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LG München I, Aussetzungs- und Vorlagebeschluss v. 18.05.2021 – 13 S 17293/20
Titel:

Reiserecht, Preisminderung, Reisemangel, RL (EU) 2015/2302, Bundesgerichtshof, allgemeines Lebensrisiko, Corona

Normenketten:
§ 651i BGB
§ 651m BGB
RL (EU) 2015/2302
Leitsatz:
Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird folgende Frage vorgelegt: Stellen Einschränkungen im Hinblick auf eine am Reiseziel herrschende Infektionskrankheit eine Vertragswidrigkeit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 RL (EU) 2015/2302 auch dann dar, wenn aufgrund der weltweiten Verbreitung der Infektionskrankheit solche Einschränkungen sowohl am Wohnort des Reisenden als auch in anderen Ländern vorgenommen wurden?
Schlagworte:
Reiserecht, Preisminderung, Reisemangel, RL (EU) 2015/2302, Bundesgerichtshof, allgemeines Lebensrisiko, Corona
Rechtsmittelinstanzen:
Generalanwalt Luxemburg, Schlussantrag (EuGH) vom 15.09.2022 – C-396/21
EuGH Luxemburg, Urteil vom 12.01.2023 – C-396/21
Fundstellen:
RRa 2021, 171
BeckRS 2021, 22112
LSK 2021, 22112

Tenor

1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
2. Dem Gerichtshof der Europäischen Union wird folgende Frage vorgelegt:
Stellen Einschränkungen im Hinblick auf eine am Reiseziel herrschende Infektionskrankheit eine Vertragswidrigkeit im Sinne von Art. 14 Abs. 1 RL (EU) 2015/2302 auch dann dar, wenn aufgrund der weltweiten Verbreitung der Infektionskrankheit solche Einschränkungen sowohl am Wohnort des Reisenden als auch in anderen Ländern vorgenommen wurden?

Entscheidungsgründe

I.
1
1. Mit ihrer in der Berufung weiter verfolgten Klage machen die Kläger eine Preisminderung in Bezug auf eine Reise von D. nach M., Gran Canaria, Spanien, gebucht am 30.12.2019, für den Zeitraum vom 13.03.2020 bis 27.03.2020 geltend.
2
Die Kläger haben ihre Urlaubsreise am 13.03.2020 angetreten. Ab dem 15.03.2020 waren auf Gran Canaria die Strände gesperrt und es trat eine Ausgangssperre in Kraft. Es handelte sich um die kurzfristig für ganz Spanien von der Regierung veranlassten Maßnahmen zur Eindämmung der Covid-19-Pandemie. In der Hotelanlage wurden Pools und Liegen gesperrt und das Animationsprogramm vollständig eingestellt. Die Kläger wurden aufgefordert, das Zimmer nur zum Essen oder zur Abholung von Getränken zu verlassen. Ab dem 18.03.2020 sollten die Kläger laut lokaler Reise-SOS-Hotline ständig bereit sein, innerhalb einer Stunde den Flughafen aufzusuchen.
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Nach Auffassung der Kläger steht ihnen aufgrund dieser Umstände für sieben Tage (bis zum Abbruch der Reise) eine Minderung in Höhe von 70 % des anteiligen Reisepreises somit in Höhe EUR 1.018,50 zu.
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Unter Verweis auf mehrere Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und anderer deutscher Gerichte vertritt die Beklagte die Auffassung, es habe sich um die Verwirklichung des allgemeinen Lebensrisikos gehandelt, für das die Beklagte nicht einzustehen hätte.
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2. Mit Urteil vom 26.11.2020 hat das Amtsgericht München die Klage insgesamt abgewiesen.
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Als Begründung für die die Preisminderung betreffende Klageabweisung führt das Amtsgericht München aus:
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Ein Reisemangel gemäß § 651i BGB liegt nicht vor. Die Reise hat stattgefunden und entsprach der üblichen Beschaffenheit von Reisen innerhalb Europas zu diesem Reisezeitpunkt. Bei den Maßnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus handelte es sich um Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Kläger. Der Schutz vor einem potentiell tödlichen Virus stellt keinen Reisemangel dar. Die Betreiber der Hotelanlage waren vielmehr verpflichtet, entsprechende Maßnahmen zum Schutz der Gäste zu ergreifen.
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Zwar regelt § 651i BGB eine verschuldensunabhängige Haftung des Reiseunternehmers, sodass sich argumentieren ließe, er hafte auch für die Einschränkung durch Maßnahmen zum Gesundheitsschutz. Hier ist aber zu beachten, dass zum Reisezeitpunkt auch in Deutschland ein „Lockdown“ wegen der Corona-Pandemie angeordnet war, der mit ähnlichen Beschränkungen verbunden war. Zum Zeitpunkt der Reise handelte es sich bei den Corona-Maßnahmen nicht um außergewöhnliche Umstände am Reiseort, sondern vielmehr um die üblichen Umstände, die europaweit wegen der Corona-Pandemie ergriffen wurden.
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3. Mit ihrer Berufung verfolgen die Kläger den unter 1. geschilderten Anspruch weiter.
II.
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1. Die maßgeblichen Vorschriften des deutschen Rechts sind:
§ 651i BGB:
Absatz 1: Der Reiseveranstalter hat dem Reisenden die Pauschalreise frei von Reisemängeln zu verschaffen.
Absatz 2: Die Pauschalreise ist frei von Reisemängeln, wenn sie die vereinbarte Beschaffenheit hat. Soweit die Beschaffenheit nicht vereinbart ist, ist die Pauschalreise frei von Reisemängeln,
1. wenn sie sich für den nach dem Vertrag vorausgesetzten Nutzen eignet, ansonsten
2. wenn sie sich für den gewöhnlichen Nutzen eignet und eine Beschaffenheit aufweist, die bei Pauschalreisen der gleichen Art üblich ist und die der Reisende nach der Art der Pauschalreise erwarten kann.
Ein Reisemangel liegt auch vor, wenn der Reiseveranstalter Reiseleistungen nicht oder mit unangemessener Verspätung verschafft.
Absatz 3: Ist die Pauschalreise mangelhaft, kann der Reisende, wenn die Voraussetzungen der folgenden Vorschriften vorliegen und soweit nichts anderes bestimmt ist,
6. die sich aus einer Minderung des Reisepreises (§ 651m) ergebenden Rechte geltend machen …
§ 651m BGB:
Absatz 1: Für die Dauer des Reisemangels mindert sich der Reisepreis. Bei der Minderung ist der Reisepreis in dem Verhältnis herabzusetzen, in welchem zur Zeit des Vertragsschlusses der Wert der Pauschalreise in mangelfreiem Zustand zu dem wirklichen Wert gestanden haben würde. Die Minderung ist, soweit erforderlich, durch Schätzung zu ermitteln.
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2. Im Urteil vom 06.12.2016, X ZR 317/15 (ECLI:DE:BGH:2016:061216UXZR117.15.0), Rdnr. 10, führt der Bundesgerichtshof zur Rechtslage vor Umsetzung der RL (EU) 2015/2302 aus:
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Eine Begrenzung der reisevertraglichen Gewährleistung kann im Bezug auf Umstände geboten sein, die allein in der persönlichen Sphäre des Reisenden liegen oder in denen sich Risiken verwirklichen, die der Reisende im täglichen Leben ebenfalls zu tragen hat. Damit wird dem Schutzzweck der reisevertraglichen Gewährleistung Rechnung getragen, ebenso wie es im Schadensersatzrecht anerkannter Lehre entspricht, dass die Schadensersatzpflicht durch den Schutzzweck der Norm begrenzt wird. Eine vertragliche Haftung besteht danach nur für diejenigen adäquaten Schadensfolgen, zu deren Abwendung die verletzte Vertragspflicht übernommen wurde. Die Haftungsbegrenzung aufgrund des Schutzzwecks der Norm erfordert dabei eine wertende Betrachtung des Einzelfalls. Der BGH hat zu dem Schadensersatzanspruch nach § 651f BGB ausgesprochen, es könne nicht Zweck reisevertraglicher Haftung sein, den Reisenden von seinem allgemeinen Lebensrisiko zu entlasten. Für Schäden, die aufgrund des allgemeinen Lebensrisikos eintreten, werde auch dann nicht gehaftet, wenn sie im Zusammenhang mit einem haftungsbegründeten Ereignis einträten (BGH, NJW 2005, 1420). Der Reisende hat deshalb in Fällen, in denen kein Zurechnungszusammenhang zu einer Pflichtverletzung des Reiseveranstalters oder sonst zu einem haftungsbegründenden Ereignis besteht, die Risiken einer Unternehmung, die dem allgemeinen Lebensrisiko unterfällt, hinzunehmen. So verhält es sich etwa, wenn der Reisende außerhalb der Inanspruchnahme von Reiseleistungen am Urlaubsort verunglückt, erkrankt oder Opfer einer Straftat wird oder sonst aus persönlichen Gründen die weiteren Reiseleistungen nicht mehr in Anspruch nehmen kann.
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In der aktuellen rechtswissenschaftlichen Literatur wird zur Neuregelung auf Grund von Artikel 14 Abs. 1 der Richtlinie EU 2015/2302 die Einschränkung hinsichtlich des allgemeinen Lebensrisikos weiter angenommen, indes für die Folgewirkungen der Covid 19-Pandemie ausgeschlossen (BeckOK BGB, Hau/Poseck-Geib, Stand 1.2.2021, § 651m, Rn. 3; Palandt-Sprau BGB, 80. Aufl., § 651i, Rn. 10; Staudinger(Achiller-Pujol in: Schmidt, COVID-19, Rechtsfragen zur Corona-Krise, 3. Aufl., § 7, Rn. 51).
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In Erwägungsgrund (31) spricht die RL (EU) 2015/2302 als Beispiel für unvermeidbare, außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 12 Abs. 2 S. 1 der RL (EU) 2015/2302 vom Ausbruch einer schweren Krankheit am Reiseziel.
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Es könnte angenommen werden, dass der Fall einer Pandemie bei der Fassung der Richtlinie nicht bedacht wurde.