Inhalt

VG München, Urteil v. 11.03.2021 – M 10 K 19.1889
Titel:

Erfolglose Klage gegen die Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt

Normenkette:
FreizügG/EU § 6 Abs. 5
Leitsätze:
1. Voraussetzung für einen zehnjährigen Aufenthalt iSv § 6 Abs. 5 FreizügG/EU ist zunächst, dass der Betroffene ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU erworben hat und damit bereits die Schutzstufe des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU für sich beanspruchen konnte. (Rn. 34) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ungeschriebenes Tatbestandsmerkmals von § 6 Abs. 5 FreizügG/EU ist, dass der Aufenthalt rechtmäßig gewesen sein muss, der Betroffene also in den zehn Jahren vor der Verlustfeststellung die Tatbestandsvoraussetzungen des Freizügigkeitsrechts nach § 2 FreizügG/EU erfüllt hat. (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
Schlagworte:
Verlustfeststellung, Zehnjähriger rechtmäßiger Aufenthalt, Diskontinuität des Aufenthalts, Abreißen der Integrationsbande durch Haft (abgelehnt), Kleinkind im Bundesgebiet, Familie im Bundesgebiet, EU-Beitritt, Kroatiens, rechtmäßiger Aufenthalt, Unterbrechung, Haft, Kroatien, Zehnjahresfrist
Rechtsmittelinstanzen:
VGH München, Urteil vom 27.09.2022 – 10 B 22.263
BVerwG Leipzig, Beschluss vom 14.04.2023 – 1 B 1.23
Fundstelle:
BeckRS 2021, 22092

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 25. März 2019 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung des Verlusts seines Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland.
2
Der am … April 1999 in … geborene Kläger ist kroatischer Staatsangehöriger und wuchs zusammen mit seinem älteren Bruder bei seinen Eltern in … auf. Beide Elternteile wuchsen in der Bundesrepublik Deutschland auf, jedenfalls der Vater des Klägers wurde selbst bereits in der Bundesrepublik geboren. Seit seiner Entlassung wohnt der Kläger wieder in der elterlichen Wohnung in …
3
Der Kläger erreichte 2014 den Hauptschulabschluss. Sowohl der Vater, als auch der Bruder des Klägers sind bei … beschäftigt. Von 2014 bis 2015 absolvierte der Kläger eine Einstiegsqualifizierung bei … und unternahm parallel den Versuch, den von … für eine Ausbildung vorausgesetzten Qualifizierenden Hauptschulabschluss nachzuholen. Dies gelang ihm nicht, weil er zu einer Sportprüfung nicht erschien. Daher wurde er nicht übernommen. Danach übte er mehrere kurzfristige Tätigkeiten aus. In der Haft begann er eine Ausbildung zum Metzger.
4
Von 2016 bis 23. April 2020 führte der Kläger eine Beziehung mit seiner zwischenzeitlichen Verlobten, einer deutschen Staatsangehörigen. Kurz nach seiner Inhaftierung im Mai 2017 erfuhr der Kläger von der Schwangerschaft seiner Lebensgefährtin. Am 8. Dezember 2017 wurde der gemeinsame Sohn geboren, der ebenfalls die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Seit der Geburt lebt die ehemalige Lebensgefährtin des Klägers mit dem Sohn in einer Mutter-Kind-Einrichtung. Der Kläger hat die Vaterschaft anerkannt. Das alleinige Sorgerecht liegt bei der Mutter.
5
Der Kläger ist in der Bundesrepublik wie folgt strafrechtlich in Erscheinung getreten:
6
Am 23. Dezember 2013 sah die Staatsanwaltschaft München I von der Verfolgung eines Diebstahls geringwertiger Sachen in Mittäterschaft nach § 45 Abs. 3 Jugendgerichtsgesetz (JGG) ab.
7
Am 24. April 2014 sah die Staatsanwaltschaft München I von der Verfolgung eines unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln nach § 45 Abs. 1 JGG ab.
8
Mit Urteil des Amtsgerichts München vom 2. März 2018 wurde der Kläger wegen Beleidigung in drei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit Bedrohung, gemeinschaftlicher versuchter räuberischer Erpressung in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung in drei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit Bedrohung, gemeinschaftlicher versuchter räuberischer Erpressung in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung, Beleidigung in Tateinheit mit Bedrohung in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung, vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Beleidigung in zwei tateinheitlichen Fällen, gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung in drei tateinheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit gefährlicher Körperverletzung in Tatmehrheit mit Hausfriedensbruch sowie wegen Sachbeschädigung in Tatmehrheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe in Höhe von vier Jahren verurteilt.
9
Ab 9. Mai 2017 befand sich der Kläger zunächst in Untersuchungsdann in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt …, ab 23. März 2018 in Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt … In der Untersuchungshaft waren Besuche seiner Lebensgefährtin und seines Sohnes untersagt. Später wurde er von diesen sowie seinen Eltern und seinem Bruder regelmäßig in der Haft besucht.
10
Mit Schreiben vom 29. Oktober 2018 und 8. November 2018 wurden der Kläger und seine damalige Lebensgefährtin zu der beabsichtigten Verlustfeststellung angehört.
11
Mit Bescheid vom 25. März 2019 stellte die Beklagte fest, dass der Kläger sein Recht auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland verloren hat (Nummer 1 des Bescheids) und untersagte dem Kläger Einreise und Aufenthalt für 5 Jahre, wobei die Frist mit der Ausreise beginne (Nr. 2). Zudem forderte sie den Kläger auf, das Bundesgebiet innerhalb eines Monats nach Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht zu verlassen und drohte ihm andernfalls die Abschiebung nach Kroatien an (Nr. 3).
12
Zur Begründung wurde unter anderem ausgeführt, dass die Haft des Klägers die Kontinuität seines Aufenthalts seit bald zwei Jahren unterbrochen habe. Diese Diskontinuität bedinge den Wegfall des nach § 6 Abs. 5 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU) verstärkten Schutzes vor einer Verlustfeststellung. Während seines langjährigen Aufenthalts sei es dem Kläger nicht gelungen, sich derart in die Lebensverhältnisse im Bundesgebiet zu integrieren, dass trotz seiner Inhaftierung und der damit einhergehenden Unterbrechung der Kontinuität des Aufenthalts von einem Fortbestand der in der Bundesrepublik Deutschland geknüpften Integrationsverbindungen auszugehen sei. Denn Integration beruhe nicht nur auf zeitlichen und territorialen, sondern auch auf qualitativen Faktoren. Weil sich der Kläger aber bereits seit über fünf Jahren rechtmäßig in Deutschland aufhalte und somit ein Daueraufenthaltsrecht erworben habe, dürfe nach § 6 Abs. 4 FreizügG/EU die Feststellung nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden. Dies sei hier der Fall. Im Übrigen wird auf den Bescheid Bezug genommen.
13
Mit Schriftsatz vom 17. April 2019 hat der Kläger Klage zum Verwaltungsgericht München erhoben und beantragt,
14
Der Bescheid der Beklagten vom 25. März 2019 wird aufgehoben.
15
Zur Begründung wird vorgetragen, dass die Verlustfeststellung nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit gemäß § 6 Abs. 5 FreizügG/EU erfolgen dürfe. Anders als von der Beklagten angenommen, seien die Integrationsbande durch die Haft nicht abgerissen. Die Haft habe die familiären Kontakte des Klägers nicht unterbrochen. Vielmehr sei der Kontakt zu seiner Verlobten nach der Untersuchungshaft durch die Möglichkeit von Besuchen in der Strafhaft sofort wiederaufgelebt. Hinzugekommen seien sogar weitere Bande durch die Geburt des Sohnes, der den Kläger regelmäßig mit der Mutter besuche. Auch mit den Eltern und dem Bruder bestehe regelmäßiger Kontakt. Der Kläger habe im Bundesgebiet einen Schulabschluss erzielt und in der Haft eine Ausbildung begonnen. Er habe gerade keine langjährige Freiheitsstrafe, die seine Bande zur Außenwelt abgeschnitten hätte, verbüßt. Der Kläger sei seit seiner Geburt in Deutschland verwurzelt. Im Übrigen wird auf die Begründung Bezug genommen.
16
Mit Schriftsatz vom 14. Mai 2019 beantragt die Beklagte:
17
Die Klage wird abgewiesen.
18
Eine Begründung erfolgte nicht.
19
Mit Beschluss des Amtsgerichts Bamberg vom 14. November 2019 wurde der Rest der Jugendstrafe des Klägers zur Bewährung ausgesetzt. Die von der Staatsanwaltschaft befürwortete Entlassung zum Zweidrittelzeitpunkt wählte das Gericht nicht, da dem Kläger mit einer früheren Entlassung die Aufnahme einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme der Agentur für Arbeit ab 25. November 2019, für die sich der Kläger selbst beworben hatte, ermöglicht werden sollte. Am 22. November 2019 wurde der Kläger aus der Haft entlassen und absolvierte die Bildungsmaßnahme.
20
Ab 24. Februar 2020 arbeitete der Kläger über eine Zeitarbeitsfirma im Metallbereich. Zum 1. September 2020 begann er eine dreieinhalbjährige Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker in einem Betrieb in … … …
21
Unter dem 15. September 2020 berichtete der hinzugezogene Erziehungsbeistand des Vereins … … … … e.V., dass sich der Kläger bis zur Trennung von seiner Lebensgefährtin meist bei ihr und dem gemeinsamen Sohn in der von der Mutter-Kind-Einrichtung zur Verfügung gestellten Wohnung in … aufgehalten habe. Seit der Trennung kümmere er sich regelmäßig einmal pro Woche um seinen Sohn, der dann beim Kläger in der elterlichen Wohnung übernachte. Im Juli 2020 sei der Kläger zusammen mit seinen Eltern und seinem Bruder im Urlaub in Kroatien gewesen, davon sei der Sohn des Klägers zwei Wochen dabei gewesen. Auch in den Weihnachtsferien seien der Sohn und die Lebensgefährtin des Klägers mit dem Kläger und dessen Eltern über mehrere Tage in Kroatien bei Verwandten gewesen. Der Kläger habe momentan nur ein Umgangsrecht mit seinem Sohn, wolle das Thema Sorgerecht aber angehen.
22
Am 20. November 2020 wurde das Ausbildungsverhältnis durch den Ausbildungsbetrieb gelöst. In einem Zeugnis vom 22. November 2020 führte der Betrieb aus, dass das Ausbildungsverhältnis aus wirtschaftlichen Gründen in Folge der Corona-Pandemie frühzeitig habe beendet werden müssen. Der Kläger sei stets ehrlich, fleißig und pünktlich gewesen und habe die ihm übertragenen Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit erfüllt.
23
Der Kläger legte einen Verdienstnachweis der … Group vom 17. Februar 2021 vor, ausweislich dessen sein Vater dort seit dem 1. März 2002 beschäftigt ist.
24
In einer Stellungnahme vom 5. März 2021 erklärte die ehemalige Lebensgefährtin des Klägers, dass dieser seine Vaterschaftspflichten mehr als vorbildlich erfülle. Trotz der Tatsache, dass sie und der Kläger seit März letzten Jahres getrennt seien, sei der gemeinsame Sohn im vierzehntägigen Rhythmus über das ganze Wochenende bei seinem Vater. Der Sohn genieße diese Aufenthalte und die väterliche Bezugsperson sei für seine Entwicklung sehr wichtig.
25
In der mündlichen Verhandlung am 11. März 2021 gab der Kläger an, dass er während der Haft von seinen Eltern sowie seiner ehemaligen Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Sohn regelmäßig - aufgrund einer Sonderregelung dreimal pro Monat - besucht worden sei. In den vier Monaten nach der Haftentlassung habe er seine ehemalige Lebensgefährtin und den gemeinsamen Sohn fast täglich in der Mutter-Kind-Einrichtung besuchen können.
26
Zudem legte der Kläger in der mündlichen Verhandlung einen Arbeitsvertrag mit der Firma … GmbH vom 10. März 2021 vor, wonach er ab 15. März 2021 als Leiharbeiter eine Tätigkeit als Helfer/Metall ausüben werde.
27
Mit Beschluss vom 29. Juli 2021 wurde Nummer I der am 11. März 2021 verkündeten Entscheidung von Amts wegen dahingehend berichtigt, dass der aufgehobene Bescheid der Beklagten auf den 25. März 2019 datiert.
28
Hinsichtlich des übrigen Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtssowie die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

29
Die zulässige Klage hat in der Sache Erfolg.
A.
30
Der Bescheid der Beklagten vom 25. März 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen subjektiven Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
31
I. Die Verlustfeststellung in Nummer 1 des angefochtenen Bescheids erweist sich jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung als rechtswidrig (BVerwG, U.v. 3.8.2004 - 1 C 30/02 - juris Rn. 28 f.; BayVGH, U.v. 29.1.2019 - 10 B 18.1094 - juris Rn. 29 m.w.N.).
32
1. Als Rechtsgrundlage für eine Feststellung des Verlusts des Rechts auf Einreise und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland ist im Falle des Klägers § 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU heranzuziehen.
33
Der Kläger hielt sich im Zeitpunkt der Verlustfeststellung seit über zehn Jahren rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland auf (zur Berechnung des 10-Jahres-Zeitraums: EuGH, U.v. 17.4.2018 - C-316/16 u. C-424/17 - juris; BayVGH, U.v. 29.1.2019 - 10 B 18.1094 - juris Rn. 39).
34
a) Voraussetzung für einen zehnjährigen Aufenthalt i.S.v. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU ist aufgrund des gestuften Schutzsystems des § 6 FreizügG/EU zunächst, dass der Betroffene ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU erworben hat und damit bereits die Schutzstufe des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU für sich beanspruchen konnte (Kurzidem in Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, 29. Edition, Stand: 1.1.2021, § 6 FreizügG/EU Rn. 23 m.w.N.).
35
Dies ist vorliegend der Fall. Als kroatischer Staatsangehöriger war der Kläger formal seit dem EU-Beitritt Kroatiens zum 1. Juli 2013 freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger. Jedoch sind nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs mangels anderslautender Regelungen im Beitrittsabkommen auch sog. Voraufenthaltszeiten berücksichtigungsfähig, sofern der Betroffene bereits vor dem jeweiligen EU-Beitritt seines Heimatlandes die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 7 der RL 2004/38/EG vom 29. April 2004 (EU-Freizügigkeits-RL), der in § 2 FreizügG/EU umgesetzt wurde, erfüllt hat.
36
Vorliegend war der Vater des Klägers jedenfalls seit 2002 in Deutschland als Arbeitnehmer beschäftigt und erfüllte damit die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Der Kläger erfüllte damit - mangels entgegenstehender Anhaltspunkte - jedenfalls seit 2002 die Voraussetzungen gem. § 2 Abs. 2 Nr. 6, §§ 3 und 4 FreizügG/EU. Nach fünf Jahren erwarb der Kläger damit spätestens im Jahr 2007 nach § 4a Abs. 1 Nr. 1 FreizügG/EU ein Daueraufenthaltsrecht.
37
b) Auch für die Berechnung des zehnjährigen Aufenthalts i.S.v. § 6 Abs. 5 FreizügG/EU sind die Voraufenthaltszeiten des Klägers vor dem EU-Beitritt Kroatiens zu berücksichtigen. Die Begründung des Europäischen Gerichtshofs lässt sich auch auf die Berechnung dieses Zeitraums übertragen. Auch insoweit enthält das Beitrittsabkommen keine speziellen Regelungen (so auch VG Freiburg (Breisgau), B.v. 26.10.2020 - 10 K 2573/20 - juris Rn. 30; vgl. Dienelt in Bergmann/ders., Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 6 FreizügG/EU Rn. 64).
38
c) Der Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland war in den letzten zehn Jahren vor der Verlustfeststellung auch rechtmäßig. Als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmals wird auch für § 6 Abs. 5 FreizügG/EU gefordert, dass der Aufenthalt rechtmäßig gewesen sein muss. Der Betroffene muss also in den zehn Jahren vor der Verlustfeststellung die Tatbestandsvoraussetzungen des Freizügigkeitsrechts nach § 2 FreizügG/EU erfüllt haben (Dienelt, a.a.O., Rn. 63). Wie bereits ausgeführt, hat der Kläger aufgrund seines Aufenthalts zwischen 2002 und 2007 ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a FreizügG/EU erworben. Von da an war er nach § 2 Abs. 2 Nr. 7 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Zudem war der Kläger in den zehn Jahren vor der Verlustfeststellung jeweils entweder nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU selbst als Arbeitnehmer, überwiegend jedoch nach § 2 Abs. 2 Nr. 6, §§ 3 und 4 FreizügG/EU von seinen erwerbstätigen Eltern abgeleitet freizügigkeitsberechtigt.
39
d) Entgegen der Ansicht der Beklagten, wurde nach Auffassung der Kammer die Kontinuität des Aufenthalts durch die Haft nicht unterbrochen.
40
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union können Zeiträume der Verbüßung einer Haftstrafe grundsätzlich die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne von Art. 28 Abs. 3 Buchst. a) EU-Freizügigkeits-RL unterbrechen (EuGH, U.v. 16.1.2014 - C-400/12 - juris Rn. 33 und 36; BayVGH, U.v. 29.1.2019 - 10 B 18.1094 - juris Rn. 40). Allerdings ist zum „Zwecke der Feststellung, ob sie damit zu einem Abreißen des zuvor geknüpften Bandes der Integration zum Aufnahmemitgliedstaat dergestalt geführt haben, dass der Betroffene nicht mehr in den Genuss des durch diese Bestimmung verbürgten verstärkten Schutzes kommen kann, aber gleichwohl eine umfassende Beurteilung der Situation des Betroffenen zu dem genauen Zeitpunkt vorzunehmen, zu dem sich die Frage der Ausweisung stellt. Im Rahmen dieser umfassenden Beurteilung sind die Zeiträume der Verbüßung einer Haftstrafe zusammen mit allen anderen Anhaltspunkten zu berücksichtigen, die die Gesamtheit der im Einzelfall relevanten Gesichtspunkte ausmachen; zu diesen Gesichtspunkten gehören insbesondere die Stärke der vor der Inhaftierung des Betroffenen zum Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsbande, die Art der die verhängte Haft begründenden Straftat und die Umstände ihrer Begehung sowie das Verhalten des Betroffenen während des Vollzugs (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 - C-316/16 und C-424/17 - juris Rn. 70, 83). Dabei geht der Gerichtshof der Europäischen Union davon aus, „dass, je fester diese Integrationsbande zu dem besagten Staat insbesondere in gesellschaftlicher, kultureller und familiärer Hinsicht sind - in einem Maße beispielsweise, dass sie zu einer echten Verwurzelung in der Gesellschaft dieses Staates geführt haben, (…) - umso geringer die Wahrscheinlichkeit sein wird, dass eine Verbüßung einer Freiheitsstrafe zu einem Abreißen der Integrationsbande und damit zu einer Diskontinuität des Aufenthalts von zehn Jahren im Sinne des Art. 28 Abs. 3 Buchst. a) EU-Freizügigkeits-RL geführt haben kann“ (EuGH, a.a.O. Rn. 72; BayVGH, U.v. 29.1.2019, a.a.O.).
41
Gemessen an diesen Vorgaben ist ein Abreißen der Integrationsbande des Klägers durch seine Haft im Zeitpunkt der Verlustfeststellung nicht zu erkennen.
42
Im Hinblick auf die Beurteilung der Stärke der vor der Haft geknüpften Integrationsbande ist zunächst zu beachten, dass der Kläger ein sog. faktischer Inländer ist. Er wurde in der Bundesrepublik Deutschland geboren und wuchs hier auf. In einem anderen Land hat er nie gelebt und wurde damit in erster Linie durch die Verhältnisse in der Bundesrepublik geprägt, wobei auch hier zu berücksichtigen ist, dass bereits beide Elternteile in der Bundesrepublik geboren bzw. aufgewachsen sind und selbst über starke Bindungen hier verfügen.
43
Gleichwohl zeigen die Zahl und die Intensität der mit Urteil vom 2. März 2018 abgeurteilten Straftaten, dass eine Integration des Klägers in die Werteordnung der Bundesrepublik jedenfalls vor der Verurteilung kaum vorhanden war. Die Verhaltensregeln der deutschen Strafgesetze sah der Kläger für sich bis dahin als wenig bindend an. So verübte er insbesondere gegen ihm unbekannte Personen massive Gewalt und begründete durch die wiederholte Anwendung von Gewalt gegen den Kopfbereich der Geschädigten eine hohe Gefahr für dauerhafte kognitive Schäden, was sich aus Sicht der Kammer als besonders verwerflich darstellt und einem Grundinteresse der Gesellschaft widerspricht.
44
In wirtschaftlicher Hinsicht ist es dem Kläger zwar in der Vergangenheit nicht gelungen, eine Berufsausbildung abzuschließen oder eine dauerhafte Tätigkeit auszuüben, mit der er sich und den Unterhalt für seinen Sohn finanzieren könnte. Dennoch ist zu seinen Gunsten zu berücksichtigten, dass er den (einfachen) Hauptschulabschluss erreicht hat und auch vor seiner Haft wiederholt kurzzeitig in verschiedenen Betrieben tätig war. Da die Rechtmäßigkeit der Verlustfeststellung zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung zu beurteilen ist, ist auch die Entwicklung des Klägers nach Ergehen der Verlustfeststellung für die Beantwortung der Frage miteinzubeziehen, ob die Integrationsbande im Zeitpunkt der Verlustfeststellung abgerissen waren. Seit seiner Entlassung hat der Kläger eine positive Entwicklung durchlaufen. So hat er zunächst auf eigene Initiative hin eine Bildungsmaßnahme der Bundesagentur für Arbeit durchlaufen, war anschließend über eine Zeitarbeitsfirma im Metallbereich tätig und hat eine Ausbildung zum KFZ-Mechatroniker begonnen. Dass das Ausbildungsverhältnis frühzeitig beendet wurde, ist, soweit ersichtlich, nicht auf ein Verschulden des Klägers zurückzuführen, sondern auf wirtschaftliche Probleme des Ausbildungsbetriebs. Zudem konnte der Kläger in der mündlichen Verhandlung einen Zeitarbeitsvertrag vorlegen, über den er ab 15. März 2021 erneut in einem Unternehmen im Metallbereich eingesetzt wird. Mit der dort zu erwartenden Vergütung wird er vorerst in der Lage sein, sowohl seinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, als auch Unterhalt für seinen Sohn zu leisten. Diese positive Entwicklung, die unmittelbar nach Haftentlassung begonnen hat, spricht dafür, dass sich der Kläger auch während des Freiheitsentzugs nicht vollständig von den wirtschaftlichen Verhältnissen in der Bundesrepublik entfernt hat.
45
Besonders ins Gewicht fällt im Rahmen der Gesamtbetrachtung die starke familiäre Verbundenheit des Klägers zu hier lebenden Personen. Der Kläger wuchs in der Bundesrepublik Deutschland zusammen mit seinem Bruder bei seinen Eltern auf. Diese Personen halten sich nach wie vor hier auf. Der Kontakt zu seiner Familie wurde auch während des Freiheitsentzugs durch regelmäßige Besuche aufrechterhalten. Dies zeigt auch der Umstand, dass der Kläger nach seiner Entlassung wieder in der elterlichen Wohnung eingezogen ist und dort immer noch lebt. Zum Zeitpunkt der Verlustfeststellung war der Kläger 19 Jahre alt und befand sich damit in einem Alter, in dem für gewöhnlich noch ein starker Bezug zum Elternhaus besteht.
46
Besonders zu berücksichtigten ist im Falle des Klägers, dass sich seine familiäre Verbundenheit zur Bundesrepublik während des Freiheitsentzugs durch die Geburt seines Sohnes, der zudem die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, sogar verstärkt hat. Von der Schwangerschaft hatte der Kläger nach eigenen Angaben kurz nach Beginn der Untersuchungshaft erfahren. Noch während der Untersuchungshaft wurde der Sohn im Dezember 2017 geboren. Während der Vollstreckung der Jugendstrafe ab März 2018 wurde der Kläger von der Mutter seines Sohnes, mit der er zu diesem Zeitpunkt noch eine Beziehung führte, und seinem Sohn regelmäßig besucht. Wie der Kläger glaubhaft ausführte, wird seit seiner Haftentlassung eine Vater-Kind-Beziehung auch tatsächlich gelebt. So fand zwischen der Entlassung des Klägers und der Trennung von der Kindsmutter ein täglicher Kontakt statt. Seit der Trennung verbringt sein Sohn jedes zweite Wochenende bei dem Kläger und war mit dem Kläger und dessen Eltern im letzten Jahr für zwei Wochen im Urlaub in Kroatien. Dass es dem Kläger gelungen ist, eine Beziehung zu seinem Sohn aufzubauen, geht auch aus der vorgelegten Stellungnahme der Kindsmutter hervor, sowie aus dem Umstand, dass es möglich war, den damals noch zweijährigen Jungen ohne seine Mutter mit in den Urlaub zu nehmen und dies nach Ansicht der Beteiligten sogar so gut verlaufen ist, dass der Urlaub nach der zuerst geplanten Woche um eine weitere Woche verlängert wurde. Das Verhalten des Klägers zeigt, dass er seine Vaterrolle ernst nimmt und diese auch tatsächlich ausüben möchte. Das Gericht geht daher davon aus, dass der Kläger tatsächlich eine wichtige Bezugsperson für seinen Sohn darstellt. Auch im Hinblick auf die familiäre Verbundenheit des Klägers zur Bundesrepublik lässt sich zusammengefasst also feststellen, dass die Bande, die vor der Haft vorhanden waren, durch die Haft nicht abgerissen sind, sondern fortbestanden.
47
Gegen ein Abreißen der Integrationsbande während der Haft spricht in sozialer Hinsicht zudem, dass die Beziehung des Klägers zur deutschen Kindsmutter während der Haft nicht beendet, sondern durch Besuche aufrechterhalten und nach Entlassung des Klägers durch täglichen Kontakt verstärkt wurde. Dass die Beziehung einige Monate nach Haftentlassung beendet wurde, fällt dabei nicht entscheidend ins Gewicht.
48
Die vorzunehmende Gesamtbetrachtung führt daher zu dem Ergebnis, dass der Kläger bereits vor dem Freiheitsentzug in die Gesellschaft der Bundesrepublik verwurzelt war und auch die Haft nicht dazu geführt hat, dass diese Verbindung abgerissen wäre. Eine Diskontinuität des Aufenthalts, die nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dazu führen würde, dass sich der Kläger nicht mehr auf den Schutz des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU berufen könnte, liegt daher aus Sicht der erkennenden Kammer nicht vor. Die Verlustfeststellung hätte daher nur unter den strengen Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 FreiügG/EU erfolgen können.
49
2. Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 5 FreizügG/EU liegen unstreitig nicht vor.
50
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden.
51
Nach § 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU darf die Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU bei Unionsbürgern, die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden. Zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit können nach § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU nur dann vorliegen, wenn der Betroffene wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens fünf Jahren verurteilt oder bei der letzten Verurteilung Sicherungsverwahrung angeordnet wurde, wenn die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland betroffen ist oder wenn von dem Betroffenen eine terroristische Gefahr ausgeht.
52
Vorliegend wurde der Kläger mit Urteil des Amtsgerichts München vom 2. März 2018 lediglich zu einer Jugendstrafe von vier Jahren verurteilt. Die verhängte Strafe liegt damit klar unter der Grenze von fünf Jahren, ab der eine Verlustfeststellung überhaupt erst möglich ist. Eine der sonstigen Varianten des § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU ist nicht gegeben.
53
Damit erweist sich die getroffene Verlustfeststellung jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts als rechtswidrig und ist aufzuheben.
54
II. Keinen Bestand können damit auch die Folgeentscheidungen in den Nummern 2 bis 3 des angefochtenen Bescheids haben.
B.
55
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.