Titel:
Überwiegendes Ausweisungsinteresse bei Verurteilung zu einer Geldstrafe
Normenketten:
AufenthG § 53, § 54
StGB § 78
Leitsätze:
1. Eine Ausweisung kann auch auf generalpräventive Gründe gestützt werden. (Rn. 35) (redaktioneller Leitsatz)
2. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. (Rn. 37) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Staatsangehörigkeit Nigeria, Ausweisung mit dreijährigem Einreise- und Aufenthaltsverbot, Drei strafrechtliche Verurteilungen zu Geldstrafen von jeweils 60, 40 und 180 Tagessätzen, zwei Mal wegen Erschleichens von Leistungen, einmal wegen Aufenthalts ohne Pass, Anhängiges Klageverfahren wegen Asylfolgeverfahrens, Spezial- und generalpräventive Ausweisung, Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses, Ausweisung, Nigeria, Wiederholungsgefahr, generalpräventives Ausweisungsinteresse, Geldstrafe, Passlosigkeit, Passpflicht, Erschleichen von Leistungen, Aufenthalt ohne Pass
Fundstelle:
BeckRS 2021, 22107
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
1
Der Kläger wendet sich gegen seine auf drei Jahre befristete Ausweisung aus der Bundesrepublik Deutschland.
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Der nach eigenen Angaben 31-jährige Kläger ist nach seinen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger.
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Er führte nach seiner Einreise im September 2015 (Bl. ...) erfolglos ein Asylverfahren durch (Asylantrag v. 14.3.2016, Bl. …; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), Bescheid v. 11.5.2017, Bl. … ff.; VG München, U.v. 19.12.2017 - M 13 K 17.40398, Bl. … ff.; BayVGH, B.v. 15.2.2018 - 10 ZB 18.30334, Bl. … ff.). Rechtskraft trat am 22. Februar 2018 ein (Bl. …).
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Vom … … 2016 bis zum … … 2017 arbeitete der Kläger als Sortierer (Bl. ...), vom … … 2017 bis zum … … 2018 als Reinigungskraft (Bl. …).
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Am … … 2018 erklärte der Kläger bei einer persönlichen Vorsprache gegenüber dem Beklagten, dass er keinen gültigen Nationalpass besitze und erhielt erstmals eine Duldung wegen Passlosigkeit (Bl. …). Der Beklagte belehrte den Kläger erstmals über seine Passpflicht gemäß § 3 Abs. 1 AufenthG, seine Passvorlagepflicht gemäß § 48 Abs. 1 AufenthG und seine Mitwirkungspflicht bei der Beschaffung eines Identitätspapiers gemäß § 48 Abs. 3 AufenthG.
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In der Folge wurde der Kläger am 26. Juli 2018 (Bl. …), am 2. November 2018 (Bl. …), am 25. Februar 2019 (Bl. …), am 23. Mai 2019 (Bl. …), am 29. August 2019 (Bl. …), am 21. November 2019 (Bl. …), am 20. Februar 2020 (Bl. …) am 28. Mai 2020 (Bl. …, …), am 19. November 2020 (Bl. …), am 25. Februar 2021 (Bl. …) und am 30. April 2021 (Bl. …), insgesamt also elf Mal belehrt und ihm jeweils eine Frist für die Mitwirkung von einem Monat eingeräumt.
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Am 29. Januar 2019 beantragte der Kläger die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Bl. … f.).
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Mit Strafbefehl vom 22. Februar 2019, rechtskräftig seit dem 9. April 2019, verurteilte das Amtsgericht Dachau den Kläger zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen wegen Erschleichen von Leistungen in sieben Fällen im Zeitraum vom 13. Januar 2018 bis zum 7. Dezember 2018 (Az.: 1 Cs 16 Js 6161/19, Bl. … … …).
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Mit Bescheid vom 14. Mai 2019 lehnte das Bundesamt die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens ab (Bl. … ff.).
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Mit Schreiben vom 23. Mai 2019 verwarnte der Beklagte den Kläger ausländerrechtlich, wobei er sich ausdrücklich vorbehielt, die Verurteilung vom 22. Februar 2019 gegen den Kläger zu verwenden (Bl. …). Am selben Tag erhob der Kläger Klage gegen die Entscheidung des Bundesamts, die beim Verwaltungsgericht München noch anhängig ist (M 27 K 19.31974).
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Mit Strafbefehl vom 1. April 2020, rechtskräftig seit dem 5. Mai 2020, verurteilte das Amtsgericht Dachau den Kläger zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen wegen Erschleichen von Leistungen in zwei Fällen am 15. April 2019 und am 27. September 2019 (Az.: 1 Cs 16 Js 11203/20, Bl. … … …).
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Mit Schreiben vom 25. Mai 2020 verwarnte der Beklagte den Kläger daraufhin erneut ausländerrechtlich und machte ihn darauf aufmerksam, dass er bei einer weiteren Verurteilung mit einer Ausweisungsverfügung zu rechnen habe (Bl. …).
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Am 28. Mai 2020 erteilte der Beklagte dem Kläger eine Duldung gemäß § 60b AufenthG für Personen mit ungeklärter Identität.
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Mit Strafbefehl vom 5. Januar 2021, rechtskräftig seit dem 18. März 2021, verurteilte das Amtsgericht Dachau den Kläger zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen wegen unerlaubten Aufenthalts ohne Pass (Az.: 1 Cs 26 Js 47256/20, Bl. …).
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Mit Schreiben vom … … 2021 bestätigte die Nigerianische Botschaft in Berlin, dass der Kläger ohne die für die Bearbeitung eines Reisepasses erforderlichen Unterlagen vorgesprochen habe (Bl. …).
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Mit Schreiben vom 6. April 2021 gab der Beklagte dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme zur beabsichtigten Ausweisung (Bl. …).
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Mit Bescheid vom 31. Mai 2021 (Bl. … ff.), dem Kläger gegen Postzustellungsurkunde am 2. Juni 2021 zugestellt (Bl. …), wies der Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Nr. 1), erließ ein Einreise- und Aufenthaltsverbot und befristete dieses auf die Dauer von drei Jahren beginnend mit der Ausreise (Nr. 2), forderte den Kläger auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von vier Wochen nach Bestandskraft des Bescheids zu verlassen (Nr. 3) und drohte die Abschiebung nach Nigeria oder einen anderen aufnahmebereiten oder zur Rückübernahme verpflichteten Staat für den Fall an, dass der Kläger nicht innerhalb der Ausreisefrist ausreist (Nr. 4). Die Ausweisung wurde im Wesentlichen damit begründet, dass der Kläger aufgrund seiner strafrechtlichen Verurteilungen und der Verletzung seiner Mitwirkungspflichten im Passbeschaffungsverfahren die schwerwiegenden Ausweisungsinteressen des § 54 Abs. 2 Nr. 9 und Nr. 8b AufenthG erfülle. Ein normiertes Bleibeinteresse gemäß § 55 AufenthG erfülle der Kläger nicht. Im Rahmen der Abwägung des Ausweisungsmit dem Bleibeinteresse stütze man die Ausweisung auf generalpräventive Gründe. Höherrangiges Recht stehe der Ausweisung nicht entgegen. Der Kläger befinde sich seit etwa sechs Jahren im Bundesgebiet, habe den Großteil seines Lebens im Heimatland verbracht. Im Bundesgebiet sei er vollziehbar ausreisepflichtig und weigere sich, an der Klärung seiner ungeklärten Identität mitzuwirken. Der Kläger beherrsche die Sprache seines Herkunftslands und könne dort einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Ausweislich der Angaben des Klägers bei der Anhörung im Asylverfahren habe der Kläger noch Verwandte und Bekannte im Heimatland. In Ausübung des Ermessen erachte man eine Befristung der Sperrwirkungen der Ausweisung von drei Jahren für angemessen.
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Mit Schriftsatz vom 9. Juni 2021, per Telefax am selben Tag bei Gericht eingegangen, ließ der Kläger unter Ankündigung einer gesonderten Klagebegründung durch seinen Prozessbevollmächtigten Klage erheben und beantragen,
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den Bescheid vom 31. Mai 2021 aufzuheben.
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Die Flüchtlings- und Integrationsberatung des Caritasverbands München legte dem Beklagten mit Email vom 14. Juni 2021 zwei fachärztliche Atteste für den Kläger vom … … 2021 und vom … … 2018 vor (Bl. … ff.).
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Mit Schriftsatz vom 1. Juli 2021 legte der Beklagte am 2. Juli 2021 die Behördenakte vor und beantragte,
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In der mündlichen Verhandlung begründete der Prozessbevollmächtigte die Klage im Wesentlichen damit, dass ein Ausweisungsgrund nicht vorliege und die Abwägung fehlerhaft, weil unverhältnismäßig, sei. Hinsichtlich des Erschleichens von Leistungen seien keine Rechtsverstöße durch den Kläger mehr zu erwarten, weil die Finanzierung mittlerweile geklärt sei. Unverhältnismäßig sei die sofortige Ausweisung, weil eine ausländerrechtliche Verwarnung genügt hätte; die Rechtsverstöße des Klägers lägen im unteren Bereich der Kriminalität. Der Kläger verfüge über eine Duldung für Personen mit ungeklärter Identität mit Gültigkeit bis zum 2. November 2021.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands nimmt das Gericht Bezug auf die Gerichtsakte und die vorgelegte Behördenakte.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage hat keinen Erfolg, weil sie unbegründet ist.
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Der Kläger hat keinen Anspruch auf Aufhebung des Bescheids, weil sowohl die Ausweisung (1.), die Anordnung und Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (2.) als auch die Abschiebungsandrohung (3.) rechtmäßig sind und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
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1. Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig.
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Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung und die unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt (§ 53 Abs. 1 AufenthG).
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Das Gericht folgt zunächst der zutreffenden Begründung der Ausweisung durch den Beklagten im angegriffenen Bescheid und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab, § 117 Abs. 5 VwGO. Lediglich ergänzend gilt Folgendes:
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1.1. Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung, nicht nur wie vom Beklagten zutreffend angenommen, in generalpräventiver (1.1.2.), sondern auch in spezialpräventiver Hinsicht (1.1.1.).
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1.1.1. Der Kläger ist rechtskräftig wegen Erschleichens von Leistungen in insgesamt neun Fällen zu zwei Geldstrafen von je 60 und 40 Tagessätzen und wegen Aufenthalts ohne erforderlichen Pass zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen verurteilt worden und erfüllt damit ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG sowie auch nach § 54 Abs. 2 Nr. 8b AufenthG. Dies gilt auch dann, wenn man die Verurteilung zu 40 Tagessätzen wegen Leistungserschleichung in zwei Fällen außer Betracht lässt, was nach Auffassung des Gerichts jedoch vorliegend nicht erforderlich ist. Denn auch wenn sich der Beklagte in der zweiten ausländerrechtlichen Verwarnung vom … … 2020 - anders als in der ersten vom … … 2019 - die Verwertung der Verurteilung vom … … 2020 nicht ausdrücklich vorbehalten hat, ist hieraus nicht schon der Schluss zu ziehen, dass dem Kläger diese Verurteilung nicht mehr entgegengehalten werden soll. Bei den abgeurteilten Straftaten handelt es sich nicht um einen nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften i.S.v. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG. Diese Vorschrift ist dahin zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er sowohl vereinzelt als auch geringfügig ist. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich nicht geringfügig; dies kann nur dann in Betracht kommen, wenn ein strafrechtliches Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt worden ist (siehe schon BVerwG, U.v. 24.9.1996 - 1 C 9.94 - juris Rn. 20 f.). Allgemein wird eine Straftat als noch geringfügig angesehen, wenn sie zu einer Verurteilung von bis zu 30 Tagessätzen geführt hat oder als geringfügig eingestellt worden ist und der wegen dieser Tat festgesetzte Geldbetrag nicht mehr als 500 Euro betragen hat oder wenn sie als Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße von nicht mehr als 300 Euro geahndet worden ist; erforderlich ist jedoch immer eine wertende und abwägende Beurteilung (vgl. Katzer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, Stand 1.1.2021, § 54 AufenthG Rn. 95 ff.; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, § 54 AufenthG Rn. 95; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand 1.1.2021, § 54 AufenthG Rn. 323 ff.). Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs stellen vorsätzliche Verstöße gegen aufenthaltsrechtliche Vorschriften (wie etwa unerlaubte Einreise, unerlaubter Aufenthalt, Täuschung der Ausländerbehörden) in aller Regel keine geringfügigen Rechtsverstöße dar (BayVGH, B.v. 18.9.2020 - 10 CE 20.1914, 10 CS 20.1915 - juris Rn. 30; B.v. 29.3.2021 - 10 B 18.943 - juris Rn. 52). Gleiches gilt für den ebenfalls strafbewehrten Aufenthalt im Bundesgebiet ohne erforderlichen Pass.
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Die mit der Verwirklichung der genannten Tatbestände indizierte Gefährdung öffentlicher Interessen i.S.v. § 53 Abs. 1 AufenthG besteht auch noch im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts fort, weil eine Wiederholungsgefahr besteht und vom Kläger somit nach wie vor eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgeht.
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Der Kläger hat die ihm vorzuwerfenden Rechtsverstöße weder als isolierte Einzeltat begangen, noch sind Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass es sich dabei jeweils um eine außergewöhnliche Sondersituation handelte, deren Wiederholung nicht zu erwarten ist. Der Vortrag des Prozessbevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung, nach der Bereinigung der finanziellen Schieflage des Klägers bestehe keine Wiederholungsgefahr mehr, bezieht sich ersichtlich nur auf das Erschleichen von Leistungen und steht mit dem passlosen Aufenthalt in keinem Zusammenhang. Aber auch im Übrigen ändert diese nichts an der Einschätzung des Gerichts. Der unerlaubte passlose Aufenthalt des Klägers dauert ebenso an wie seine ausstehende Mitwirkung bei der Passbeschaffung. Auch die letzte strafrechtliche Verurteilung hat den Kläger nicht dazu bewegen können, seiner Mitwirkungspflicht nunmehr nachzukommen. Auch zwei ausländerrechtliche Verwarnungen hat der Kläger nicht zum Anlass genommen, sich in Zukunft rechtstreu zu verhalten. Aus diesem Verhalten ist zu schließen, dass ein rechtstreues Verhalten des Klägers, insbesondere in Bezug auf aufenthaltsrechtliche Vorschriften auch in Zukunft nicht zu erwarten ist.
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1.1.2. Unabhängig davon gefährdet der Aufenthalt des Klägers auch im Hinblick auf generalpräventive Erwägungen die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
35
Eine Ausweisung kann auch nach dem seit 1. Januar 2016 geltenden Ausweisungsrecht regelmäßig (zu Ausnahmen bei durch § 53 Abs. 3 bis 4 AufenthG besonders geschützten Personenkreisen BVerwG, U.v. 12.7.2018 - 1 C 16/17 - juris Rn. 19 unter Verweis auf BT-Drs. 18/4097 S. 49) auf generalpräventive Gründe gestützt werden. Denn vom weiteren Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine (Wiederholungs-)Gefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen (BVerwG, U.v. 9.5.2019 - 1 C 21.18 - juris Rn.17; BayVGH, U.v. 12.10.2020 - 10 B 20.1795 - juris Rn. 32 ff.). Zur Annahme eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses im Sinne des § 53 Abs. 1 AufenthG bedarf es - anders als unter Geltung von § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F. - nicht der Verurteilung wegen besonders schwerwiegender Delikte für die öffentliche Sicherheit und Ordnung wie Drogendelikte, Delikte im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität oder im Zusammenhang mit Terrorismus. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichts können im Einzelfall auch Falschangaben zur Erlangung einer Duldung (BayVGH, B.v. 10.12.2018 - 10 ZB 16.1511 - juris Rn. 19; B.v. 17.9.2020 - 10 C 20.1895 - juris Rn. 10), eine Identitätstäuschung gegenüber der Ausländerbehörde (BayVGH, B.v. 6.3.2020 - 10 ZB 19.2419 - juris Rn. 5), Falschangaben im Visumverfahren (BayVGH, B.v. 28.12.2018 - 10 C 18.1361 - juris Rn. 13), die Verletzung der Passpflicht (BayVGH, B.v. 4.5.2020 - 20.666 - juris Rn. 8) oder eine Körperverletzung (BayVGH, B.v. 27.4.2020 - 10 C 20.51 - juris Rn. 7) ein generalpräventives Ausweisungsinteresse begründen. Erforderlich ist lediglich, dass die Ausweisung an Straftaten oder Verhaltensweisen anknüpft, bei denen sie nach allgemeiner Lebenserfahrung geeignet erscheint, andere Ausländer von Taten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten (BVerwG, U.v. 3.5.1973 - I C 33.72 - juris Rn. 34; Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 64; Dörig, Handbuch Migrations- und Integrationsrecht, 2. Auflage 2020, § 7 Rn. 27; Fleuß in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1.1.2021, § 53 AufenthG Rn. 32). Auch muss das Ausweisungsinteresse noch aktuell sein (BVerwG, U.v. 9.5.2019 - 1 C 21.18 - juris Rn.17). Darüber hinaus sind Art und Schwere der jeweiligen Anlasstat lediglich im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu berücksichtigen (so auch Bauer in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 53 AufenthG Rn. 63).
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Gemessen daran besteht im Fall des Klägers ein generalpräventives Ausweisungsinteresse. Gerade bei der vom Kläger begangenen vorsätzlichen Straftat der Passlosigkeit im Zusammenhang mit seinen ausländerrechtlichen Pflichten besteht ein erhebliches öffentliches Interesse, andere Ausländer davon abzuhalten, vergleichbare Verstöße zu begehen. Die mit dem Vollzug des Aufenthaltsrechts beauftragten Behörden sind in vielen Fällen auf die Mitwirkung des Ausländers angewiesen, da gerade im Passbeschaffungsverfahren die persönliche Antragstellung und die Beschaffung und Vorlage persönlicher Dokumente erforderlich sind und nicht durch die Behörden erfolgen können. Daher ist es gerechtfertigt, auch anderen Ausländern vor Augen zu führen, dass der passlose Aufenthalt nicht nur zu strafrechtlichen Konsequenzen führt, sondern auch die Aufenthaltsbeendigung sowie ein nachfolgendes Einreise- und Aufenthaltsverbot nach sich ziehen kann.
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Das generalpräventive Ausweisungsinteresse ist im Falle des Klägers auch noch aktuell. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 12.7.2018 - 1 C 16.17 - juris Rn. 23) für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln (vgl. BayVGH, B.v. 4.5.2020 - 10 ZB 20.666 - juris Rn. 8). Da der passlose Aufenthalt im Bundesgebiet nach § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gemäß § 78 Abs. 3 Nr. 5 StGB in drei Jahren verjährt, die regelmäßige Obergrenze also sechs Jahre beträgt, ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts die Aktualität des generalpräventiven Ausweisungsinteresses unzweifelhaft zu bejahen. Die Verurteilung erfolgte am 5. Januar 2021, Rechtskraft ist am 18. März 2021 eingetreten. Die Mitteilung der Staatsanwaltschaft München II nach Nr. 42 der Anordnung über Mitteilung in Strafsachen gibt den 5. Januar 2021 als Datum der letzten Tat an (Bl. …).
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1.2. Die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet führt dazu, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise die Bleibeinteressen des Klägers überwiegt. Bei dieser Abwägung sind nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere die Dauer des Aufenthalts, die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen (§ 53 Abs. 2 AufenthG).
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Voraussetzung für eine Ausweisung bei einer bestehenden Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers ist gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG eine umfassende und ergebnisoffene Abwägung aller Umstände des Einzelfalls, die vom Grundsatz der Verhältnismäßigkeit geleitet wird. Dieser Grundsatz des § 53 Abs. 1 AufenthG erfährt durch § 54 und § 55 AufenthG weitere Konkretisierungen. Einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen wird von vornherein ein spezifisches bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen. Bei der Abwägung des Interesses an der Ausreise mit den Bleibeinteressen sind darüber hinaus die in § 53 Abs. 2 AufenthG aufgeführten Umstände (näher dazu etwa BVerwG, U.v. 22.2.2017 - 1 C 3.16 - juris Rn. 24 f.) in die wertende Gesamtbetrachtung einzubeziehen.
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Der Kläger erfüllt - wie dargestellt - ein schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG sowie nach § 54 Abs. 2 Nr. 8b) AufenthG. Auch wenn der Kläger „nur“ zu einer Geldstrafe verurteilt und dem § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG vom Gesetzgeber nur eine „Auffangfunktion“ beigelegt wurde (so die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 18/4097, S. 52), kommt dem Ausweisungsinteresse bei der Abwägung im konkreten Einzelfall ein erhebliches Gewicht zu. Das Gewicht, das der Gesetzgeber dem sich aus der Mitwirkungsverweigerung gegenüber den Ausländerbehörden ergebenden Ausweisungsinteresse beigemessen hat, ergibt sich auch aus der Regelung in § 54 Abs. 2 Nr. 8b) AufenthG, nach der eine Nichtmitwirkung an Maßnahmen der zuständigen Behörden für die Durchführung des Aufenthaltsgesetzes trotz bestehender Rechtspflicht ausdrücklich als schwer wiegend festgelegt ist, selbst wenn solche Angaben nicht zu einer Verurteilung geführt haben. Gerade die Verweigerung im Passbeschaffungsverfahren hat zur Folge, dass ein ausreisepflichtiger Ausländer, der nicht freiwillig ausreist, seinen Aufenthalt im Bundesgebiet zu Unrecht in die Länge ziehen kann.
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Für den Kläger ist weder ein in § 55 AufenthG „vertyptes“ noch ein sonstiges Bleibeinteresse erkennbar.
42
Für ihn spricht sein mittlerweile fast sechs Jahre andauernder Aufenthalt im Bundesgebiet. Allerdings ist hier zu sehen, dass dieser Aufenthalt seit dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens im Februar 2018, und somit seit mehr als drei Jahren, nur noch geduldet ist, weil der Kläger an der Passbeschaffung bzw. Identitätsklärung nicht mitwirkt. Eine wirtschaftliche bzw. berufliche Integration hat trotz der fast eineinhalbjährigen ungelernten Helfertätigkeit als Sortierer bzw. Reinigungskraft nicht stattgefunden. Besondere integrative Bindungen des Klägers im Bundesgebiet sind nicht ersichtlich. Der Kläger ist erst im Erwachsenenalter ins Bundesgebiet eingereist. Er beherrscht die Heimatsprache seines Herkunftslands und kann dort einer Erwerbstätigkeit nachgehen. Die Ausweisung hat keine negativen Folgen für Familienangehörige, der Kläger hat sich nicht rechtstreu verhalten.
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Vor diesem Hintergrund ist die Ausweisungsentscheidung auch verhältnismäßig und verstößt nicht gegen höherrangiges Recht.
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2. Die Befristung des angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG auf drei Jahre begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Das Gericht ist hierbei auf die Prüfung, ob Ermessensfehler vorliegen, beschränkt (§ 114 VwGO). Solche sind hier nicht erkennbar; der Kläger hat insoweit auch nichts vorgetragen.
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3. Auch die auf § 59 AufenthG gestützte Abschiebungsandrohung ist nicht zu beanstanden.
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Der Kläger hat als unterliegender Teil die Kosten des Verfahrens zu tragen, § 154 Abs. 1 VwGO.
47
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.