG § 66 Anm. J 17-5). Dieser Eingangstag bei der deutschen Familienkasse wird von der Klägerseite auch nicht angezweifelt. Hinsichtlich des Eingangs des Antrags ist grundsätzlich auf die Behörde des Landes abzustellen, von der Kindergeld begehrt wird. Zuständige Familienkasse (§ 67 EStG) ist die beklagte Familienkasse. Ob - anders als bei § 66 Abs. 3 EStG a.F. (s. dazu z.B. BFH-Urteil vom 24.10.2000 VI R 65/99, BStBl. II 2001, 109: materielle-rechtliche Ausschlussfrist; so auch Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG, 303. Lieferung 04.2021, § 70 EStG, Rn. 7) - bei § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) zuzulassen wäre, bedarf keiner Erörterung, weil Gründe hierfür nicht vorgetragen und auch nicht ersichtlich waren.
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b) Ein vor dem 25.11.2019 gestellter Antrag ergibt sich auch nicht aus Art. 68 Abs. 3 Buchst. b, Art. 60 Abs. 3 oder einer anderen Bestimmung der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates EG 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 29.04.2004 oder der Verordnung EG 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vom 16.09.2009.
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Ein bei Geburt von A im Jahr 2007 wegen der Gewährung von Familienleistungen in Rumänien mutmaßlich dort gestellter Antrag auf Familienleistungen wäre kein Antrag auf deutsches Kindergeld i.S. der §§ 67, 70 Abs. 1 Satz 2 EStG. Denn die die Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierende VO Nr. 883/2004 trat erst am 01.05.2010 in Kraft, so dass eine fristwahrende Weiterleitung nach Art. 81 der VO Nr. 883/2004 im Jahre 2007 noch nicht in Betracht kam (BFH-Urteil vom 09.09.2020 III R 37/19, BFH/NV 2021, 449, Rn. 19). Zudem hat eine Weiterleitung des in Rumänien gestellten Antrags auf Kindergeld an die in Deutschland zuständige Stelle nur bei dem Zusammentreffen von Familienleistungen mehrerer Mitgliedsstaaten zu erfolgen. Hier bestand für die Behörde des EU-Mitgliedsstaates auch keine Veranlassung zur Weiterleitung.
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Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem BFH-Urteil vom 09.12.2020 (III R 73/18 BFH/NV 2021, 882). Diese Entscheidung betrifft die Prioritäts- und Anrechnungsregelungen beim Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedsländer. Sie trifft jedoch keine Entscheidung zu der bei § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG vorliegenden materiell-rechtlichen Ausschlussfrist.
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Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO zugelassen, da die Sache grundsätzliche Bedeutung hat und eine höchstrichterliche Entscheidung zu § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG noch nicht vorliegt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.